Fünfte Fortsetzung

Unter den gegebenen Verhältnissen bedeutet Staatskapitalismus soviel als: Kapitalismus, bei dem der Staat ungeheuer viel drauf zahlen muss. Seine Leistungen müssen auf jeden, der ihn ohne Voreingenommenheit betrachtet, entmutigend wirken. Seine Produktivität ist erschreckend niedrig. Und was er produziert, verursacht ihm gewaltiges Defizit. Nehmen wir beispielsweise die Metallindustrie, die gegenwärtig die Grundlage des sowjetrussischen Staatskapitalismus bildet. Die Metallindustrie gehörte zu den wenigen Wirtschaftszweigen, die während des Krieges nicht zurückgegangen, sondern stark gewachsen sind. Gegenwärtig ist sie hingegen bis zu kläglicher Unansehnlichkeit zusammengeschrumpft. Auf dem Gebiete der metallurgischen Produktion fällt dieser Rückgang besonders auf. Die Produktion von Roheisen zum Beispiel, die sich im Jahre 1913 auf 256,8 und noch im Jahre 1917 auf 184,5 belief, stellte sich in den ersten neun Monaten des Jahres 1922 auf 7,9. Während 1913 609 und noch 1917 409 Lokomotiven hergestellt wurden, wurden in den genannten Monaten des Jahres 1922 81 Lokomotiven geliefert. Noch viel bedeutsamer als dieser Rückgang der Produktion ist ihre absolute Unrentabilität. Die Hauptstelle für landwirtschaftliche Maschinen zum Beispiel, die doch einen Wirtschaftszweig leitet, dessen Absatzmöglichkeiten enorm sind, musste im ersten Vierteljahr 1922/23 neben 1.114.218 Rbl. (Emission 1922) Ausgaben 128.048 Rbl. Einnahmen buchen, d. h. ein Defizit von 988.170 Rbl., oder etwa 85 %. „Unter den Unternehmungen der Metallindustrie, schreibt S. Weizmann, befindet sich zur Zeit kein einziges, das einen Überschuss aufzuweisen hätte. Die Fehlbeträge schwanken zwischen 5 % und 900 % bei einem Gesamtdefizit von 14.708.238.600 Rbl." ( Vgl. „Der gegenwärtige Stand der Metallindustrie", Russische Korrespondenz, III, 2, S. 773.) In der gleichen Lage befindet sich die Elektroindustrie. Sie arbeitet ebenfalls mit einer erschreckenden Unterbilanz. Es hat keinen Zweck, die einschlägigen Zahlen hierherzu setzen. Selbst die offiziellen Publikationen der Leiter sowjet-russischer Wirtschaftspolitik weisen übereinstimmend auf Unterproduktion und Unterbilanz der staatlichen Industrie hin. Solches darf niemanden Wunder nehmen. Der Staatskapitalismus kann sich unter Umständen dort erfolgreich entwickeln, wo er hochwertige privatkapitalistische Unternehmungen übernimmt. Hingegen muss er überall, wo er sich erst anschickt, die Unternehmungen auszubauen, — zumal innerhalb eines allgemeinen Wirtschaftschaos — den kürzeren ziehen. Wie lange die Utopie von einem Konkurrenzkampf zwischen proletarischer und privater Industrie noch vorherrschen wird, ist schwer zu bestimmen. Aber eines unterliegt keinem Zweifel. Nicht diese Utopie ist es, was die Richtungslinien der neuen ökonomischen Entwicklung Sowjet Russlands bestimmt, sondern das nackte Bedürfnis, den Kapitalismus von neuem herzustellen, nachdem er 1914/1917 in Trümmer gegangen ist.

Somit ist die Entwicklung der Revolution bei ihrem Ausgangspunkt angelangt und beginnt von neuem dort den Faden weiterzuspinnen, wo er seinerzeit auseinandergerissen wurde. Und es ist eine blutige Ironie der Weltgeschichte, dass eben dieselbe Regierung, die auf den Ruinen des Kapitalismus ihre Herrschaft aufrichtete, die die soziale Machtlosigkeit der Bourgeoisie zur Grundlage der eigenen Gewaltherrschaft machte, die den Zerfall der Wirtschaftsordnung zur Aufstellung der Diktatur des Proletariats ausnützte, nunmehr gezwungen ist, mit eigenen Händen die Bedingungen für privatkapitalistische Wirtschaft wiederherzustellen.


Sechs Jahre, die nach 1917 übers Land gingen, haben das Antlitz des ehemaligen russischen Imperiums, haben seinen ganzen sozialen Aufbau von Grund aus verändert. Bitter hat sich die soziale Rückständigkeit, die verspätete Entwicklung Russlands gerächt. Es war, als ob die Geschichte dieses Reich in den Zustand elementarer Auflösung versetzen wollte, damit es seine Entwicklung von neuem beginne.

Sie hat sich dabei jener Macht bedient, die bis dahin in Knechtschaft und Ergebenheit außerhalb der geschichtlichen Entwicklung zu stehen schien. In langen Jahrhunderten blieb das russische Volk stumm. Es nahm unerhörte Leiden auf sich, Pest und Hungersnot, Versklavung und Verwilderung, ohne Sprache und Mut zu finden, die es hätten befreien können. Andere haben versucht, sich seiner Sache anzunehmen, — aber was vermochten sie auf diesen unermesslichen Ebenen zu tun, auf denen man tagelang reisen konnte, ohne menschlicher Behausung zu begegnen? Was war zu tun angesichts der Stummheit, die alles Leid wie eine Prüfung des Himmels hinnahm? Eine gewaltsame Erschütterung musste kommen, um dieses Volk aufzurütteln und in den Feuerkessel der Geschichte zu werfen.

Diese Erschütterung war der Krieg. Er warf alles durcheinander. In die entlegensten Ortschaften streckte er seine Fühler aus, brachte dieses Volk, das in dumpfer Abgeschlossenheit lebte, auf die breiten Straßen des Welt-Verkehrs, zeigte ihm Schätze, von denen ihm bis dahin nur Märchen erzählten, lehrte es morden und sengen, offenbarte ihm das große Geheimnis der Massenkraft. Nun bekam dieses Volk die Sprache wieder. Aber es waren nur unartikulierte Laute, die es ausstieß, weil es noch nicht gelernt hatte, zu sprechen. Andere versuchten für das Volk zu sprechen, — wie sie früher versucht haben, an seiner Statt zu handeln. Aber was konnten diese Anwälte seines Rechts angesichts des schrecklichen Rausches seiner neu erworbenen Freiheit? Sie waren entweder zu zahm oder zu hinterlistig, entweder zu gelehrt oder zu gewissenhaft, um sein Vertrauen zu gewinnen.

Von den vielen politischen Parteien, welche die Revolution in ihre Netze einfangen wollten, konnte sich keine einzige — mit Ausnahme der Partei der Bolschewisten — im Sattel halten. Je weiter die Revolution fortschritt, je höher der Rausch stieg, in dem das Volk schwelgte, um so mehr beschlich diese Parteien das Gefühl jenes Zauberlehrlings, der unheimliche Kräfte beschworen hat und sie nicht mehr los werden kann.

Die Partei der sogenannten Kadetten, d. i. der konstitutionellen Demokraten, fiel von vornherein von der Waagschale der Geschichte. Sie vertrat das nackte, eigennützige, kurzsichtige Interesse des großen Besitzes und benahm sich im verworrenen Handgemenge der Revolution mit der täppischen Unbeholfenheit eines Bärenführers. Sie hatte für die selbständigen Probleme der Revolution, für die eigenartigen Gesetze ihres Werdens ebenso wenig Verständnis wie für die unmittelbaren praktischen Aufgaben der Stunde. Gleichsam als ob sie nicht von Professoren, sondern von biederen Weinreisenden geleitet wäre.

Auch die beiden andern Parteien, die während der ersten Phase der Revolution in die Höhe kamen — die Sozial-Revolutionäre und die Sozialdemokraten — waren ihren Aufgaben nicht gewachsen. Es waren Parteien der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Intellektuellen, die sich mit dem Volk verbinden wollten, aber mit unzähligen Vorurteilen und psychischen Hemmungen nicht gerechnet hatten, die einer solchen Verbindung im Wege standen. Mit jeder Stunde wurde die Kluft tiefer, die sie von dem Volk trennte. Sie versuchten sich der rasenden Aufbäumung seiner Wünsche und Leidenschaften entgegen zu stemmen, mit demselben Erfolg, mit dem sie einen Wasserfall mit dem Regenschirm aufhalten könnten. Denn im Hintergründe lauerte jene andere Partei, deren Vorhandensein ihre Bemühungen dem Volke besonders verdächtig und hassenswert machte: die Partei der brutalen Reaktion. Sie schien immer von neuem ihr Haupt erheben zu wollen und drohte alle Errungenschaften dieser kurzen Periode der Seligkeit mit einem Schlage zu vernichten. Das Volk fühlte instinktiv, dass sie mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müsste. Denn was immer auch kommen mochte, schien ihm besser und willkommener als die erzwungene Rückkehr zur früheren Stummheit. Das Gespenst der Anarchie, des Auseinanderfallens aller staatlichen Bande, aller sozialen Daseinsbedingungen schreckte das Volk nicht ab. In Jahrhunderten seiner Erniedrigung, die nur durch Branntwein und Tränen gemildert wurde, hatte es sich an Anarchie gewöhnt. Sein Analphabetentum empfand keinen Respekt vor der Kultur, und auch kein Bedürfnis nach ihr. In seinen dunklen, elenden Hütten hatte es sich ein dunkles, elendes, chaotisches Weltbild zurecht gemacht: warum sollte es vor allgemeinem Dunkel, Elend, Chaos zurückschrecken?

So konnte der Bolschewismus das Feld behaupten. Er versuchte aus russischer Not eine welthistorische Tugend zu machen. Das war der große Wurf seiner Gedanken. Aber die Not war größer als die Tugend. Und der Not gehorchend — wahrlich mehr als dem eigenen Triebe — wird jetzt der Bolschewismus jene Arbeit verrichten, die ihm wahrscheinlich nicht im Traume einfiel, als sich der erste Erfolg an seine Fahnen heftete. Nun, es war ja niemand anderes als Karl Marx, der die Behauptung aufstellte, man solle politische Parteien nicht nach ihren subjektiven Meinungen bei urteilen, sondern nach ihrem objektiven Tun und Lassen, nicht nach ihrer Etikette, sondern nach dem wirklichen Gehalt ihrer Handlungen.

Doch dem sei wie ihm wolle. Es bleiben immer noch Menschen übrig, die mit ihren Begabungen, ihrem Temperament, ihren Eigenschaften in die Geschichte eingreifen und sie zu leiten versuchen. Diese Menschen treten in Revolutionen besonders scharf ausgeprägt hervor. Sie sind es, die uns den psychologischen Überbau der Revolution erraten lassen. Gewiss, sie sind nicht die Revolution. Sie sind ihr psychisches Beiwerk, ihre wollenden Träger. Sie prüfen heißt nicht die Revolution als solche prüfen, wohl aber das Menschenmaterial, welches die Revolution in einem gegebenen Land unter gegebenen Verhältnissen vorfindet, um ihre objektiven Ziele durchzusetzen.