Die kleinen Götter

Aus dem Menschenmaterial, das den großen Schlachtenlenkern der Revolution zur Verfügung stand, heben sich drei Gestalten ab: Tschitscherin, Sinowjew und Kamenew. Nicht, als ob sie die Einzigen wären. Viele sind inzwischen dahingegangen, die ein besseres Los verdienten. So der jugendliche Roschal, dessen Begeisterung lichterloh brannte, bis ihn eine meuchelmörderische Kugel an der rumänischen Front traf. So der gütige Tschudnowski, der im Kampfe mit den Weißen fiel und dessen theoretische Begabungen vieles versprachen. Andere wieder leben noch, sind aber von ihresgleichen nicht zu unterscheiden. Als einziger würde vielleicht noch Dybenko besonderer Erwähnung würdig sein, der als Führer der Matrosen beim Oktober-Aufstand eine hervorragende Rolle spielte. Sein Lebens lauf ist überaus lehrreich.

Er war Heizer auf einem Kriegsschiff der baltischen Flotte, dann Maschinist, dann Bootsmann. Nach der Februarrevolution ist er zum Vorsitzenden des Matrosenrates der baltischen Flotte gewählt worden. Am 3. Juli ließ ihn Kerenski festnehmen und zusammen mit einigen anderen Matrosen, deren Namen inzwischen vergessen wurden, mit Roschal, Roskolnikow, Trotzki, Lunatscharski sechs Wochen lang im Gefängnis sitzen. Am Morgen des 27. Oktober konnte man seinen Namen auf der Liste der Volkskommissare lesen: ihm waren die maritimen Angelegenheiten unterstellt, während Trotzki und Antonow das Landheer übernahmen. Im Februar 1918 heiratete er Frau Alexandra Kollontai, bedeutende sozialistische Schriftstellerin, Mitglied des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei, Volkskommissarin für soziale Fürsorge und Mutterschutz, Tochter eines Generaladjutanten des Zaren und Witwe eines reichen Großgrundbesitzers und Industriellen. Im März 1918 wurde er verhaftet. Die Anklage lautete auf Trunksucht, Verschwendung des Volksvermögens, Überschreitung der Machtbefugnisse, anarchistische Umtriebe. Im April 1918 erschien er vor dem Moskauer Revolutionstribunal. Die Verhandlung dauerte drei Tage. Er wurde freigesprochen. Matrosen, die den Gerichtssaal füllten, trugen ihn auf Händen hinaus. Er ging an die Front, schlug sich tapfer gegen Wrangel und Koltschak und wurde schließlich zum Admiral der Flotte vom Schwarzen Meer ernannt.


Jedoch ist Dybenko gewissermaßen ein Kapitel für sich, welches in einen anderen Zusammenhang gehört. Für das Verständnis jener Oberschicht, die während der Revolution zur Herrschaft gelangte, sind Tschitscherin, Sinowjew und Kamenew viel bedeutsamer. Sie sind bezeichnend für das Gros der Parteifunktionäre und Staatsbeamten, welche die Oktober-Revolution hervorbrachte.

Tschitscherin ist in Parteikreisen seit 1904 bekannt. Er war dazumal Beamter an der russischen Botschaft in Berlin, musste aber den Dienst quittieren, weil er politisch verdächtig wurde. Er blieb im Auslande. Aus einer angesehenen Familie stammend, vermögend, konnte er weiterhin seiner Überzeugung leben. Zu speziell russischen Parteikreisen hat er niemals besonders starke Neigung empfunden. In seinem Wesen war eine gewisse aristokratische Vornehmheit, die im bohemehaften Sans-Gênismus der russischen Emigration ein wenig zurückhaltend wirkte. Umso lieber schloss er sich dem westeuropäischen Sozialismus an.

Erst während des Weltkriegs beginnt Tschitscherin eine bedeutendere Rolle in der russischen Bewegung zu spielen. Unter dem Namen Omatski wirkt er sehr energisch auf die russischen Emigranten in Paris ein und arbeitet an der Zeitung mit, die, ebenfalls in Paris, von Martow, Trotzki, Antonow und anderen herausgegeben wird. 1915 wird er aus Paris ausgewiesen und geht nach London, wo er sehr bald engere Beziehungen zu der Independent Labour Party anknüpft. Das Englische beherrschte er vollkommen, konnte sich sehr bald im öffentlichen Leben der Partei bemerkbar machen und erwarb Verbindungen unter den einflussreichsten Politikern des englischen Sozialismus.

Beim Ausbruch der Revolution wurde Tschitscherin sofort zur repräsentativsten Persönlichkeit der russischen Emigration. Als Vorsitzender des Repatriationskomitees leitete er mit großer Umsicht die Rückwanderung unzähliger Scharen russischer Flüchtlinge nach Russland, verstand es, sich neben den offiziellen Botschafterkreisen als selbständige Behörde zu behaupten und konnte selbst dem damaligen Außenminister Miljukow gegenüber manches durchsetzen, was ein anderer nicht so leicht erreicht hätte.

Offiziell war Tschitscherin Mitglied der Trotzkischen Fraktion, neigte aber mehr, ebenso wie Trotzki selbst, zum Bolschewismus hin. Bis zum Ausbruch der Oktober-Revolution blieb er in London, wo ihn schließlich die Regierung Lloyd Georges verhaften ließ, weil ihr seine Beziehungen zu Lenin einen immer größeren Schrecken einzujagen begannen. Nachdem Trotzki nach einer kurzen Gastrolle als Außenminister und Diplomat zum Kriegskommissariat überging, entschloss man sich, den verantwortungsvollen Posten Tschitscherin anzubieten. Er saß noch in London unter Schloss und Riegel, als man ihn zum Außenminister der Oktober-Revolution ernannte, und es bedurfte langwieriger Verhandlungen mit Lloyd George, bis ihm endlich die Möglichkeit gewährt wurde, nach Russland zu reisen und sein neues Amt zu übernehmen.

Es war eine glücklich getroffene Wahl. Tschitscherin ist sicherlich die gewissenhafteste Persönlichkeit, die sich jemals mit den auswärtigen Angelegenheiten eines Landes befasst hat Er ist vor allem unermüdlicher Arbeiter. Nichts hat sich an ihm geändert, seitdem er Minister geworden ist. Dieselbe vornehme Ruhe, die er in London zur Schau trug, dieselbe schlichte Kleidung, dasselbe solide Aussehen eines respektablen business-man. Er ist der Einzige, der in seinem Kommissariat einen anständigen Eindruck macht. Neben der Eleganz eines Barbiergesellen, die sich Karachan zulegte, neben der fetten Verwahrlosung Litwinows wirkt seine Gediegenheit geradezu wohltuend. Auch sein Arbeitseifer ist derselbe geblieben. In London pflegte er seine sämtlichen Geschäftspapiere in zwei großen Koffern mit sich herumzuschleppen: erstens, weil er sie keinem anvertrauen konnte, und zweitens, weil er sie immer bei der Hand haben wollte. Jedes, auch das kleinste Schriftstück erledigte er immer selbst. Bis tief in die Nacht hinein saß er über seine Papiere gebeugt, und war sich selbst Sekretär und Stenotypist, Postbote und Laufbursche. Fast ebenso haust er jetzt in dem großen Gebäude des auswärtigen Kommissariats am Kusnezki-Most. Wann immer man auch in der Nacht Vorbeigehen mag, — immer ist in seinen Zimmern Licht. Am liebsten möchte er alles selbst machen. Die ganze Post geht durch seine Hände, kein Bericht kommt aus dem Ausland, ohne dass er ihn einer genauen Prüfung unterzieht, nichts wird, aus Russland befördert, worüber er nicht Bescheid wüsste.

Er ist ein ausgezeichneter Beamter, aber ein sehr schlechter Organisator. Weil er alles selbst machen möchte, kommt er nicht dazu, größere Geschäfte eingehender zu untersuchen. Die Kleinigkeiten überschwemmen ihn. Sein Kommissariat ist wohl das unordentlichste Ungetüm in ganz Moskau. Und das will viel besagen. Aber er scheint sich darum nicht zu kümmern. Er kommt aus seinem Kabinett fast nicht heraus, wo ihn unübersehbare Papiermassen umgeben. Dort, zwischen diesen Papieren, fühlt er sich wohl, ihnen widmet er seine ganze Aufmerksamkeit.

Die hohe Politik wird von andern gemacht. Tschitscherin führt nur gewissenhaft und pünktlich aus, was andere beschließen. Man kann sich auf ihn verlassen. Gebildet, klug, bescheiden, ist er eine Figur, hinter deren Rücken die eigentlichen Drahtzieher der auswärtigen Politik der Sowjet-Regierung sich wohlgeborgen fühlen. Ihm fehlt jener kleinliche Ehrgeiz, der einen anderen unbequem machen könnte. Seine persönliche Ehrenhaftigkeit bürgt dafür, dass er nie sein Amt missbrauchen wird irgend welchen persönlichen Zwecken zuliebe. Das ist eine so seltene Eigenschaft in diesem Lande, dass es uns nicht Wunder nimmt, wenn wir erfahren, dass sein Einfluss eigentlich ein sehr geringer ist.

Aber vielleicht steht die Bedeutung eines Menschen in der Revolution im umgekehrten Verhältnis zu seiner persönlichen Tugendhaftigkeit? Carlyle wusste das, — wenn er auch gleich dafür kein besonderes. Verständnis zu haben schien. „Was sollen wir einem Menschen, — heißt es bei ihm, — dafür danken, dass er seine Hände rein gehalten hat, wenn er nicht anders als mit Handschuhen an die Arbeit gehen wollte ! "

Die unsichtbaren Handschuhe, die Tschitscherin stets anhat, haben allerdings seine Hände vor Schmutz bewahrt. Nur haben sie ihn gleichzeitig verhindert, etwas anderes als ausgezeichneter Beamter zu werden. Aber wer weiß, ob man ihm dafür doch nicht Dank schuldig ist?

Kamenew ist gegenwärtig Vorsitzender des Moskauer Arbeiter- und Soldatenrats. Das entspricht ungefähr der Stellung des ehemaligen General-Gouverneurs. Außerdem ist er stellvertretender Vorsitzender des Rates der Volkskommissare, — also unmittelbarer Nachfolger Lenins nach dessen Erkrankung. Ehedem hieß er Rosenfeld und schriftstellerte in Petersburg. Kamenew ist sein Partei-Pseudonym. In der Partei war er eine nützliche, aber keinesfalls besonders angesehene Kraft. In allen entscheidenden Augenblicken war seine Haltung schwankend. Bei dem Hochverratsprozess, den die zaristische Regierung gegen bolschewistische Dumaabgeordnete 1916 anstrengte, gab er vor Gericht so zweideutige Erklärungen ab, dass Len in wahre Wutausbrüche bekam. Am Vorabend der Oktober-Revolution schwenkte Kamenew ab, und sagte sich in einem offenen Schreiben an die Parteimitglieder von dem Unternehmen los.

Nach einem jeden solchen Umfall verstand er es, rechtzeitig einzulenken, und die Meinungsdifferenzen als unbedeutende taktische Kontroversen hinzu, stellen. Je bodenständiger die Sowjet-Regierung wurde, umso felsenfester wurde der Bolschewismus Kamenews, — und umso höher stieg sein Einfluss. Die Literatur hat er längst an den Nagel gehängt. Das scheint ihm gut zu bekommen. Er entwickelt sich allmählich zu einem respektablen Würdenträger des neuen Regimes und macht sich wahrlich nicht schlechter als die verflossenen Würdenträger des alten.

Kamenew ist der Typus des Durchschnittsmenschen, der im Sozialismus Karriere macht. Jetzt, nachdem er angelangt ist, sieht man erst, wie wenig dieser Menschenschlag auf sich hatte. Und die Frage fällt unwillkürlich ein, ob es sich verlohnt hat, das Wespennest des alten Bürokratismus auszuräuchern, um dieser Mittelmäßigkeit zum Embonpoint zu verhelfen.

Diese Wortführer des Sozialismus, die sich Pferde aus dem kaiserlichen Marstall halten, in den schlimmsten Hungerzeiten eine reich gedeckte Tafel finden und sich als Beschützer schöner Kunst und schöner Künstlerinnen aufspielen, sind, — so traurig das auch klingen mag, — die einzigen Nutznießer der Revolution. Vor zwei Jahren entdeckte man in der „Hauptstelle für Manufaktur und Bedarfsartikel", die irgend ein obskures Individuum leitete, großzügige Unterschlagungen. Es fehlten ganze Posten Pelzwerk, Pretiosen, Schmucksachen, Kunstgegenstände, die seinerzeit nationalisiert und staatliches Eigentum geworden sind. Jenes obskure Individuum aber zog sich mit heiler Haut aus der Affäre, weil ihn ein Mächtiger deckte, dem man nicht beikommen konnte. Die Mehrzahl der Forderungen, auf deren Grund jene Gegenstände geliefert worden sind, war von Kamenew unterzeichnet. Er bedachte nicht nur sich selbst, sondern schlechthin alle, die unter die Sonne seiner Gunst kamen.

Nun bin ich allerdings weit davon entfernt, die Bolschewisten, die mir geschichtliche Größen sind, als einfache Diebe oder Raubmörder hinstellen zu wollen. Aber diese Existenz, die so ziemlich das Traurigste verkörpert, was am zeitgenössischen Sozialismus wie Krebsschaden frisst, hat eben für die Geschichte keine andere Bedeutung als die eines negativen Beweismittels. Sie soll auch in die Geschichte nicht anders übergehen als in jener Gestalt, die sie sich freiwillig wählte.

Kamenew ist eine Figur, an der ein Lustspieldichter seine Freude hätte. Wie sich ein Zeilenschinder des Radikalismus, der früher immer: hin für seine Überzeugungen einiges gelitten hätte, aber in allen folgenschweren Situationen unvermeidlich umkippte, zur staatserhaltenden Karyatide entwickelt, wie er als braver Ernährer alle Schatzkammern des Volksstaates plündert, um der angetrauten Gemahlin die Möglichkeit zu geben, vor einem erstaunten Theaterpublikum mit kleiner Bijouterieausstellung zu erscheinen, wie rasch er das leutselige Benehmen eines jovialen Landesherrn sich aneignet, das alles ist das ergötzlichste Schauspiel unserer Zeitläufte. Immerhin darf nicht verschwiegen werden, dass er seine Ernennung zum Stellvertreter Lenins nur dem Umstand verdankt, dass die Volkskommissare auf etwas gespanntem Fuß mit Trotzki stehen. Zwei Namen wurden genannt, als es sich herausstellte, dass Lenin nicht mehr arbeitsfähig sei. Lunatscharski und Trotzki. Der erste fiel bald ab, die selbstherrische Natur des zweiten erregte Bedenken. So einigte man sich auf Kamenew, dessen konziliantes Wesen immer mehr auf den Grundsatz hinausläuft, leben und leben lassen. Wobei nicht übersehen werden soll, dass andere das Leben lassen mussten, damit er leben konnte.

Einige Wochen nach dem Oktoberumsturz traf ich Sinowjew im Smolnji. Wir kannten uns von der Schweiz her und hegten, wie ich glaube, einige Sympathie für einander. Er sah recht sonderbar aus mit der hohen Pelzmütze und zerfilztem Soldatenmantel. Wir unterhielten uns über belanglose Gegenstände, als jemand kam und Sinowjew einen Aushebungsbefehl gegen die Druckerei der Sozial-Revolutionäre zu unterzeichnen gab. Nachdem der Mann wegging, sagte ich zu Sinowjew: „Lieber Freund, als wir beide in Hertenstein hausten, haben Sie sich sicherlich nicht einfallen lassen, dass einmal die Zeit käme, da Sie solchen Polizeiwisch signieren würden." Sinowjew schaute mich groß an und entgegnete nach einer kurzen Pause: „Ja, wissen Sie, man lebt wie im Traum."

Er hatte immer etwas Traumhaftes, ja nahezu Verschlafenes an sich. Das kommt davon, dass er mehr wie jeder andere in den Regionen des reinen Schrifttums lebte. Als blutjunger Mensch nahm er an der Bewegung von 1905 teil und musste mit zwanzig Jahren in die Fremde gehen. Dort lernte er Lenin kennen und unterlag vollständig seinem Banne. Er führte die willigste und ausgiebigste Feder, die sich Lenin zur Verfügung stellte. Er konnte Tage lang, Nächte lang schreiben: Zeitungsartikel, Rundschreiben an Parteifreunde, Resolutionen, Broschüren, — alles, was Lenin für geboten hielt. All die Jahre, die er im Ausland verbrachte, blieb er über dem Schreibtisch gebückt. Was er schrieb, war weder tief noch originell. Aber er hatte eine brauchbare Art, die Oberfläche der Dinge festzuhalten. Seine Aufsätze hatten den Hauch der Plausibilität, der ihn zum erfolgreichsten Agitator des Bolschewismus machte. Auch als Redner tat er sich hervor. Keine glänzende Leidenschaft wie Trotzki, keine gepflegte Eloquenz wie Lunatscharski, aber immerhin eine einleuchtende Beredsamkeit, die an den gesunden Menschenverstand appelliert und im gegebenen Fall alle demagogischen Kunstgriffe sehr gut zu gebrauchen weiß.

Aber das Leben erstarrte ihm im Wort. Er bewegte sich in einer Welt verbaler Konstruktionen und kam überhaupt nicht dazu, sich irgendwie praktisch zu betätigen. Ein blutleeres papiernes Dasein, das sich freiwillig zum Bestandteil einer rastlos arbeitenden Parteimaschine hergegeben hat. Er erinnerte mich immer an jene mittelalterlichen Mönche, die jahrelang in ihrer Klosterzelle saßen, von jedem Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten, und mit unendlicher Geduld eine kunstvolle Inkunabel der Heiligen Schrift herstellten.

Sinowjew war immer Meister der Gemeinplätze. Das machte ihn besonders brauchbar. Wie er die zweischneidigsten Parteibeschlüsse als einwandfreie Selbstverständlichkeit hinzustellen verstand, wie er die kompliziertesten Gedankengänge Lenins dem schlichtesten Menschenverstand zugänglich machte, das machte ihm kein zweiter nach. Gewiss, es gehörte ein gutes Stück Selbstverstümmelung dazu, auf diesem Niveau der allgemeinen Zugänglichkeit zu bleiben. Er fand aber Befriedigung in dem Gedanken, das Sprachrohr eines Größeren zu sein.

Die Revolution überraschte ihn wohl am meisten. Dass das Wort Wirklichkeit ward, musste ihm als die unglaublichste Inkarnation erscheinen. Man kann wohl sagen, dass er seinen Augen kaum traute. Am Vorabend des 26. Oktober hielt er sich jeder aktiven Beteiligung an den Begebenheiten fern. Die nachfolgenden Tage bot er wahrlich ein Bild des Jammers dar. Übernächtigt, blass, fast zusammengeschrumpft ging er im Smolnji herum, bei jedem lauten Geräusch aufzuckend, kaum seiner Sinne mächtig. Er sah wahrlich nicht aus wie der mächtige Statthalter Petersburgs, der er bald werden sollte!

Ich glaube nicht, dass es Feigheit war. Es war vielmehr die Lebensfremdheit des Papiermenschen, der sich plötzlich dem geöffneten Schlund der Wirklichkeit gegenüber sieht. In jenen Tagen hatte seine massige, vom vielen Stubenhocken ein wenig aufgedunsene Figur etwas kindisch Unbeholfenes. So sieht Feigheit nicht aus. Aber wen das Bewusstsein überwältigt, dass das Wort, das er im Munde führte, Tat geworden ist, fühlt so den Angstschweiß auf seiner Stirn perlen.

Später, mit dem Erfolg der Revolution kam er in das altgewohnte Gleis. Er versuchte zwar als Vorsitzender des Petersburger Sowjets und der nordischen Kommune, — nach der Übersiedelung der Zentralregierung nach Moskau, — Verwaltungsgeschäfte zu führen, — hatte aber wenig Glück damit. Die Unordnung, die unter ihm herrschte, hatte schon beinahe chimärische Dimensionen. Bis ein einfacher und schlichter Mann aus dem Volke kam, Badajew, der einige Ordnung in den Wirrwarr brachte.

Sinowjew zog es zum Schreibtisch zurück. Seine Domäne wurde die III. kommunistische Internationale, der sogenannte Komintern. Hier lässt er seine alten Fraktionskünste spielen, schreibt unermüdlich Artikel über Artikel, verfasst von neuem Resolutionen und versendet Rundschreiben nach allen Richtungen der Windrose hin. Die gewaltige Stimme, deren Echo er gewesen, verstummt. Nun sind es andere Geister, in deren Bann er sich gezogen fühlt.

Es ist bezeichnend, wie wenig beliebt Sinowjew selbst im engeren Kreis seiner Parteifreunde ist. Die ihn von fern gesehen haben, tragen meistens noch ungünstigere Eindrücke davon. Mir scheint diese Tatsache in der papiernen Wesenheit des Menschen begründet zu sein. Es ist etwas Unwirkliches an ihm, was zu keinem persönlichen Verhältnis kommen lässt. Als ob sich hinter seiner Oberfläche überhaupt keine tieferen Züge verbergen, als ob der Mensch nur ein fleischgewordener Parteibeschluss wäre.

Und doch ist sein Schicksal beneidenswert. Denn er ist vielleicht der Einzige, der sich in diesen wechselvollen Jahren vollständig treu geblieben ist.