Dzerschinski, Felix (1877-1926) polnisch-russischer Berufsrevolutionär

Im Archiv des Taganka-Gefängnisses zu Moskau fand ich ein Paket Briefe. Mit der Jahreszahl 1916 versehen, von zarter Frauenhand geschrieben, sprachen sie von einer Sehnsucht, die das Herz erweichte und das Auge umflorte. Es war die Sehnsucht der Frau, der der Mann geraubt, hinter eiserne Gitterstäbe gesteckt wurde, die Sehnsucht des Kindes, das den Vater noch nicht gesehen hat und seinen Namen mit banger Liebe nennen lernt. Alles, was menschliehe Opferwilligkeit, liebende Sorge, stille Wehmut in der Sprache findet, ward in diesen Briefen laut.

Man nahm sie in die Hand — sie wogen schwer — belastet mit Blut und Tränen. Auch das Bild des Empfängers stieg aus ihnen empor. Man konnte sich leicht dies Schicksal vorstellen, das alle Bande der Zärtlichkeit zerreißt, um für das Glück der andern zu wirken; man ahnte diese Leidenschaft, die im Zuchthaus nicht gebändigt wird, und die alles gewaltsam zurückdrängt, was im persönlichen Leben Glück und Freude bedeutet.


Auf dem Briefumschlag las ich die Aufschrift: Herrn Felix Dzerschinski. Der Name war schon bekannt.

Andere waren Hohepriester der Revolution, ihre Lehrmeister oder ihre Diplomaten. Er war ihr Henkersknecht. Andere verrichteten öffentlich ihr Tagewerk. Er waltete nachts, und das Knattern der Motoren musste seine Arbeit übertönen. Andere sahen um sich Begeisterung, Anbetung, Schmeichelei. An ihm ging eine endlose Reihe Opfer vorbei — keine Menschen mehr, nur noch verzweifelte, schreiende, weinende Kreaturen. Wohin er auch hinblickte, überall dasselbe Schauspiel. Er hatte den Tod in seiner Hand und — was tötender ist — die Tortur. Er nahm den Müttern ihre Kinder, den Frauen ihre Gatten, marterte und peinigte sie mit allen Qualen, die menschliche Bestialität ersinnen kann, und übergab sie schließlich einem Trupp betrunkener Chinesen, die das Opfer mordeten und seine Sachen davontrugen, um sie zu verkaufen oder zu versaufen.

Er konnte sich auf kein Gesetz berufen, denn seine Zeit hat alle Gesetze gestürzt. Es war keine althergebrachte Ordnung da, in deren Dienst er sich hätte sicher fühlen können, denn er ist aus dem Chaos entstanden. Er war sich selbst Gesetz und Ordnung. Die Revolution hat ihn aus dem Gefängnis befreit, hat ihm Weib und Kind zurückgegeben. Er hat in sich die Kraft gefunden, um die Gefängnisse von neuem zu bevölkern, um Weiber und Kinder verwaisen zu lassen.

Zur Zeit, als die Revolution noch nicht verhandlungsfähig war, als noch keine Diplomaten ihr den Rang abliefen, als noch niemand wusste, was der morgende Tag bringt, war er der einzige tatsächliche Machthaber Russlands. Denn er hatte Macht über das Blut, das die andern durchwaten mussten, um aufs Trockene zu kommen. Andere hatten Anwandlungen von Schwäche, heuchelten Humanismus, markierten Begeisterung. Er stand wie ein ehrlicher Schlächter im Dunkel seiner Kasematten und machte alles nieder, was nicht parieren wollte, ja, was nur den Verdacht erweckte, dass es nicht parieren wollte. Anderen graute vor seiner Tat, und manche Hand, die die seine berührt hat, griff heimlich zum Taschentuch, um sich reinzuwischen. Er allein blieb unerschütterlich. Sein Gewissen war rein. Er hatte vielleicht einen einzigen überzeugten Anhänger: sich selbst.

Dzerschinski hat selbst den Weg gewählt, den er ging. Man wusste nichts von ihm, und er hat sich durch gar nichts bemerkbar gemacht, bis man ihn im Oktober 1917 zum Kommandanten des Smolnji ernannte. Ein bescheidenes, fast unscheinbares Amt. Aber eines Morgens wurde plötzlich jeder Besucher des Smolnji angehalten, auf die Kommandantur geführt, dort einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen, mitunter sogar einer Leibes-Visitation. Einige bekamen neue Passierscheine, anderen wurde der Zutritt zum Smolnji untersagt, viele in Gewahrsam genommen und in die Verließe des Smolnji geschickt, überall wurden Wachen aufgestellt, man konnte sich nicht mehr im Smolnji bewegen, ohne das beklemmende Gefühl zu haben, dass man von einem Netz von Spionen umgeben sei. In der Kommandantur waltete ein schlanker, blonder Mann mit hellen, offenen Augen und gewinnendem Lächeln. Er machte einen überaus sympathischen Eindruck. Man musste sich seinen Namen merken.

Dann kamen Nachrichten von entdeckten Verschwörungen, vereitelten Attentaten, von allerhand gegenrevolutionärem Donner und Doria. Dzerschinski brachte sie, durch die Hand Dzerschinskis gingen sie, Dzerschinskis Umsicht vereitelte sie. Jeder Tag brachte neue Kunde von unterirdischen Gefahren. Aber der Kommandant des Smolnji wachte. Er hatte sich unter der Hand eine Schar erlesener Untergebener ausgebildet und durchsuchte auf eigene Faust Petersburg wie seine Westentasche. Jeden Morgen kehrte er mit neuer Beute von seinen Streifzügen zurück. Er brauchte nicht sich besonders auszuweisen: der Anblick bewaffneter Rot-Gardisten und eine vorgehaltene Mauserpistole genügten. Immerhin ließ er ein Petschaft herstellen, auf dem man lesen konnte: „Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konter Revolution". Russische Abkürzung: „Tsche-Ka". Damals machte er noch kurzen Prozess. Alles ringsum war unsicher, zum Verhören hatte man keine Zeit. Verdächtig? An die Wand! — Dzerschinski nahm viel auf sich, aber er wollte das vor seinem Gewissen verantworten.

März 1917 siedelte die Regierung nach Moskau über. Mit ihr Dzerschinski. Doch nicht mehr mit dem harmlosen Titel des Kommandanten, sondern als anerkannter Polizeichef. Er sollte den neuen Regierungssitz sicher stellen, die Stadt von verdächtigen Elementen säubern, für die persönliche Sicherheit der Regierenden haften. Seine Kommission wurde unmittelbar dem Rat der Volkskommissare angegliedert und unterstellt. Sie hieß nunmehr die Allrussische Außerordentliche: We-Tsche-Ka. Nach den Petersburger Erfolgen hatte man zu Dzerschinski volles Vertrauen. Und er machte sich mit erneutem Eifer an die Arbeit.

Lubjanka 18 wurde das Haus der Versicherungsgesellschaft „Rossija" requiriert. Ein geräumiges Haus mit vielen Seitengängen, Verließen, Dachkammern. Man konnte sich bequem machen. Aber die Arbeit mehrte sich. Bald kam ein anderes Haus hinzu, schräg gegenüber: Lubjanka 21. Auch das reichte bald nicht mehr aus. Die We-Tsche-Ka breitete sich aus, als ob sie ganz Moskau umfassen wollte. Alle Nachbarhäuser wurden belegt. Neue Arrestlokale in den Vorstädten eingerichtet, ganze Gefängnisse speziell für die Bedürfnisse der We-Tsche-Ka bereitgehalten.

Russland schrumpfte immer mehr zusammen, ein Teil nach dem andern fiel ab, alle Verbindungen waren abgeschnitten, nur noch ein Rumpfimperium verblieb in Lenins Botmäßigkeit. Das Reich Dzerschinskis wurde dafür mit jedem Tag größer.

Wer waren die Werkzeuge seines Willens? Entlassene Sträflinge, begnadete Banditen, ehemalige Geheimpolizisten, heruntergekommene Dirnen, frühere Gerichtsbeamte, — alle zog er zu sich heran, alle schmolz er in Blutgemeinschaft zusammen. Er wusste, dass sein Werk schmutzig sei, wenn es auch gleich für eine heilige Sache geschähe, — und die Hände, die er brauchte, konnten nicht schmutzig genug sein.

Er hat unter seinen Untergebenen furchtbare Musterung gehalten. Er wusste, wer sie waren und wessen sie fähig sind. Trieb es einer zu bunt, wurde er ohne viel Aufhebens beseitigt. Nützte sich einer ab, machte man ihm ebenso geräuschlos den Garaus. Lehnte sich einer auf, musste er ebenfalls daran glauben. Sie durften stehlen, morden, notzüchtigen, — nur die Revolution, d. h. der Dienst sollte darunter nicht leiden. Dzerschinski selbst überwachte alles, wusste in allem Bescheid, kannte sich in jedem seiner Mitarbeiter gründlich aus.

Welche Mittel wandte er an, um ans Ziel zu kommen? List, Bestechung, Provokation, Gewalt, Erpressung, Überredung, Einschüchterung, Betrug: alles schien erlaubt und geboten, vor nichts scheute er zurück. Grauenvolles begab sich um ihn, er blickte mit derselben ehrlichen Offenheit in die Welt und behielt dasselbe gewinnende Lächeln. Tat er denn dasjenige, was er tat, um seines persönlichen Vorteils willen? Lebte er denn nicht mit puritanischer Bescheidenheit? Gönnte er sich denn Ruhe? Die anderen wollen regieren, wollen ihr Reich der zukünftigen Glückseligkeit auf bauen? Gut, muss aber nicht jemand da sein, der sie schützt? Ist denn der Einsatz ihrer Ziele nicht hoch genug, damit sich jemand finde, der ihnen den Weg ebnet?

Auf seinem Wege gab es kein Zurück mehr. Die Diktatur, der er diente, konnte sich nicht anders als durch Gewalt und Schrecken behaupten. So musste er Gewalt ausüben und Schrecken verbreiten. Er brachte es soweit, dass sein Name nur flüsternd genannt wurde. Alles, was wir in der Geschichte von einem Torquämada oder Herzog Alba mit einigem Skeptizismus gelernt haben, wurde in ihm lebendig als greifbare Wirklichkeit. In seinen Gefängnissen herrschten Hunger, Typhus, Notzucht. Die Verhöre seiner Untersuchungsrichter dauerten monatelang, von einer Nacht zur andern wie endlose Reihe qualvoller Alpdrücke. Er Unterzeichnete Todesurteile, ohne hinzusehen, wie der Arzt, der eine geläufige, harmlose Rezeptformel aufs Papier bringt.

Aus seinem Kabinett führte ein dunkler, seltsam gewundener Gang irgendwohin in die Tiefe. Gar mancher wurde durch diesen Gang geführt. An einer Windung wartete das Schicksal. Ein Lette, Finne oder Chinese stand da, — unsichtbar, — mit dem Browning in der Hand. Wer vorbei ging, spürte plötzlich etwas Kaltes an der Schläfe. Im Aufleuchten des Schusses ward ihm noch mitunter die letzte Vision der grinsenden, asiatischen Visage, die ihn ins Jenseits beförderte. Dann war alles aus.

Es heißt, dass Dzerschinski noch das Krachen des Schusses hörte, als er den diensttuenden Beamten den Befehl gab: „Lassen Sie den Nächsten herein".

Was in dem Menschen Dzerschinski auffällt, ist Freiheit von jeglicher Pathetik. Es fällt ihm nicht ein, sich irgendwie in Pose zu werfen. Er beruft sich auf keine Reminiszenz aus der französischen Revolution von 1789, führt nicht das große Wort und hat nicht die mindeste Lust, als Robespierre oder Marat aufzutreten. Er übt seine Funktion mit dem schlichten Berufseifer eines Beamten aus. Niemand, den die Partei in die We-Tsche-Ka sandte, auf dass Dzerschinski auch ein paar anständige Menschen neben sich habe, konnte der Versuchung widerstehen, sich einen Anstrich dämonischen Übermenschentums zu geben. Man musste sich die schurkische Betätigung mundgerecht machen, um nicht aus dem seelischen Gleichgewicht zu kommen. Dzerschinski brauchte das nicht. Er war der nüchternste Polizeichef, den eine Revolution je hervorgebracht. Im Vergleich zu ihm erscheint uns heute Joseph Fouche als Phantast und unausstehlicher Schwätzer.

Leute, die er stundenlang verhört hatte, erzählen, dass er einen peinigenden Eindruck auf sie gemacht habe, — eben dadurch, dass er sich überhaupt keine Mühe gab, sie irgendwie zu überzeugen und zu rühren. Er gab sich wie ein einfacher Geschäftsführer des Klassenkampfes, versuchte entweder zu kaufen oder zu erschrecken. „Gewiss, — sagte er einem angesehenen Mitglied der Partei der sozialen Revolutionäre, der nach dem Aufstand in Jaroslawl in seine Hände gefallen war, — „gewiss, ich gebe es zu, Sie handeln aus den reinsten Motiven und sind überzeugter Sozialist. Aber Sie sind unser Feind. Ich will es gar nicht versuchen, Sie durch Geld oder Versprechungen zu ködern. Sie sind sehr klug und wissen selbst, was es damit für eine Bewandtnis hat. Laufen lassen kann ich Sie ebenso wenig. Gefängnis? Bei Ihrer Geschicklichkeit brechen Sie mir ja übermorgen aus. Schade, dass Sie nicht der Unsre sind. Leben Sie wohl!" Zum Schluss ein Händedruck und gewinnendes Lächeln. Dem es gesagt wurde, der wusste, dass er nur bis Mitternacht wohl leben würde.

Dzerschinski hat eine Zeit lang die ganze dürftige Gerichtsbarkeit Sowjet-Russlands in seinen Händen vereinigt. Er war Untersuchungsrichter, Ankläger, oberstes Appellationsgericht und Henker in einem. Wohl gab es ein Justizkommissariat mit einem Justizkommissar, der auf den Namen Kurski hörte. Aber was bedeutete sein schattenhaftes Dasein neben der Machtvollkommenheit Dzerschinskis! Der Mann, der ein weit verzweigtes Spitzelsystem organisierte, großartige Provokateure im Solde hatte, allein alle geheimen Gegner des Bolschewismus in Schach zu halten schien, war unantastbar. Er konnte tun und lassen nach Belieben.

Nun, es bleibe ihm unbenommen: er hat seine Macht zu persönlichen Zwecken nicht missbraucht. Was immer er auch tat, tat er um der Sache willen. Er hatte keine Liebhaberei, war privaten Einflüssen vollständig unzugänglich: der mustergültigste Beamte, den Russland jemals hatte. Und als solcher regierte er nahezu vier Jahre lang in Russland. Er war die Kehrseite der Medaille.

Dann kam das Unfassbare: Dzerschinski zog sich zurück. Der rote Terror hatte seine Schuldigkeit getan. Nun wollte der Bolschewismus gesetzmäßig herrschen. Die We-Tsche-Ka erhielt einen andern Namen, — „Politische Hauptleitung", — G.-P.-U. und versuchte, sich in rechtschaffenen Polizeidienst nach bewährten Mustern zu verwandeln. Dzerschinski musste gehen. Der Klang seines Namens bekam ein zu gefährliches Echo in Europa. Es verhandelte sich schlecht am Diplomatentisch, während er unsichtbar dasaß, wie Bancos Geist am Tafelgelage Macbeths. Man gab ihm das Transportwesen, und er sattelte um.

Er ging mit einer Gutmütigkeit, als ob nichts geschehen wäre. Es ruht sich wohl nach getaner Arbeit! Nun bringt er russische Eisenbahnen in Ordnung, verbessert ihren Dienst, ist besorgt um Navigationsverhältnisse, bekämpft Bestechungen in seinem Ressort und macht wenig von sich reden. Nur in der G.-P.-U. wird mit Ehrfurcht vom alten Chef gesprochen und mit Sehnsucht der Zeiten gedacht, da es sich hinter seinem Rücken so gut leben ließ.

Unfassbar ist die Tragfähigkeit einer Seele, die solches erlebte und fortbestehen kann, ohne aus den Fugen zu kommen. Wir lebten in einer unwahrscheinlichen Welt, die wir, — literaturbeschwert wie wir sind, — uns zurecht gemacht hatten. Wir meinten, dass dem Mörder die Gestalt des Ermordeten in schlaflosen Nächten erscheine, wie dem Richter die Gestalt des Hingerichteten. Wir stellten uns vor, dass eine blutbefleckte Hand alle Wohlgerüche Arabiens suchen müsse, um sich zu reinigen. Wir dachten, dass das Gewerbe des Tötens und Peinigens selbst eine heroische Natur zu Grunde richten müsse, wenn sich der Rausch, in dem sie lebte, verflüchtigt. Hier aber, in unsrem Zeitalter, in derselben Luft, die uns umgibt, lebt einer, der alles hinter sich hat, was das Leben entsetzlich macht und die Vorstellungskraft erschöpft. Und weiß nichts von unseren armseligen Gewissensbissen und verrichtet seine neuen Obliegenheiten mit demselben Gleichmut, mit dem er früher seine Mitbrüder auf dem Altar der Nächstenliebe hinschlachtete.

Nichts ist zufällig in der Geschichte. Alles hat tiefen Sinn und geheimnisvolle Bedeutung. Was immer man über Dzerschinski auch denken, wie unvorstellbar er mitunter erscheinen, — und wie leicht es auch sein mag, ihn sich vorzustellen: über eines kommt man nicht hinweg, eines erfüllt mit immer größerem Schauer, je mehr man darüber nachdenkt.

Er heißt Felix. Diesen Namen gab ihm eine Mutter mit ins Leben, damit er sich selbst und anderen Glück bringe.