Vierte Fortsetzung

Jetzt, nachdem die vorläufige Entwicklung sich übersehen lässt, scheinen die Führer der Oktober-Revolution ebenfalls diese Ansicht zu gewinnen. „Die Eroberung und Behauptung der Macht durch die Arbeiterklasse, schreibt L. Trotzki (vgl. Russische Korrespondenz, Jahrgang III, Bd. 2, S. 733), wurde erkauft um den Preis einer raschen und schonungslosen Zero Störung des gesamten bürgerlichen Apparats der Wirtschaftsleitung von oben bis unten, sowohl in den einzelnen Betrieben, als auch im ganzen Lande." Damit berührt Trotzki den Kernpunkt des ganzen Problems. Allerdings, indem er es auf den Kopf stellt: die „Zerstörung des gesamten Apparates der Wirtschaftsleitung von oben bis unten" war keinesfalls der „Preis" der „Eroberung und Behauptung der Macht durch die Arbeiterklasse", sondern deren Voraussetzung. Eine Partei, die in verschwindender Minderheit war, konnte im Namen der Arbeiterklasse die Macht erobern und behaupten, weil der Verfall der bürgerlichen Wirtschaftsordnung Bedingungen geschaffen hat, die den weiteren Bestand der Gesellschaft nur auf Grundlage einer primitiven Raubt und Aufteilungswirtschaft zuließen.

Den „Kommunismus" der ersten Periode der Oktober-Revolution nimmt nunmehr Trotzki selbst in Klammern und schreibt darüber wie folgt: „Die Verteilung der Lebensmittel und anderen Konsumartikel nahm die Form einer Ausgabe nivellierender Staatsrationen an, die von der Qualifizierung und Produktivität der Arbeit fast ganz unabhängig waren. Dieser „Kommunismus" erhielt mit Recht den Namen Kriegskommunismus, nicht nur weil er die wirtschaftlichen Methoden durch militärische ersetzte, sondern auch weil er in erster Linie militärischen Zwecken diente. Es handelte sich nicht darum, eine planmäßige Entwicklung der Wirtschaft unter den entstandenen Verhältnissen zu sichern, sondern darum, die Verpflegung der Armee an den Fronten sicherzustellen und die Arbeiterklasse vor dem Aussterben zu bewahren. Der Kriegskommunismus war das Regime in einer belagerten Festung." (A. a. O., S. 733.) Auch hier beschreibt Trotzki die Tatsachen vollkommen zutreffend. Aber er irrt, wenn er meint, dass sie sich ausschließlich auf den Bürgerkrieg zurückführen lassen. Der „Kriegskommunismus" war vor allem ein Versuch, den Sozialismus durchzusetzen, den man sich und andern schuldete. Aber da man ebenso außerstande war, den Sozialismus einzuführen, wie das Bürgertum seinerzeit außerstande war, den Kapitalismus weiterzuführen, so war man gezwungen, zu jener Form des Sozialismus die Zuflucht zu nehmen, die durch die gegebenen Verhältnisse allein angängig war.


1920 trat dann die notwendige Wendung ein. Alle Vorräte waren verbraucht und aufgezehrt, die Produktionsmittel lagen brach da, jede weitere Aufteilung war unmöglich. Nun stand man vor der Notwendigkeit, die Produktionsverhältnisse von neuem aufzubauen. Und es blieb der Regierung nichts anderes übrig als jenen Weg von neuem einzuschlagen, den man 1917 verlassen hatte: den Weg der kapitalistischen Entwicklung.

Das war der Sinn des neuen Kurses der ökonomischen Politik Sowjet Russlands, der vor etwa zwei Jahren inauguriert wurde. Betriebe verpachtete man an Privatunternehmer, in der Landwirtschaft förderte man den persönlichen Eigennutz. Man erklärte sich bereit, ausländischen Kapitalisten Konzessionen zu erteilen, man suchte das Privatkapital auf privatkapitalistischer Grundlage zum Aufbau Sowjet-Russlands heranzuziehen. Auf dem 12. Parteikongress der Russischen Kommunistischen Partei konnte Sinowjew unlängst mit Genugtuung feststellen, dass „zurzeit 400 ausländische Konzessionsbewerbungen" vorlägen, „darunter 56 amerikanische, 55 englische, 50 französische". (Vgl. „Vossische Zeitung", erstes Morgenblatt vom 19. April 1923.)

Allerdings geschieht dieser Übergang zu kapitalistischen Wirtschaftsmethoden nicht vorbehaltlos. Der Regierung schwebt ein Plan kombinierter Staats- und privatkapitalistischer Wirtschaft vor. Der Staat erklärt sich zum Besitzer und Leiter bedeutender Wirtschaftszweige, die dann, nachdem der wirtschaftliche Aufbau vollendet sein wird, zum Ausgangspunkt einer neuen kommunistischen Wirtschaftsordnung werden soll. „Der Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie, bemerkt Trotzki (a. a. O., S. 735), wird abgelöst durch die Konkurrenz zwischen der proletarischen Industrie mit der bürgerlichen."

Das ist die zweite große Illusion, die den ideologischen Überbau der letzten Entwicklungsphase der Revolution liefern soll. Und diese Illusion wird ebenso beim Zusammenstoß mit der Wirklichkeit zerstieben, wie die erste zerstoben ist, beim Versuch, Russlands Wirtschaft sozialistisch zu organisieren. Schon die Vorstellung von der Möglichkeit des Zusammenwirkens zweier disparater Wirtschaftsformen im Rahmen einer und derselben Staatsordnung ist wahnwitzig. Sie wirkt aber wie eine lächerliche Utopie, wenn man sie an Hand der tatsächlichen Verhältnisse prüft. Allerdings schreibt Trotzki mit unerschütterlicher Seelenruhe die folgende Bemerkung nieder: „Es liegt absolut kein Grund für die Annahme vor, dass die staatliche Akkumulation langsamer vor sich gehen werde als die privatkapitalistische, und das Privatkapital somit als Sieger aus dem Kampf hervorgehen werde." Betrachtet man aber die tatsächlichen Verhältnisse, so ergibt sich von selbst gerade das Gegenteil: alle Gründe sprechen dafür, dass der Staatskapitalismus in diesem Kampfe absolut nicht konkurrenzfähig ist.