Plechanow, Georg W. (1856-1918) russischer Journalist und Philosoph

Das Schicksal Plechanows in der russischen Revolution bedeutet vielleicht die ergreifendste Episode ihrer Geschichte.

Plechanow ist eine der markantesten Persönlichkeiten unter den Vorkämpfern des Sozialismus in Russland. Mit Recht wurde er der Vater der russischen Sozialdemokratie genannt. Ihm verdankt die Arbeiterbewegung in Russland sowohl die theoretische Grundlegung als auch die erste praktische Führung. 1889 tat er auf dem internationalen Sozialistenkongress zu Paris seinen berühmten Ausspruch:


„Der Befreiungskampf wird in Russland als Arbeiterbewegung siegen, — oder überhaupt nicht". Das war ein bahnbrechender Gedankenwurf zu einer Zeit, da das Proletariat nur eine verschwindende Minderheit im vorwiegend agrarischen Russland bildete und von einer auch nur halbwegs organisierten Arbeiterbewegung überhaupt keine Rede sein konnte.

Die nachherige soziale Entwicklung Russlands hat Plechanow vollauf Recht gegeben. Schon 1898 konnte Plechanow dem ersten Parteitag russischer Sozialdemokraten, der in London stattfand, beiwohnen. Seither entwickelte sich die sozialdemokratische Bewegung unaufhaltsam. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Niederwerfung des Zarismus, die 1905 versucht und 1917 vollbracht wurde, in erster Linie das Werk ihres immer höher anschwellenden Stromganges gewesen ist. In diesem Sinne bewährte sich Plechanow als guter Prophet. Aber wer hätte es vorausgesehen, dass dieselbe Revolution, die Plechanow sein Leben lang anstrebte, der er unermüdlich diente, seine eigene Figur so vollständig in Schatten stellen würde? Unansehnlich, schattenhaft, kläglich endete diese Laufbahn, die so vielversprechend begonnen, so Großartiges vollbracht hat. Schon das Wiedersehen mit der Heimat war ein böses Omen. N. N. Suchanow — dessen ausgezeichnete Erinnerungen eine wahre Fundgrube für jeden Geschichtsschreiber der russischen Revolution bilden — beschreibt das erste Auftreten Plechanows in Petersburg, wohin er nach einem nahezu vier Jahrzehnte langen Exil am 31. März 1917 zurückkehrte, wie folgt: „Endlich erschien Plechanow — hervorgezogen von Tscheidze, — aber in Abwesenheit aller anderen Teilnehmer am Empfang, der auf dem Bahnhof stattgefunden hatte. Tschcheidze stellte ihn mit einigen unbeholfenen, aber sehr heißen Phrasen vor. Es folgte eine lärmende Ovation, die sich sehr bald legte, in Erwartung, dass Plechanow etwas sagen würde. Aber Plechanow, den die Reise und der Empfang durch die Obrigkeit auf dem Bahnhof sehr ermüdet hatten, stand unbewegt und pelzbekleidet im Hintergrund der Bühne. Er sprach kein Wort. Schweigend und missgelaunt ging der Rat auseinander".

Und dann an einem andern Ort: „Die Teilnahme Plechanows an den Begebenheiten von 1917 beschränkte sich aufs Artikelschreiben in einer winzigen, sehr wenig gelesenen und völlig einflußlosen Zeitung, die „Einigkeit" . Seine Anhänger bildeten ein kleines Grüppchen, das eben wegen seiner Winzigkeit im Rate nicht einmal vertreten war."

Beim Ausbruch der Oktoberrevolution lag Plechanow krank in einer abgelegenen Villa des Zarskoje Ssjelo darnieder. Ein langjähriges Lungenleiden, das im rauen Klima Petersburgs sich täglich verschlimmerte, raffte ihn dahin. Im April 1918 — ein Jahr, nachdem er die Heimat wieder begrüßen durfte, — war er nicht mehr.

Plechanows Anfänge fallen in jene Zeit, da das russische Volkstümlertum Schiffbruch erlitten hatte. Es war dies im Anfang der 80er Jahre. Der Kampf, den das Häuflein Studenten und Studentinnen, das die Partei des Volkswillen" bildete, gegen den Zarismus geführt hat, endete mit einer vernichtenden Niederlage. Alle Hoffnungen, das russische Bauerntum gegen die Monarchie und für eine konstitutionelle Verfassung zu erheben, erwiesen sich als illusorisch. Der Versuch, die russische Landgemeinde zum Ausgangspunkt einer sozialistischen Umwälzung zu machen, konnte nicht durchgeführt werden. Er blieb eine theoretische Konstruktion der Wortführer des Volkstümlertums. Alles schien verloren und vernichtet. Eine Periode der drückendsten Reaktion brach heran, um bis zum Anfang dieses Jahrhunderts ungeschwächt anzudauern.

Plechanow hat die letzten Zuckungen des Volkstümlertums zusammen mit der Partei des Volkswillens mitgemacht. Seit 1878 war er aktiv in der Bewegung tätig. Als Mitglied der Verbindung „Land und Freiheit" hat er sich noch auf der Schulbank seine ersten Sporen verdient. 1882, als der Boden unter seinen Füßen zu heiß wurde, musste er emigrieren. Er nahm in die Verbannung nicht nur alle Enttäuschungen der vorherigen Revolutionsperiode mit, sondern auch die klare Einsicht, dass die Weiterentwicklung der Befreiungskämpfe sich nur dann erfolgreich vollziehen kann, wenn es gelingt, in der objektiven wirtschaftlichen Entwicklung Russlands feste Anhaltspunkte zu finden. Die Bauernschaft ist träge, die Intelligenz machtlos. der Liberalismus denkfaul: so lautet das Fazit jener Phase der revolutionären Bewegung, die mit dem Zarenmord vom 1. März 1881 ihren Abschluss fand. Es hieß nunmehr nicht nur von neuem eine Armee zu mobilisieren, sondern auch einen neuen Operationsplan zu entwerfen. Dies war die Aufgabe, die sich Plechanow stellte, — nicht unähnlich also jener, die Marx nach der Niederlage der deutschen Revolution von 1848 mit in die Verbannung nahm.

In Europa fand Plechanow zwiefache Möglichkeit, dieser Aufgabe näher zu treten. Einmal reiche, praktische Erfahrungen. Gerade Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts war die Zeit eines entscheidenden Aufblühens der Arbeiterbewegung, namentlich in Frankreich und Deutschland. Dann aber auch theoretische Schulung. Das russische Geistesleben ward bis dahin durch Ideengänge des utopistischen Sozialismus beeinflusst. Selbst seine fortgeschrittensten Vertreter gingen nicht über Proudhon und Weitling hinaus. Bakunins flammender Anarchismus, Lawrows gemäßigter Proudhonismus bildeten die Hauptrichtungen des damaligen russischen Sozialismus. Im Westen tat sich Plechanow die Welt des wissenschaftlichen Sozialismus auf. Mit Feuereifer vertiefte er sich in das Studium Marx' und Engels'scher Werke. Und wie durch einen Zauberschlag erschien plötzlich alles in einem neuen Lichte. Nicht bloß revolutionäre Begeisterung, sondern kalte, wissenschaftliche Analyse, nicht subjektive Befreiungspläne, sondern Studium der objektiven geschichtlichen Entwicklung war von nun an die Parole.

Von nun an galt es, die Errungenschaften des europäischen Sozialismus und die Erfahrungen der westlichen Arbeiterbewegung an die russischen Verhältnisse zu wenden. Wenn Herzen einmal von der Hegelschen Philosophie bemerkt, sie sei die „Algebra der Revolution", so kann man mit eben demselben Fuge sagen, dass Plechanow im Marxismus die Algebra der russischen Revolution gefunden hat. Es handelte sich darum, die in der Revolutionsbewegung gesammelten Erfahrungen und Enttäuschungen, im Lichte dieser neuen Anschauungen zu revidieren. Und da stellte sich freilich eine überraschende Tatsache heraus. Während das Volkstümlertum noch immer von der Einzigartigkeit Russlands ausging — welche Vorstellung es mit dem Slavophilismus teilte — , während es noch alle seine Hoffnungen auf die agrarische Entwicklung setzte, vollzog sich bereits eine Umwälzung von grundlegender Bedeutung: Russland ist kapitalistisch geworden — und wurde es mit jedem Tag immer mehr.

Der Einzug des Kapitalismus war eine vollzogene Tatsache. Nachdem dies einmal erkannt worden war, mussten auch die Konsequenzen gezogen werden. Plechanow tat es mit bewundernswürdigem Scharfblick und glänzender Beredsamkeit. 1884 gründete er zusammen mit P. B. Axelrod, Leo Deutsch und Vera Sasulitsch die „Gruppe der Befreiung der Arbeit" als erste sozialdemokratische Organisation, die in Russland wirkte. In demselben Jahr erscheint seine Broschüre „Der Sozialismus und der politische Kampf', ein Jahr darauf die grundlegende polemische Schrift gegen das Volkstümlertum: „Unsere Streitfragen". Damit nahm die sozialdemokratische Bewegung in Russland ihren Lauf.

Die Tätigkeit Plechanows war zu jener Zeit geradezu unermüdlich. Er übersetzte die Hauptwerke des wissenschaftlichen Sozialismus ins Russische, schrieb Abhandlungen über die Grundprobleme des Marxismus, polemisierte gegen das Volkstümlertum und seine mannigfachen Epigonen, hielt agitatorische Vorträge, redigierte periodische Zeitschriften und leitete Selbstbildungszirkel, aus denen die ersten Propagandisten des Marxismus in Russland hervorgingen. Ein zwiefaches Ziel steckte sich diese Tätigkeit. Es galt zunächst, den Glauben an die sozialistischen Entwicklungsmöglichkeiten der russischen Landgemeinde sozusagen mit Stumpf und Stiel auszurotten. Die utopistische Illusion, als ob es möglich sei, die kapitalistische Entwicklungsphase aus der Geschichte Russlands gleichsam auszumerzen und die Landwirtschaft zur Grundlage der sozialistischen Umwälzung zu machen, musste beseitigt werden, damit die neue Generation vor folgenschweren Enttäuschungen bewahrt bleibe, damit sie einsehe, dass der „Befreiungskampf in Russland nur als Arbeiterbewegung siegen könne — oder überhaupt nicht".

Aber noch ein anderes, nicht weniger wichtiges, kam hinzu. Von vornherein musste die Selbständigkeit der sozialdemokratischen Bewegung gewahrt werden. Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland bedeutete unter anderem auch Entwicklung der russischen Bourgeoisie. Dieser immer anwachsenden Macht gegenüber musste die proletarische Bewegung sich zum voraus zu erwehren trachten, um in der kommenden Revolution, die allerdings als eine bürgerliche Revolution gedacht wurde, nicht wiederum, wie schon so oft in der Geschichte, die Rolle des Kanonenfutters zu spielen. Der Einfluss Plechanows war in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts und bis unmittelbar zur Revolution von 1905 von gewaltiger Stoßkraft. Er beherrschte fast unumschränkt sowohl die praktische Arbeiter Bewegung wie auch die Gedankengänge der russischen Intelligenz. Zwei Generationen wurden groß an seinen Werken. Nachdem er dem volkstümlerischen Utopismus den Gnadenstoß gegeben, wandte er seine ganze Energie an die Verbreitung des Marxismus in Russland. Derselben Generation wie Jules Guesdes und Karl Kautzky angehörend, hat er es verstanden, den wissenschaftlichen Nachlass von Marx und Engels nicht nur mit beispiellosem Erfolg zu popularisieren, sondern auch philosophisch auszuarbeiten und zu vertiefen. Er war wohl der begabteste Vertreter des orthodoxen Marxismus nicht nur in Russland, sondern in den Reihen der internationalen Sozialdemokratie überhaupt. Seine Waffengänge gegen den liberalen Revisionismus P. B. Struwes, gegen den opportunistischen Revisionismus Eduard Bernsteins, gegen den idealistischen Revisionismus Konrad Schmidts, gegen den utopistischen Revisionismus Jean Jaurs sind dafür überzeugendste Beispiele.

Aber: „am Ende hängen wir doch ab von Kreaturen, die wir schufen". Dieselbe Sozialdemokratie, die Plechanow sozusagen großgezogen hat, wuchs zu Dimensionen empor, die seine frühere, nahezu unbeschränkte und unwidersprochene Herrschaft nicht mehr zuließen. Solange es galt, die theoretischen Vorbedingungen der Bewegung zu schaffen, marschierte Plechanow an der Spitze der jungen Armee. Dies änderte sich, als die Bewegung praktische, Wurzeln zu schlagen anfing, als ihr Schwergewicht von der Kriegsakademie, die Plechanow in Genf leitete, nach dem Generalstab verlegt werden musste, der in Russland unter den Arbeitermassen selbst zu wirken hatte. Das praktische Leben der Partei konnte nicht gut vom Genfer Exil aus übersehen werden. Das legte den Grund zu allen späteren Missverständnissen.

Seit 1905 wurde die Stellung Plechanows innerhalb der Partei und der Arbeiterbewegung immer wankender. Schon 1903, als sich die russische Sozialdemokratie auf ihrem zweiten Parteitag spaltete und zwei separate Flügel, die Menschewisten (die Gemäßigten) und die Bolschewisten (Extremisten), die sich von nun an arg befehden sollten, konnte sich Plechanow mit keinem von diesen beiden Lagern befreunden. Er ersehnte eine nach europäischen Mustern geeinigte Partei. Sowohl der menschewistische Opportunismus als auch die abenteuerliche Draufgängerei Lenins behagten ihm wenig. Nach dem Zusammenbruch der Bewegung von 1905 erfaßte ihn tiefe Missstimmung. Am 21. Dezember jenes Jahres schrieb er mir aus Genf: „Dem Marxismus geht es jetzt schlecht in Russland. Falls Sie den ,Anfang' lesen — (Es war dieses die damalige legale Tageszeitung der Bolschewisten. — O. B.), so sehen Sie wahrscheinlich selber ein, dass dort keine Spur von Marxismus mehr übrig geblieben ist. Alles muss wieder von neuem begonnen werden".

Nun, solches war selbstverständlich nicht mehr möglich. Und diese Hoffnung, alles von neuem beginnen zu können, war es, was die Wirksamkeit Plechanows von nun an lahmlegte. Denn die Verhältnisse spitzten sich immer mehr zu. Das Land lief einer unaufhaltsamen Katastrophe entgegen. Da war es schon zu spät, es von neuem in die marxistische Schule zu stecken.

Der Krieg gab Plechanows Popularität den Rest. Er trug sich mit der Hoffnung, eine starke Arbeiterpartei um den Preis des Zusammengehens mit der kriegführenden Bourgeoisie ins Leben zu rufen. Das Bündnis mit der französischen und englischen Demokratie musste Russlands Demokratisierung ermöglichen, die Arbeiterklasse sollte aus dem Krieg organisiert und politisch geschult hervorgehen.

Es war dies die letzte und die unheilvollste Illusion. Denn die staatsmännische Gebärde eines Guesdes oder Henderson sah immerhin ganz anders aus als die gleichartige Gestikulation Plechanows — in einem Land, dem alle Vorbedingungen der staatserhaltenden Rolle des Proletariats fehlten. Je kriegsunwilliger die Arbeiterklasse wurde , umso kriegshetzerischer gestattete sich die Stimmung Plechanows. Aber es half nichts. Die Massen, die nunmehr die politische Bühne beherrschten, wussten nichts von seiner glorreichen Vergangenheit. Sein „Sozialpatriotismus" hat ihn unbeliebt gemacht — und ohne viel Federlesens wurde er zum alten Eisen geworfen, weil die rohen Gewalten, welche soeben erst zur geschichtlichen Aktivität gelangt waren, weder Zeit noch Lust hatten, auf etwas anderes als auf die augenblicklichen Gebote der Lage zu achten.

In die Geschichte wird Plechanow jedenfalls nicht in der entstellten Gestalt seiner letzten Jahre übergehen, sondern mit dem tatsächlichen Ausmaß seiner Größe. So mag denn zum Abschluss dieser Darstellung der Aufsatz Raum findet, den ich 1917 im Dezemberheft einer Petersburger Wochenschrift veröffentlichte, ah die erste Kunde von der tödlichen Erkrankung Plechanows kam.

Nichts bewahrheitet mit solch unbarmherziger Treffsicherheit die Worte Nekrassows, dass „Langlebigkeit und Ruhm Feinde seien", als das Geschick Plechanows. Die Gestalt dieses Menschen, von alten vergessen, verlassen und verkannt, verbleibt wie eine unvertilgbare Spur auf dem Bilde der russischen Revolution als eines ihrer bedeutsamsten Symbole. Noch niemandem ist eine derartige Tragik widerfahren. Die Geschichte kennt nur einen einzigen Namen, der die Erinnerung an ein ähnliches Schicksal heraufbeschwört. Hierzu muss sie in die Tiefe der Zeiten, durch den großartigen Säulenbau Hellas zurückblicken, dorthin, wo Sokrates, der große Geburtsheller der Gedanken, wandelte. O ihr armen Lehrmeister der Menschen! Wie unbarmherzig sind euch gegenüber eure eignen Sprösslinge! Wie rasch sind sie mit dem Urteil fertig, und wie unbarmherzig blind fällt es in der Regel aus! Aber selbst Sokrates' Schicksal ward durch Liebe der Weisen und instinktive Scheu der Dummen verschönt. Immerhin war dort der dunkel, blaue Himmel, die helle Sonne und das rätselhafte Auge der Pallas Athene.

Und hier? Wer vermag den ganzen Jammer dieser tierischen Unehrerbietung zu tragen? Das entsetzliche Bewusstsein zwecklos verstreuter Aussaat? Den unheilvollen Dünkel kleinlicher Rache, grober Missverständnisse, erbarmungslosen Gelächters? Erbleicht denn die antike Sage von Sysiphus, der einen Stein bergauf hinschleppen musste, um in der Mitte des Weges mit wahnsinnigem Auge sein Zurückgleiten zu beobachten, nicht vor dem Schauspiel dieses Lebens, das verurteilt ist, nun die Welt bereits ein neues Antlitz zeigt und aus der phänomenalen Materie die noumen9michale Idee herausschält, kraftlos die Ruinen seiner eigenen Bauwerke zu betrachten?

Objektiv mag das ja richtig sein. Wenn es einen Menschen gibt, für politische Tagesfragen, Fraktionsgeist, Koterienwirtschaft durchaus ungeeignet, so ist es sicherlich Plechanow. Mit gutem Rechte könnte er die Worte Andre Cheniers wiederholen: „Was hatte ich zu suchen auf einer niedrigen Arena, unter niederträchtigen Kämpfern?" In dieser Welt gewerbsmäßiger Politiker, wo man einander die Hände reicht, um sich nicht gegenseitig an die Gurgel zu fahren; wo es keine Berufung gibt, sondern nur Metier; wo nur derjenige siegen kann, der am vollständigsten den goldenen Mittelschnitt repräsentiert, — musste Plechanow Hass und Anfeindung wider, fahren. Er diente sein Leben lang dem Gedanken, und der Gedanke ist hilflos und tausendfach verhasst der Leere, die moderne Seelen ausfüllt. Wehe dem, der sich der kameradschaftlichen Gemeinschaft jener Nullen entgegensetzt, die sich nur kraft gegenseitiger Hilfsdienste, vermittelst gemeinschaftlicher Unfallversicherung über Bord halten können!

„Auf niedriger Arena, unter niederträchtigen Kämpfern" musste er eine Niederlage erleiden. Diese Rennbahn kleinlicher Leidenschaften und beleidigten Ehrgeizes war ihm fremd. Und als er (fast unbewaffnet: denn weder Wissen noch Gedankenkraft, noch Talent sind Waffen in diesem Kampf, in dem man nicht bezwingen muss, sondern stechen) in den Kreislauf der Aktualität sich stürzte, besiegten sie ihn durch Gewicht und Zahl. Seitdem das gedruckte Wort ein Produktionsmittel geworden, seitdem sich jeder der Rotationsmaschine bedienen kann, seitdem niemand mehr schlaflose Nächte am Schreibtisch, sondern jeder nur geschäftige Tage im Redaktionsbüro verbringt, seitdem nicht die Idee, sondern die Meinung die Welt regiert und jeder meint und seine Meinungen vervielfältigt, imponiert nichts mehr dem Pöbel.

Genf, den 5. Januar 1905.


Lieber Genosse,

Nach den Moskauer Begebenheiten denke ich ebenso, wie ich vor diesen Begebenheiten dachte. Die Taktik unsrer Genossen scheint mir im höchsten Grade falsch. Der bewaffnete Aufstand war verfrüht; die Ausfälle gegen die demokratische Bourgeoisie sind taktlos. Witte wollte die Revolutionäre isolieren, und wir haben dieser Absicht mit Fleiß gehoffen. Das ist einfach politische Lausbüberei. Ich hoffte, dass die Moskauer Begebenheiten uns eines besseren belehren werden, aber „Unsere Stimme” beweist, dass ich mich darin getäuscht habe.

Ich fahre ebenfalls nach Russland. Wann? Sobald ich (mich etwas besser fühlen werde. Jetzt, da ich Ihnen schreibe, habe ich Fieber. Hoffentlich bin ich in ein paar Tagen gesund.

L. G. sah ich vor einigen Tagen in Berlin. Er fühlte sich ausgezeichnet. Aber er sollte mir schreiben und schreibt nicht. Vielleicht ist er verhaftet?

Selbstverständlich stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung. Kommen Sie, wann Sie wollen. Vielleicht fahren wir zusammen?

Mit Handdruck Ihr
G. Plechanow.


Dort, wo nicht das Leben einem anderen Leben, nicht die Überzeugung einer anderen Überzeugung, nicht der Gedanke einem anderen Gedanken sich gegenüberstellt, sondern eine armselige, kurzlebige Tagesparole der anderen ihr Brot streitig zu machen sucht, dort konnte Plechanow nicht Sieger bleiben. Jawohl, sie hatten tatsächlich Recht, seine Gegner. Wisst ihr aber auch, was dieses „tatsächliche Recht" bedeutet? Fühlt ihr auch, wie sie sich mit ihm brüsten, diese Armen am Geiste, die ein einziges Mal das süße, — nein: wollüstige — Gefühl des Sieges über einen Stärkeren erleben durften?

Wie arm ist doch diese Welt der Maschinen an Menschen! Plechanow war einer von den letzten. Von jener alten Garde, die, wie das geflügelte Wort lautet, stirbt, aber sich nicht ergibt. Ach, wie oft flog schon dieses Wort dahin, und die Garde starb doch nicht, sondern ergab sich willig! Klein war die Zahl derer, die dem Tode trotzend, auf ihrem Posten blieben: Plechanow gehörte zu diesen Wenigen.

Wie viel heiße Waffengänge haben dies edle Temperament gestählt! Wie der alte Engels, hatte auch er ein sehr gut gegerbtes Fell und brauchte sich vor Mückenstichen nicht zu fürchten. Wenn man in Gedanken das Menschenmaterial überblickt, welches Europa unsrer Zeit auf die Schlachtfelder seines Geistes hinaussandte, so entdeckt man Plechanow in den ersten Reihen. Er ist ein Mann von altem Schrot und Korn. Sein Stammbaum führt unmittelbar auf Hegel und Marx, Darwin und Tschernischewsky zurück. Die ganze intellektuelle Welt unserer Tage zählt kaum ein Dutzend wirklicher Köpfe. Und dieser da war einer der bedeutendsten. Plechanows Pathos ist die Kritik. In ihm war vielleicht die kraftvollste Macht kritischer Eindringlichkeit, welche die Geschichte der Literatur seit Lessings Zeiten kennt. Seine Analyse war die letzte Probe geistiger Feuersicherheit.

Herbert Spencer weist irgendwo, als auf das Beispiel anmutiger Kraft, auf den Dampfhammer hin, der mit gleicher Genauigkeit und Leichtigkeit einen Granitblock zertrümmert und eine Haselnuss zerknackt. Plechanow hatte etwas von dieser Anmut. Er ist der letzte von den großen Meistern des russischen Wortes. Ein Künstler am Wort. In ihm fand die russische Publizistik den endgültigen Abschluss. Die Linie der literarischen Entwicklung, die Belinski begonnen hat, führt über Herzen und Tschernischewsky — bei denen er viel und dankbar gelernt hat — unmittelbar zu Plechanow. In diesem Sinne bildet seine literarische Tätigkeit die notwendige Fortsetzung der ganzen Entwicklung des russischen Geisteslebens.

Was an Plechanow besonders auffällt, ist die breite Amplitude seiner geistigen Interessen. Von der Literatur bis zur Philosophie gibt es im Gedankenreich kein Gebiet, auf dem sich sein Wissensdrang nicht betätigt hätte. Universalität kennzeichnet entweder das Genie oder den Dilettanten. Plechanow war weder das eine noch das andere. Zum Genie fehlte ihm die Gestaltungsund Erfindungsgabe. Er ist Fortsetzer, Epigone, und als solcher durch und durch rationalistisch. Für einen Dilettanten aber war er zu arbeitsfreudig, stellte an sich selbst zu ernste Anforderungen. Seine Universalität entspricht dem weltumspannenden Drang jener Klasse, in deren Dienst er seine Begabung stellte. Es bereitete ihm eine ungeheure Freude, die Überlegenheit seines Standpunktes auf allen Wissensgebieten zu demonstrieren. (Wie gern pflegte er die Worte Feuerbachs zu wiederholen, dass es nur der Standpunkt sei, der den Menschen vom Affen unterscheide 1) Und wenn der wissenschaftliche Sozialismus die ungeheure Produktivität seiner Methode fast im ganzen Bereich der Wissenschaft dartun konnte, so gebührt — nach Marx und Engels — der Löwenanteil an diesen Erfolgen Plechanow und keinem andern" !

Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem,

Ich werde nimmer seinesgleichen sehn . . .