Martow, Julius (1873-1923) russischer Politiker

Im Vorwort zu den „Lebenserinnerungen eines Sozialdemokraten" schreibt Martow: „Ich bin am 24. November 1873 zu Konstantinopel geboren. Mein Vater diente viele Jahre lang im Osten bei der Russischen Gesellschaft für Schifffahrt und Handel, und nur der Russisch-türkische Krieg vertrieb ihn in die Heimat zurück. In Konstantinopel lebte er in kosmopolitischer Gesellschaft. Meine Mutter war eine geborene Wienerin und lernte die russische Sprache erst später kennen. Deshalb waren meine Haussprachen bis zum fünfjährigen Alter Französisch und Neugriechisch (die Sprache der Konstantinopler Dienstboten).

Mit der Literatur bin ich sozusagen von Hause aus verknüpft. Der Patriarch unserer Familie, mein Großvater Alexander Ossipowitsch Zederbaum (gestorben 1893) gründete die ersten jüdischen Zeitungen in Russland. Literarische und speziell journalistische Interessen bestimmten daher bis zu einem gewissen Grade von früher Jugend auf mein Familienleben. Auch mein Vater hat sich eine Zeit lang auf dem journalistischen Gebiete betätigt, indem er als Kenner des Ostens die Konstantinopler Berichterstattung einiger Petersburger Tageszeitungen besorgte. . . Schließlich ist mein Bruder, Dr. Adolf Zederbaum, der lange in Deutschland lebte, als deutscher Übersetzer Turgenjews bekannt. So liegt mir das Gewerbe des Zeitungsschreibers gewissermaßen im Blut."


Das ist viel zu bescheiden. Martow ist mehr als bloß Zeitungsschreiber geworden, und die Möglichkeiten, die „in seinem Blut" liegen, sind von einer viel weiter tragenden Spannkraft. Sein Kopf ist einer der bedeutsamsten in der Portraitgalerie der russischen Revolution. Ja, noch mehr: vielleicht ist Martow in einem gewissen Sinne ihre Schlüsselgestalt. Den äußerlichen Lebensgang hat er mit sämtlichen — oder fast sämtlichen — Vorkämpfern der russischen Revolution gemeinsam: Zuerst Teils nähme an der studentischen Bewegung, dann Verbannung nach Sibirien, schließlich Flucht ins Ausland und jahrelange (seit 1900) Emigration, bis die Ereignisse von 1917 ihn dem heimatlichen Boden wieder näher brachten. Doch verstecken sich hinter diesen landläufigen biographischen Daten eigenartige Persönlichkeitswerte. Martow ist ohne allen Zweifel das stärkste schriftstellerische Temperament, das Russland seit Herzen beschieden wurde. Eine Feder von macchiavellesker Feinheit verbunden mit ungewöhnlich scharfem Spürsinn für jeweilige politische Situationen. Manches in seiner Begabung erinnert an Henri Rochefort. Er hat dieselbe beißende Ironie, denselben Mutterwitz, dieselbe Neigung zu polemischen Antithesen. Nur dass er ihn an methodologischer Schulung überragt.

Martow war jahrelang führender Publizist der sozialdemokratischen Bewegung. In dieser Eigenschaft bekundete er ein hervorragendes Verständnis für die Besonderheiten der russischen Arbeiterbewegung. Sein ganzes Streben ging dahin, aus der Organisation gewerbsmäßiger Revolutionäre eine breite Massenpartei zu schaffen. Niemand verstand es so gut wie er, alle Agitationsmöglichkeiten, die in der zaristischen 'Wirklichkeit lagen, auszunützen und dem Interesse der Partei dienstbar zu machen. In ihm steckte ein praktischer Politiker von dem Ausmaß eines August Bebel.

Doch das Wesentlichste an dieser Individualität ist, dass sie immer nur in der Potenz blieb. Es war eine latente Kraft, die sich nie völlig entfaltete. Der begabteste Schriftsteller des zeitgenössischen Russland, ist Martow gleichwohl niemals zur restlosen Entfaltung gelangt. Was er hinterlässt, besitzt keinen bleibenden Wert, weil es Stückwerk ist. Sein Werk bleibt in vereinzelten Zeitungsartikeln, polemischen Notizen und fragmentarischen Betrachtungen zerstreut. Sieht man es genauer an, so entdeckt man sofort, dass die Möglichkeiten hier größer waren als die tatsächliche Leistung. Schon rein äußerlich betrachtet, fällt es auf, wie wenig gepflegt dieses Talent ist. Neben Stellen von bezwingender Schärfe — matte Satzbildungen und unbeholfene Konstruktionen. In seinem Stil gärt heute alles noch ebenso wie vor zwanzig Jahren. Es kommt nicht zur Klärung. Der Wein bleibt bis zum letzten Augenblick trübe.

In Ansehung der praktischen Politik — das nämliche Schauspiel. Diesem Politiker fehlt die letzte Salbung: die Fähigkeit, praktische Konsequenzen zu ziehen, die Ausdauer. Seine Politik hat Verstand, aber nicht die Nerven, die notwendig sind, um sich in der objektiven Wirklichkeit durchzusetzen. Der Wille erlahmt, nachdem der Kopf eine befriedigende Lösung gefunden hat. Auch hier hatte es bei einem Fragment seine Bewendung.

Zwei Umstände waren es, die das Lebenswerk Martows entstellten. Der eine lag außerhalb seiner Persönlichkeit, der andere in ihm selbst. In erster Linie ist Martow das Opfer der zersetzenden Einflüsse der Emigration geworden. Dies unstäte Leben in der Fremde, das sich zwischen Kaffeehäusern und Leihbibliotheken umhertreibt, das die buntesten Eindrücke über sich ergehen lässt, ohne einen festen Anhaltspunkt finden zu können, dieses oberflächliche In-Berührung-kommen mit fremden Kulturen und Sitten, diese schattenhafte Existenz im fieberhaften Zustand einer ewigen Erwartung: — Martow hat das alles bis zur Neige ausgekostet. Er hatte nicht die Europafähigkeit eines Plechanow, um sein Dasein in festumrissene Bahnen zielbewusst und arbeitsfreudig zu setzen. Es steckte ein gutes Stück Boheme in ihm, das die Arbeitskraft lähmte. Aber auch der asketische Willensdrang Lenins war ihm fremd, der sich nur ein einziges Ziel setzte, auf welches er unaufhaltsam lossteuerte, ohne je auf ein Nebengleis abzuschwenken. Lenin ist vom Geschlecht der Spartaner. Martow ist Epikuräer. Aber Epikureismus ist eine gefährliche Eigenschaft in der Verbannung. Wenn sie sich schon einem Dichter wie Heine recht unheilvoll erwies, um wie viel mehr gefährlich musste sie einer politischen Persönlichkeit wie Martow werden.

Doch noch ein anderes kommt hinzu: der Hamletismus dieser Natur. Das Intellektuelle herrschte in ihr vor. Wer zu viel Möglichkeiten sieht, entscheidet sich schwer für eine bestimmte. Die Welt ist mannigfaltig. Wehe dein, den diese Mannigfaltigkeit überwältigte! Die rote Farbe des Entschließens wird bei ihm stets vor des Gedankens Blässe weichen.

Solange bis die sozialdemokratische Bewegung sich noch in ruhigen Bahnen fortsetzte, bis es noch galt, Kräfte zu sammeln, konnte Martow mit den Forderungen des Tages Schritt halten. Seine Feder vollbrachte Nützliches, bis das Schwert in der Scheide blieb. Nun kam aber die große Sintflut. Niemand hat vielleicht so gut ihre Dimensionen erkannt wie Martow. Aber je mehr er auf dies Medusenhaupt schaute, um so ungeheuerlicher wurde ihm zumute. Mit jedem Tag standen schreckhaftere Gespenster vor seinen Augen, mit jedem Tag entsetzlichere Aussichten. Wer jemals zu jener Zeit diese etwas verwachsene, hinkende Figur gesehen, dieses blasse Antlitz, dies aufgeregte Auge, worin Verzweiflung glühte, — dem wird Martows Gestalt nie mehr aus dem Gedächtnis schwinden.

Furcht machte die Götter, lautet ein alter Spruch. Aber Politiker macht sie nimmer. Bei Martow war sie ausschlaggebend. Er trieb die Erkenntnis zu weit. Zuerst war es die Furcht vor der Konter-Revolution. Überall sah er ihre Fühlhörner schon ausgestreckt. Während andere handelten, blieb seine Tätigkeit auf Warnungsrufe beschränkt, — weil alles, was geschah, ihm nur die Reaktion zu stärken schien. Dann — je mehr die Revolution sich auflöste, je mörderischer der Klassenkampf wurde — , um so fürchterlicher wuchs ihm eine andere Gefahr herauf: die Gefahr der Zertrümmerung des Demokratismus, des Untergangs der proletarischen Bewegung im wilden Aufstand der unterschiedslosen Armut.

Martow kam in die Revolution mit einem gut klingenden Namen und mit unbestreitbarem Einfluss. Aber er wusste nichts damit anzufangen. Nichts ist schwankender, kläglicher, steriler als seine Haltung innerhalb der Revolution. Andere wurden ihren Ansichten untreu, indem sie als handelnde Personen in die Ereignisse eingriffen. Er wollte unter allen Umständen und um jeden Preis sich treu bleiben, indem er die Revolution untätig beobachtete, um schließlich als eine misshandelte Person aus ihr hervorzugehen. Andere wurden zu Werkzeugen der Geschichte, indem sie deren Widersprüche verkörperten, — ihn verwirrten diese Widersprüche so sehr, dass er gar nicht bemerkte, wie er unversehens zu ihrem Ballast geworden. So wurde es zum Schicksal dieses Politikers, außerhalb der aktuellen Geschichte zu bleiben, wie es zum Schicksal dieses Parteimannes geworden ist, außerhalb des Parteilebens zu bleiben. Die Rechten haben ihn stets als einen „halben" — und daher um so gefährlicheren — Bolschewisten betrachtet, während die Bolschewisten ihrerseits ihn als einen kompletten Konter Revolutionär verschrien haben. Den Gemäßigten waren seine Analysen zu scharf, den Radikalen seine Ahnungen zu gefährlich. Nun steht allerdings, wie Freiligrath sagt, der Dichter auf einer höheren Warte als auf der Zinne der Partei. Martow ist aber sein Lebtag kein Dichter gewesen. Wohl oder übel musste er sich auf die Zinne irgend einer Partei bequemen. Nur dass es die Partei des Zweifels und des Missmuts, der Nervosität und der Ohnmacht geworden ist. Eine derartige Partei konnte in der Revolution nicht bestehen. So schmolz die Zahl der Anhänger Martows immer mehr zusammen, bis ihm schließlich nur ein Häuflein Getreuer verblieb. Wahrlich, noch nie haben so vielversprechende Möglichkeiten ein so fruchtloses Ende gefunden.

Oktober 1917 pfiffen schon alle Spatzen auf den Dächern Petersburgs von der bevorstehenden Umwälzung. Am hellichten Tag traf Lenin seine Vorbereitungen, um die Regierung Kerenskis auseinander zu jagen und jene Macht zu ergreifen, die sich schutzlos dem ersten Besten preisgab. Nur eines hätte ihn damals — vielleicht — hindern können: rücksichtslose militärische Diktatur, Zusammenschluss aller Ordnungsparteien, d. h. nackte hüllenlose Diktatur des Bürgertums, die an Stelle der früheren — durch die Koalition mit dem gemäßigten Sozialismus verhüllten — treten sollte. Aber vor einem derartigen Ausweg schreckten selbst die leidenschaftlichsten Anhänger der Koalition mit dem Bürgertum zurück. Um so mehr als Martow dieser Koalition immer abhold gewesen. Aber jene Anhänger taten immerhin ein anderes. Sie organisierten mit bewaffneter Hand — und so gut es eben ging — die antibolschewistische Bewegung. Und was tat Martow? In dieser Stunde der Entscheidung protestierte er feierlich gegen das „gefährliche Experiment" Lenins, wandte sich aber gleichzeitig von der organisierten Aktivität des Antibolschewismus ab, weil er auch ihre Gefahren vorauszusehen glaubte.

Zwei Möglichkeiten blieben ihm und seinen Anhängern offen: Entweder als Oppositionspartei innerhalb der neuen Staatsform sich — zumindest versuchsweise — einzurichten, und den Willen der klassenbewussten Arbeiterschalt, sofern sie nicht in den unterschiedlosen Massen der Soldateska und des Lumpenproletariats untergegangen ist, zu vertreten, — oder aber das Gewicht seiner Autorität auf die andere Waagschale zu werfen, um eine möglichst kurze und schmerzlose Erledigung jenes „Experiments" wenigstens zu inaugurieren. Was tat Martow? Weder das eine noch das andere. Grollend trat er zurück, um in witzigen und scharfsinnigen Artikeln den Bolschewismus zu kritisieren. Aber was konnte die Waffe der Kritik gegen jene Kritik der Waffen, die der Bolschewismus rücksichtslos ausübte? Bestenfalls konnte sie für ein Zeichen intellektueller Überlegenheit gelten, während es doch um weltgeschichtliche Kraftentfaltung ging.

Martow und Lenin sind Altersgenossen. Fast gleichzeitig kamen sie — 1900 — nach Genf. Zusammen vertraten sie die russische Bewegung Plechanow gegenüber, der das ausländische Zentrum der Partei war. Seitdem gingen sie eine zeitlang nebeneinher. Beide waren sie in der Redaktion der , Iskra" („der Funke") tätig, jener illegalen Zeitung, die bis 1904 die ideologische Führerin der russischen Sozialdemokratie gewesen ist Gemeinschaftlich legten sie den Grundstein des ganzen späteren Parteiaufbaus fest. Aber zwei entgegengesetztere Naturen kann man sich kaum denken. Ihre Wege mussten auseinander gehen. Als sich die russische Sozialdemokratie spaltete, waren sie von vornherein zu Führern der beiden gegensätzlichen Richtungen bestimmt Jeder kam dorthin, wohin ihn seine ganze Anlage trieb. Martow war der gegebene Lenker des Menschewismus. Nutzbarmachung aller legalen Möglichkeiten, umsichtiger Aufbau der Organisation, allmähliches Fortschreiten, das alles lag Martow wie keinem andern. Mit beißender Ironie bekämpfte er die umstürzlerische Besessenheit des Andern, machte sich über seine geschichtlichen Prognosen lustig, verhöhnte seine Theorien von der Machtergreifung. Und doch hat er nie gewusst, worin die Stärke seines Gegners lag, während der andere seine Schwächen mit nüchternem Blick einschätzte. Jener hatte für die polemischen Waffengänge seines Widerparts achselzuckende Geringschätzung: er wusste, dass die Stunde kommen würde, in der elementare Gewalt die Oberhand bekäme, in der nicht der Feine, sondern der Robuste siegen würde. Martow hat teuer jene Selbsttäuschung bezahlt, die ihn glauben ließ, dass der Vorsichtigere eben darum der Erfolgreichere sei. Er ist dieser Täuschung bis zum letzten Augenblick erlegen. Vielleicht wäre seine ganze Haltung dem Oktober-Umsturz gegenüber eine andere gewesen, wenn nicht jene psychologische Befangenheit in Ansehung eines Gegners, den er gut zu kennen glaubte und für den noch die alten Kampfmethoden ausreichen sollten. — Wie? Dieser selbe Mann, dessen Theorien so hirnverbrannt in Genf klangen, sollte nun wirklich die Geschicke des größten Imperiums lenken? Dieser selbe Mann, dessen Forderungen man vor dem Auditorium Züricher Studenten so leicht ins Lächerliche zog, sollte nun wirklich der Gesetzgeber einer millionenfachen Bevölkerung werden? — Welche Ausgeburt satirischer Phantasie!

Nun ist Martow wieder zum Ausgangspunkt seiner Irrfahrten zurückgekehrt Von neuem schreibt er ätzende Artikel gegen die russischen Gewaltherrscher. Von neuem unterweist er seine Freunde, wie sie am schlausten die Blößen nutzbar machen, die sich jene Herrscher geben. Und da er nunmehr wieder in seinem Element ist, nimmt sein Ansehen von neuem zu. Die zersprengten Scharen seiner Anhänger sammeln sich wieder unter dem Banner seiner Kritik.

Aber, ob ihm diese neue Popularität auch wirklich genügt? Unmöglich kann dieser scharfsinnige Analytiker übersehen, wie macht- und wirkungslos seine nunmehrige Anhängerschaft ist. Sie ist kein Ersatz für die schönen Tage von Aranjuez, da Martow an der Spitze einer auf blühenden Bewegung stand. So dürfte es auch nicht wundernehmen, wenn er nochmals vor jene Entscheidung kommt, an der er einmal achtlos vorüberging: die Führung einer Oppositionspartei innerhalb des sowjetistischen Staates zu übernehmen. Sollte dieser einmal dazu kommen, seine demokratische Grundlage erweitern zu müssen und das Monopol der Bolschewistenpartei wenigstens einzuschränken, so wäre Martow der gegebene Mann, um unter veränderten Verhältnissen der Parlamentarisierung der Sowjets entgegenzukommen. Wer weiß, ob diese Möglichkeit ihm selbst nicht die willkommenste wäre?

Nun, das wird jetzt niemand mehr in Erfahrung bringen: Martow ist in jenes Land dahingegangen, aus dem — um mit Hamlet zu sprechen — kein Wanderer zurückkehrte. Sein Porträt ist ein Nachruf geworden.


Teurer O. W.!

Wie seltsam es auch sein mag, so hat weder ich noch Fjedor Iliijtsch (Dan) den „Wissenschaftlichen Gedanken" zu Gesicht bekommen, und da man ihn hier im Auslande nirgends auftreiben kann, so täten Sie sehr gut, wenn Sie uns die Zusendung von ein paar Exemplaren veranlassen würden.

Welche sind Ihre Hoffnungen auf die Zukunft? Kann man annehmen, dass es Ihnen gelingen wird, auch im weiteren derartige Sammelwerke herauszugeben? Obwohl unser hiesiges Unternehmen, das Sie kennen, geht und sogar eine Ausbesserungstendenz aufweist, so genügt es doch nicht: es bedarf noch zur Unterstützung zumindest „starker" Sammelbände, wenn nicht einer periodischen Zeitschrift.

Gegenwärtig bin ich in Genf, muss aber morgen abreisen, ohne G. W. abwarten zu können, der nach etwa vier Tagen herkommt. Es wäre sehr gut, wenn ich das Honorar für meinen Artikel im „Wissenschaftlichen Gedanken" noch vor meiner Abreise von Paris, also bis zum 15.-20. Mai neuen Stils, bekommen könnte: Ich muss für den Sommer nach Genf übersiedeln und es ist notwendig, dass ich hierzu alles, was ich inzwischen verdient habe, mobilisiere, um nicht zahlungsunfähig dazustehen. Ergreifen Sie also die diesbezüglichen Maßnahmen, so werden Sie ein gutes Werk tun.

Kürzlich hat sich in Paris der Salon der „Independants" eröffnet: Meine Feder ist außerstande, Ihnen den Idiotismus alles dessen zu beschreiben, was man zu sehen bekam. Die Dekadentensäle im Herbstsalon gaben nur einen schwachen Vorgeschmack.

Haben Sie das philosophische Sammelbuch der Bolschewisten über Marx gelesen?

Mit Handdruck
J. Zederbaum.


Die Post bringt eine Karte ins Haus: „Durch die Tagespresse läuft die Nachricht, wonach der Führer der russischen Menschewisten J. Martow in einem Sanatorium im Schwarzwald gestorben ist. Daraus wird für Sie vielleicht die Notwendigkeit folgen, die Abhandlung über Martow etwas zu ergänzen. Soll ich Ihnen diesen Teil des Manuskriptes wieder zuschicken?"

„Nein, schicken Sie ihn mir nicht zu! Was ich über den lebenden Martow gesagt habe, müsste ich auch über den toten wiederholen. Der Tod ist ein grausamer Geselle. Er verschönert seine Opfer nicht. Und außerdem: nec quae praeteriit iterum revocabitur unda . . ."

Dieses Leben liegt jetzt abgeschlossen vor uns. Seine Möglichkeiten sind erschöpft. Kein neuer Spross wird mehr diesem Baume erblühen. Und doch kommt dieser Tod entweder zu früh — oder zu spät. In diesem Übergangsstadium der russischen Geschichte, auf dem Martow zur Passivität verurteilt war, scheidet er von seiner Zeitgenossenschaft im Zwielicht, welches seine Gestalt entstellt. Ihm wäre es gegeben, von neuem hell zu strahlen, wenn die Stunde der Besinnung käme.

Er starb im Exil. Welche Visionen mochten sein Sterbelager umstellt haben? November 1923 wäre er fünfzig Jahre alt geworden. Davon diente er etliche dreißig der Weltanschauung, die seine Generation eroberte und emporhob. Saß ein halbes Dutzend mal in Gefängnissen, verbrachte drei Jahre ( 1897-1900) in Turuchansk, der unwirtlichsten Gegend Ost-Sibiriens, aß jahrzehntelang das bittere Brot der Verbannung, erlebte ein kurzes und flüchtiges Vorgefühl der Erfüllung, um dann enttäuscht, verbittert, misshandelt von neuem in die Verbannung zu gehen. Und eine karge Pressenotiz gibt nun die letzte Kunde von diesem Leben, das in einem Sanatorium im Schwarzwald sein Ende nahm . . . Durch die Tagespresse läuft die Nachricht . . .

„Ein leidenschaftlicher Leser alles dessen, was man über die Revolutionen aufschreiben konnte, fand ich mein Ideal des Revolutionärs in Robespierre und St. Juste, deren Reden ich gut kannte."

So heißt es in den Aufzeichnungen Martows. Zu diesem Ideal blieb sein Verhältnis ein platonisches. Es war jünglinghafte Selbsttäuschung. Weder als Robespierre noch als Saint Juste machte er seinen Weg. Von den Helden der französischen Revolution steht er am nächsten Lamartine, der ebenfalls mehr Intellekt war als Wille — freilich liegt zwischen Beiden eine Zeitspanne von hundert Jahren — und der Abgrund einer Kultur.