Dritte Fortsetzung

Am 1. April 1917 wurde ein besonderes Komitee zur Vorbereitung der Agrarreformen gegründet. Klang schon der Name dieser Behörde höchst akademisch und wenig vertrauenerweckend in den Ohren des Volkes, so wirkte seine Tätigkeit geradezu aufreizend. Es forderte die Bauernschaft auf, sich so lange von eigenmächtigen Eingriffen zu enthalten, bis es seine Pläne ausgearbeitet haben würde. Aber Wochen und Monate vergingen, ohne dass auch ein Schimmer des Verdachts aufkommen konnte, dass das Komitee irgend welche praktischen Pläne durchzuführen bereit war.

Der Krieg dauerte an, ob man schon gleich den Eindruck hervorrufen wollte, als sei man außerordentlich friedfertig. Im Juni versuchte man sogar eine Offensive, die allerdings mit einem niederschmetternden Misserfolg endete. Am 21. August musste man Riga räumen und der Feind bedrohte bereits die Hauptstadt der Revolution. Die Einberufung der konstituierenden Versammlung verschleppte sich von einem Monat zum andern, wiewohl man sie in allen Tonarten pries und von ihr alles Heil erwartete. Die Außenpolitik der Koalitionsregierung unterschied sich in keinem Tüpfelchen von jener ihrer bürgerlichen Vorgängerin. Dieselbe treue Landsknechtschaft in Ansehung der Verbündeten, dieselben doppelzüngigen Friedensprogramme, dieselbe Ideologie des Krieges bis zum siegreichen Ende, — wenngleich etwas sozialpatriotisch übertüncht.


Dieser Schrecken ohne Ende musste ein Ende mit Schrecken nehmen. Es bedurfte keiner gewaltsamen Revolution, keines Aufwands militärischer Machtmittel, keines langwierigen Kampfes, um die Koalitionsregierung wegzufegen. Die erste beste Partei, die erste beste Versammlung Kronstädter Matrosen, die erste beste Gesellschaft von Privatpersonen, die auf den Einfall käme, die provisorische Regierung für abgesetzt zu erklären, hätte sie ohne Schwertstreich erledigt. Sie hat sich selbst lächerlich und verhasst gemacht. Alles schien den breiten Volksmassen besser und verlockender als diese elende Wirtschaft, dieses ewige Gerede, diese heuchlerische Gesinnungstüchtigkeit. Am 26. Oktober erfolgte das Unvermeidliche. Soldaten, Matrosen und Arbeiter bemächtigten sich der provisorischen Regierung, und auf ihren Trümmern erhob sich die Herrschaft der einzigen Partei, die im Laufe der vorhergehenden Monate sich nicht aufgebraucht hatte: der Partei der Bolschewisten. Diese Partei bekämpfte die Koalition und schlug immer tiefere Wurzeln im Volke, je mehr sich die Koalition in seinen Augen diskreditierte. Was sie mitbrachte war Bereitschaft, den Auflösungsprozess, der auf alle Fälle unabwendbar war, vollinhaltlich durchzumachen und zum Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung zu erheben. Mit ihrer Herrschaft beginnt die dritte Periode der Revolution.

Als Regierungsmacht stellten die Bolschewisten weder irgend eine bestimmte Klasse noch irgend eine bestimmte gesellschaftliche Schicht dar. Sie hatten wohl selbst diese Empfindung, indem sie sich als Regierung des Proletariats, der Dorfarmut und der Soldaten bezeichneten. Welch verschwommene Definition, welch nebelhafte Kategorien, — wenigstens wenn man sie als Grundlage und Rechtsquelle der Regierungsform angibt! Aber wer konnte sich in Russland der Herrschaft bemächtigen, nachdem sie den Händen des bürgerlichen Liberalismus und des kleinbürgerlichen Demokratismus entglitten war? Die Staatsgewalt konnte nur in die Hände jener buntscheckigen Masse übergehen, die der Bourgeoisie nicht im Produktions-, sondern im Konsumtionsprozess gegenüber steht. Die Nachfolge der politischen Formen musste sich nicht auf die natürliche Reihenfolge der Klassenbeziehungen stützen, sondern auf das viel allgemeinere Merkmal der sozialen Ungleichheit überhaupt. In diesem Sinne erschien die bolschewistische Regierung als rechtmäßige Vertreterin der sozialen „Tiefen" als solchen. Sie stützte sich nicht auf eine bestimmte Klasse, sondern auf das „Elend" schlechthin. In ihr erhob sich das ganze barbarische, hungrige, barfüßige, unwissende Russland. Sie entstand aus der sozialen Auflösung, die der Krieg brachte, und der wirtschaftlichen Zerrüttung, welche die Revolution herbeiführte.

Das Programm des Bolschewismus war ein sozialistisches Programm. Es enthielt alles, was die sozialistischen Parteien aller zivilisierten Länder sich als Ziel steckten, seitdem im „Kommunistischen Manifest" von Marx und Engels die theoretische Begründung des Klassenkampfes der Proletarier gegeben wurde: Expropriation der Expropriateure, Vergesellschaftung der Produktionsmittel, Abschaffung der Klassen. Und sie ergriffen die Herrschaft in dem zuversichtlichen Bewusstsein, dass die Epoche des Sozialismus nunmehr praktisch begonnen habe. Es fehlte nur noch eine Kleinigkeit: die Weltrevolution. Aber diese musste über Nacht ausbrechen, und dann würde Russland vereint mit den höher entwickelten Kulturen des westliehen Proletariats alle Schwierigkeiten seiner eigenen Rückständigkeit ohne weiteres überwinden können.

Aber die neue Regierung beschränkte sich nicht auf programmatische Erklärungen. Die ganze Perspektive ihrer sozialen Pläne und Voraussichten behielt sie für sich. Dem Volk brachte sie Taten. Sie erhob seine Kriegsunwilligkeit zur staatlichen Tugend. Sie machte seinen Hass gegen die besitzenden Klassen zur Regierungsmaxime. Die Februar-Revolution versuchte sich mit Hilfe eines scheinbaren Burgfriedens zu halten. Die Revolution vom Oktober entfesselte einen regelrechten Bürgerkrieg. Er war die unvermeidliche Folge jenes Friedens. Nach der Vernichtung der alten Staatsform, nach der Auflösung des Wirtschaftslebens, nach dem Zerfall der Heeres-Organisation musste eine Periode gewaltsamer Erschütterungen eintreten. Der Zusammenbruch der bürgerlichen Parteien, die Unmöglichkeit, eine bürgerliche Revolution durchzusetzen, bedeuteten soviel, als dass die dünne Schicht des Kapitalismus, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts um Russland gelegt hatte, durchbrochen wurde. Aber diese Schicht war eben zu dünn, so dass der Durchbruch keine Weiterentwicklung des Kapitalismus auf eine höhere Stufe bedeutete, sondern einen Rückfall zur alten Vorherrschaft der Landwirtschaft. Dies war der ganze soziale Sinn der Oktober-Revolution. Programme, Schlagworte, Überzeugungen ihrer Führer waren aus höher entwickelten Ländern importiert und mussten herhalten, um den ideologischen Oberbau der Umwälzung abzugeben.

Die Wirklichkeit war jedoch zwingender als persönliche Überzeugungen. Was die Oktober-Revolution unter Sozialismus verstand und betätigte, entsprach in keiner Weise jenen Vorstellungen, die mit diesem Begriff in kapitalistischen Ländern verknüpft werden. Auf industriellem Gebiete war es Verbrauch aller Restbestände und Vorräte, die der Kapitalismus bei seinem Zusammenbruch hinterlassen hatte. In der Landwirtschaft — Aufteilung des Bodens, die auf die Landbevölkerung nicht in kommunistischer, sondern in individualistischer Richtung wirkte.

Politisch, staatsrechtlich gab sich die bolschewistische Partei als Vertreterin des Proletariats. Aber der tatsächliche soziale Gehalt ihres Wirkens stempelte sie zur Vollstreckerin jener Rückverwandlung Russlands in einen Agrarstaat, die der Zusammenbruch des Kapitalismus im Krieg und in der Revolution verursachte. Die erste Periode der Oktober-Revolution war nichts anderes als konsequente Durchsetzung dieser Rückverwandlung. Sie dauerte bis 1920 an.