Russische Auswanderer aus Deutschland.

Aus: Daheim – ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen. 1877
Autor: Redaktion, Erscheinungsjahr: 1877

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Sekten, Sektierer, Preußen, Auswanderer, Religion, Lebensverhältnisse, Schisma, Philipponen, Kolonien, Altgläubige, Volksklassen, Sektenbildung, Heimat, Kriegsdienst, Priester, Sakramente,
Nur sehr wenigen unserer Leser dürfte bekannt sein, dass unsere russischen Mitbürger im Begriff sind, uns zu verlassen, und die Zahl derjenigen, welche wissen, dass wir bisher welche hatten, mag nicht viel größer sein. In der Tat, die Personen, von denen wir heute zu sprechen haben, sind sehr wenig bekannte Leute, und das ist ihnen selbst gerade recht, da sie gegen die Öffentlichkeit eine ausgesprochene Abneigung haben. Trotzdem sind sie nicht uninteressant, und es lohnt sich wohl der Mühe, ihnen vor ihrem Abzug näher zu treten.

Als in den Jahren 1795-1806 ein Teil des heutigen Russisch-Polen zu Preußen gehörte, befanden sich unter den neuen Untertanen des Königs auch ganze Kolonien von Personen, die ihre Zeit aus Russland nach Polen geflohen waren, um sich Verfolgungen zu entziehen, die mit ihren religiösen Überzeugungen im Zusammenhange standen. Für uns kommen namentlich zwei derselben in Betracht, die sich in der damaligen Wojewodschaft Awgustowo befanden und deren Mitglieder der Sekte der Philipponen angehörten.

Der Ursprung dieser Sekte lässt sich wie der des größten Teils der innerhalb der orientalischen Kirche entstandenen Sekten auf das große Schisma vom Jahre 1666 zurückführen. Damals gelang es dem Patriarchen Nikon, an der Spitze des intelligenteren und gebildeteren Teils der Geistlichkeit, ihr schon mehrfach in Angriff genommenes Vorhaben, die in der Kirche umlaufenden, oft durch ungebildete Abschreiber und Sektierer entsetzlich verstümmelten kanonischen Schriften einer durchgreifenden Revision zu unterziehen, glücklich durchzuführen. Oder vielmehr nicht glücklich, denn die Beschlüsse der betreffenden Synode stießen vielfach bei den noch oft sehr rohen Geistlichen und dem gemeinen Mann auf energischen Widerstand, ja es schloss sich sogar ein Bischof den Renitenten an. Man hielt das Vorgehen der Synode für ruchlos, erklärte den revidierten Bibeltext für eine abscheuliche Fälschung und glaubte sich in seinem Heiligsten verraten und verkauft. Als nun die von der Regierung unterstützte Regierung nicht nachgab, sondern im Gegenteil fest bei den Neuerungen verblieb, nahm die Bewegung immer größere Dimensionen an, so dass schließlich die Staatsgewalt gezwungen war, energisch einzuschreiten. Die Anhänger des Alten, die Altgläubigen wie sie sich selbst nannten, flohen nun nach allen Seiten auseinander und rotteten sich entweder in den unzugänglichen Teilen des Reiches, an der unwirtlichen Küste des weißen Meeres, in den Tundren Sibiriens, in den Steppen Südrusslands zusammen oder flüchteten über die Grenzen in das Ausland.

Man stellt das russische Schisma ganz allgemein so dar, als ob die russischen Schismatiker nicht um ihrer religiösen Überzeugungen, nicht um dogmatischer Unterscheidungslehren willen mit der Kirche zerfallen wären, sondern wegen lauter Nichtigkeiten und Äußerlichkeiten. Man liebt es, sie in einen gewissen Gegensatz zu den Sektierern des Abendlandes zu stellen, wo der Sektenbildung doch immer dogmatische Bedenken zu Grunde liegen und wo Vorgänge wie die russischen einfach unmöglich sind. Diese Vorstellungen sind eben so weit verbreitet als irrig. Dem russischen Schisma lagen durchaus auf die Dogmen bezügliche Unterscheidungen zu Grunde und zwar solche, die sich auf die Fundamentallehren der orientalischen Kirche bezogen. Diese Konfession hält an der Überzeugung fest, dass das geistliche Amt sich als ein Gnadenamt durch Handauflegung von den Aposteln her vererbt habe, und dass die Sakramente nur von geweihten Priestern gespendet werden können. Nahmen die Altgläubigen nun an, dass die gesamte Hierarchie vom rechten Glauben abgefallen sei, so war die notwendige Konsequenz davon, dass sie plötzlich der Geistlichkeit und eben dadurch auch der Sakramente beraubt waren. Gab es keine rechtgläubigen Bischöfe mehr, so konnten diese auch keine Priester weihen, und wenn es keine Priester gab, so konnten auch weder Taufe noch heiliges Abendmahl gespendet, keine Ehen geschlossen, keine letzte Ölung vollzogen werden.

Nicht alle Altgläubigen zogen diese schreckliche Konsequenz. Ein Teil von Ihnen verwarf zwar die Bischöfe und Geistlichen der Staatskirche, nahm aber an, dass die ersteren doch immerhin Geistliche weihen könnten, und legte daher das größte Gewicht darauf, letztere zum Abfall zu bewegen und sich solchergestalt die Sakramente zu retten. Dem entsprechend unterscheidet man zwischen priesterlosen Sekten und solchen, die an die Möglichkeit der geistlichen Würde glauben und Geistliche haben, hierarchische Sekten.

Behält man nun im Auge, dass die gesamte Intelligenz des Landes Nikons Vorgehen billigte, dass die Anhänger des Alten fast ausnahmslos den unteren Volksklassen angehörten, dass harte Verfolgungen seitens der Hierarchie und der Regierung sie zwangen, nur unter dem Schleier tiefsten Geheimnisses an eine Neuorganisation der ihrer Meinung nach völlig zerstörten Kirche zu gehen – so wird man nichts spezifisch Russisches darin finden, dass die Opposition alsbald in zahllose Sekten zersplitterte.

Diese Sekten verdankten ihre Entstehung ausschließlich mehr oder weniger imponierenden Persönlichkeiten, und die nichtigen Äußerlichkeiten, die man so allgemein als Ursache der Sektenbildung ansieht, dienten diesen nur als Vorwand. Jede einzelne russische Sekte lässt sich auf eine ganz bestimmte Persönlichkeit zurückführen, die fast immer aus unbefriedigtem Ehrgeiz mit dem bisherigen Verbande brach und nun die Anhänger mit sich zog. Da diese Männer (Mitunter waren es auch Frauen) stets den untersten Volksklassen angehörten, meist entlaufende Leibeigene, flüchtige Verbrecher, desertierte Soldaten waren, so waren die Lehrer selbst, dem Charakter ihrer Urheber entsprechend, oft scheußlich und verbrecherisch, immer roh. Die innersten Neigungen des russischen gemeinen Mannes traten in ihnen zu Tage. Der Hang des Russen zur Askese findet seinen Ausdruck in den „Selbstverstümmlern“ und den „Selbstverbrennern“, die Neigung zu einem fahrenden unsteten Dasein in den „Wanderern“. Man irrt, wenn man annimmt, dass das Abendland solche Ausschreitungen nicht kennt. Auch bei uns haben sich Leute um des Glauben willen von ihren Anhängern ans Kreuz schlagen lassen, auch bei uns ist die Religion als Veranlassung zu wüsten Orgien missbraucht worden. Wenn derartige Verirrungen jetzt im westlichen Europa selten oder gar nicht mehr vorkommen (in Amerika sind sie auch in der Gegenwart nur zu häufig), so ist das gewiss zum guten Teil der ja sonst in hohem Grade bedauerlichen religiösen Indifferenz der Massen zuzuschreiben.

Man sieht, die russischen Sektierer waren Leute wie andere auch. Sie glaubten sich, wenn auch mit Unrecht, um ihr Heiligstes betrogen und handelten darnach. Ein Teil von ihnen warf sich in das berühmte Ssolowetzkikloster und verteidigte sich unter der Führung des Erzpriesters Awakum acht Jahre lang gegen die Truppen des Zaren. Das Kloster wurde schließlich erstürmt, aber seine Insassen entkamen zum Teil und bereiteten sich in den weiten Wäldern und Sumpflandschaften im Süden des weißen Meeres immer mehr aus. Durch sie entstand dann 1694 ein unter den priesterlosen Sekten im höchsten Ansehen stehendes Kloster am Flusse Wyg, dessen Begründer ein weggejagter Kirchendiener Daniel Wikulin war. Dieser und zwei Brüder Denissow brachten das Kloster zu hoher Blüte. Als das Ssolowetzkikloster verbrannte, wurden, so hieß es, einige geweihte Hostien gerettet und in das neue Kloster gebracht. Mit deren Hilfe wurde nun neuer Teig geheiligt, der seinerseits wieder heiligend wirkte etc. Diese Hostien wurden nun von weit und breit her begehrt und galten als Erkennungszeichen für die bald über das ganze Land verbreitete Sekte. Diese selbst zerfiel wieder in eine Anzahl Sekten, je nachdem die verschiedenen dogmatischen Fragen beantwortet wurden. Diese verwarfen z. B.: jede eheliche Gemeinschaft, jene duldeten wenigstens ein geschlechtliches Zusammenleben; die einen betrachteten den Vertreter der Staatsgewalt, den Kaiser, als den leibhaftigen Antichrist, die anderen standen ihm wenigstens nicht feindlich gegenüber etc.

Ein Klosterdiener namens Philipp war bis zum Mönch aufgerückt und strebte nun darnach, Vorsteher des Klosters zu werden. Als ihm das nicht gelang, zog er – es begab sich das am Anfang des vorigen Jahrhunderts – mit seinen Anhängern, die sich Philipponen nannten, in den Wald und gründete eine neue Niederlassung. Die Sekte trieb es wie gewöhnlich anfangs am tollsten. Es galt als verdienstlich, sich durch Feuer oder durch Hunger selbst den Tod zu geben, und es kam vor, dass hunderte sich in einer Scheune versammelten und dieselbe dann in Brand steckten.

Da diese Treiben nicht geheim bleiben konnte und daher seitens der Regierung eine energische Reaktion hervorrief, so hielt Philipp es für angemessen, mit vielen seiner Anhänger in das damals noch polnische Weißrussland überzusiedeln. Andere Philipponen – und mit deren Nachkommen haben wir es zu tun – ließen sich in Awgustowo nieder. Während nun die in Russland zurückgebliebenen Philipponen dort zu den ausschweifendsten Sektierern gehören, werden die in Polen lebenden von Anfang an als fleißige und stille Menschen geschildert. Es erklärt sich das wohl daraus, dass sie in Polen nicht verfolgt wurden und daher keine Veranlassung fanden, sich in ihrer Opposition immer mehr zu fanatisieren. Der Fleiß ist eine gewöhnliche Erscheinung bei Sektierern. Mehr oder weniger ausgestoßen von ihrer Umgebung, sind sie in Hinsicht ihres materiellen Gedeihens ganz auf ihren eigenen Fleiß angewiesen.

Die Krone Preußens fand während der wenigen unruhevollen Jahre, in denen Awgustowo ihr unterstellt war, keine Veranlassung, sich um die Philipponen näher zu bekümmern. Auch während der kurzen Blühte des Großherzogtums Warschau blieb die Sekte unbehelligt, und erst die russische Regierung, welche dieselbe bereits aus dem eigenen Hause kannte, trat ihr näher. Eigentliche Verfolgungen scheinen indessen nicht stattgefunden zu haben. Einmal mögen sich die Regierungsbehörden bald davon überzeugt haben, dass der polnische Zweig der Sekte keine gefährlichen Tendenzen verfolgte, sodann waren die Vertreter derselben katholische Polen, welche sich der Natur der Sache nach der russischen Sekte gegenüber ziemlich indifferent verhielten. Nach Rektor Gertz (Mitteilungen über die Pilipponen im Kreise Sensburg) sollen die Sektierer zwar darüber geklagt haben, „dass sie sowohl von der römisch-katholischen Geistlichkeit beunruhigt und verfolgt wurden“, es scheint aber, als ob es sich eigentlich doch nur um Prinzipienfragen gehandelt habe. Eine Sekte wie diese musste mit jeder Staatsgewalt in Konflikt geraten. Die Philipponen verweigerten den Dienst im Heere; sie hielten unter Berufung auf das Davids Volkszählung jede Art von Standesregister für sündhaft; sie wiesen den Eid zurück etc.

Als die polnischen Behörden 1824 auf die Führung von Zivilstandsregister drangen, erklärte sich der Staryk (Dorfältester) des Kirchspiels Glebokirow gegen die Konzession, während sein Kollege im Kirchspiel Pogorcalice die Würde eines Standesbeamten annahm. Darüber kam es innerhalb der Sekte zu den hartnäckigsten Streitigkeiten, die endlich dahin führten, dass der Staryk von Glebokirow, Jesim Borissow, seitens der Staatsgewalt abgesetzt wurde. Die Folge davon war (und hier tritt die unter den russischen Sektierern so bedeutungsvolle Personenfrage hell ins Licht), dass Borissow und seine Anhänger den Entschluss fassten, lieber auszuwandern, als sich den Gesetzen über die Zivilanstandsregister und nun gar über den Kriegsdienst zu fügen.

Wohin sollten sie aber? Jesim Borissow war ein eifriger Freund der preußischen Regierung. Diese hatte, während sie das Regiment führte, die Philipponen unbehelligt gelassen; man konnte daher hoffen, dass dieselbe auch künftig in gleicher Weise verfahren würde. So wandten sich denn 1825 mehr als 200 Philipponen mit dem Gesuch an den König von Preußen, ihnen die Einwanderung in sein Reich zu gestatten. Durch Kabinettsorder vom 5. Dezember (abgedruckt bei Rektor Titius: „Die Philipponen im Kreise Sensburg“, unserer wichtigsten Quelle) wurde ihnen nach Nachweis ihrer Entlassung aus Polen die Einwanderung gestattet. Unter der Bedingung, dass sie sich auf unkultiviertem Grund und Boden in Litauen oder Ostpreußen ansiedelten und diese nicht urbaren Grundstücke ankauften, sollte der ersten Generation der Kriegsdienst erlassen werden.

Mann kann nicht behaupten, dass die Philipponen sich gerade beeilt hätten, von dieser Erlaubnis Gebrauch zu machen. Erst nach sechs Jahren, erst im Dezember 1831, traten sie in größerer Zahl in Unterhandlungen über den Erwerb von in Preußen gelegenen Ländereien- Anfang 1833 waren 264 Personen eingewandert. „Zu ihrer Ansiedlung“, erzählt Prediger Schulz in Johannisburg, der sie damals besuchte „sind ihnen im Regierungsbezirk Gumbinnen in den königlichen Nikolaiker und Krutiner Forsten noch nicht urbare Forstländereien überwiesen, wozu vorläufig 5047 Morgen verwendet sind. Sobald den Philipponen das Land vermessen ist, so beginnt die Urbarmachung des Bodens mit einer Tätigkeit und Schnelligkeit, die fast an das Unglaubliche grenzt. Mit ihrem einfachen, mit einem Pferde bespannten Pfluge stürzten sie zwischen vielen noch vorhandenen Stubben den wild durchwurzelten Boden, machen ihn durch einfache , aus Tannenzweigen verfertigte Eggen mürbe und besäen den Acker mit Sommergetreide, so dass nach 4 bis 5 Wochen mehrere hundert Morgen mit grünen Saaten bedeckt sind. Nach diesen für den Lebensunterhalt getroffenen Verrichtungen schreiten sie zur Bearbeitung des Holzes, behufs Erbauung der Wohnungen, die sie tüchtig zu erbauen verstehen, wobei sie der russischen Dampfbäder nicht vergessen.“ Titus, der diese Bauten ebenfalls selbst kennt, hat in Bezug auf sie eine weniger vorteilhafte Meinung. „Das Ganze eines Philipponenhauses“, sagt er, „sieht so verwittert aus, die überaus kleinen Fenster machen es so unheimlich, dass man viele ihrer Wohnungen zu den erbärmlichsten Kabachen zählen muss, die in einem masurischen Dorfe nur aufzutreiben sind.“

Anfangs ging alles gut, bald aber machte man die Entdeckung, dass sie neuen Bürger eine entschiedene Vorliebe für Landsleute hatten, die aus diesem oder jenen Grunde mit der russischen Obrigkeit in Konflikt geraten waren. Die einen von diesen waren Vagabunden, die anderen Pferdediebe, alle aber waren, sobald sie der Sekte beitraten, willkommen. Die Sektierer sympathisierten mit jedem Verfolgtem als solchem.

Die Kolonie wuchs von 472 Personen im Schlussjahr der Einwanderung (1834) auf 1.277 Personen im Frühjahr 1842, in welchem die erste genaue Zählung stattfand. Dem musste nun ein Riegel vorgeschoben werden.

Die Bedingungen unter denen der Erwerb von Grundbesitz stattfand, waren im allgemeinen günstige. Wenn die Philipponen trotzdem nicht eigentlich wohlhabend geworden sind, so liegt es daran, dass ihre Bewirtschaftung des Bodens eine keineswegs rationelle ist, sie daher von der Landbevölkerung rings umher landwirtschaftlich überholt werden.

Indem wir nun zu den Lehren der Sekte übergehen, müssen wir leider zunächst konstatieren, dass unsere Quellen in Bezug auf sie ziemlich verworren sind. Wir müssen daher mitunter die Analogie anderer den Philipponen verwandter Sekten herbeiziehen, auf die Gefahr hin in Irrtum zu verfallen. So ist z. B. in unseren Quellen nicht selten von Popen (Priestern) die Rede, obgleich die Philipponen doch nach ihrem Ursprung und allen ihren sonstigen Lehren zu den priesterlosen Sekten gehören. Der Pope ist hier also offenbar nur eine beliebige (doch ungeweihte) Person, die zeitweilig mit der Ausübung der geistlichen Funktionen betraut ist.

Die Kinder der Philipponen werden 40 Tage nach ihrer Geburt getauft, weil Maria erst nach so langer Zeit in den Tempel ging. Die Taufe wird, falls keine Nottaufe nötig wurde, in der Regel in der Kirche und meist von dem Popen vollzogen, wobei ein Pate und eine Patin zugegen sein müssen. Der Pope taucht das Kind unter Anrufung der Dreieinigkeit dreimal ins Wasser und hebt es dann mit dem Gesicht nach Osten wieder empor. Darauf wird demselben ein messingenes Kreuzchen an einem Bande umgehängt, welches der Täufling nie wieder ablegt. Ein Gastmahl oder sonstige Festlichkeiten finden nicht statt. Die Kinder wachsen nun, wenn männlich, bis zum 20. Lebensjahre, wenn weiblich, bis zum 14., unter der elterlichen Gewalt auf. Vor dieser Altersstufe dürfen sie weder heiraten, noch einen eigenen Hausstand begründen. Heiraten sie dann noch nicht, so bleiben sie unter der elterlichen Gewalt, bis sie es tun. Die Heiratslustigen bedürfen nur der Einwilligung beider Eltern. Ist diese erlangt, so versammeln sich die beiderseitigen Eltern und fünf männliche Zeugen im Hause der Braut, einer der Zeugen richtet an das junge Paar die Frage, ob sie einander heiraten wünschen, die Frage wird bejaht und die Ehe ist geschlossen. Um der Obrigkeit willen wird dann noch ein Dokument darüber aufgenommen, welches die Tatsache bescheinigt und von den Zeugen unterschrieben, resp. Mit Kreuzen versehen wird. Scheidungsgründe sind: Ehebruch, Epilepsie und Nachstellungen nach dem Leben des Mannes oder der Frau.

Das heilige Abendmahl ist den Philipponen ebenso unbekannt, wie die letzte Ölung. Stirbt einer von ihnen, so wird die Leiche in die Kirche gebracht, dort eingesegnet und dann auf dem Kirchhof bestattet.

Man sieht: im Grunde fehlen den Philipponen alle Sakramente als solche, denn auch die taufe und die Ehe erscheinen mehr als religiöse Einsegnungen, denn als Sakramente. Wir erkannten bereits, dass das bei einer priesterlosen Sekte nicht wohl anders sein kann.

Die preußische Regierung verhielt sich den Einwanderern gegenüber gleich anfangs und auch nachher sehr zurückhaltend. Das konnte auch nicht anders sein, weil sich einmal bald herausstellte, dass die Philipponen zu ewigen Reibungen mit den russischen Grenzbehörden Veranlassung geben würden und weil zweitens der ökonomische Nutzen, den die Eiwanderung brachte, ein äußerst geringer war. Die Philipponen sind, wie die meisten ihrer Volksgenossen, keine rechten Ackerbauern, sie überließen daher, wenn es irgend anging, die Bestellung ihrer Äcker ihren Frauen und gingen selbst für den Sommer nach Russisch-Polen, wo sie als Arbeiter an den Landstraßen, als Säger, Grabengräber oder Fischer ihren Unterhalt erwarben. Darüber gingen ihre Wirtschaften natürlich den Krebsgang.

Auf der anderen Seite fühlten sich auch die Philipponen in ihren Erwartungen getäuscht. Sie waren nach Preußen gekommen, weil sie gehofft hatten, dort von jeder staatlichen Aufsicht und zumal vom Kriegsdienst befreit zu sein. Statt dessen mussten sie sich der strengen preußischen Zucht fügen, mussten ihre Sympathien für glaubensverwandte Vagabunden, Deserteure und Verbrecher aufgeben und genaue Standesregister führen. Sie mussten ferner ihre Kinder in die Schule und ihre Jünglinge ins Heer schicken. Da sie nun endlich mit der sie umgebenden Bevölkerung in keiner Weise verschmolzen und in Sprache, Kleidung und Sitten ganz Russen blieben, so musste der Natur der Sache allmählich der Gedanke in ihnen erwachen, nach Russland zurückzukehren, und das umsomehr, als hier mittlerweile in Bezug auf das Sektenwesen ein milderes Verfahren Platz ergriffen hatte.

So petiionierten denn im Jahre 1866 zunächst zehn Familien bei der russischen Regierung um die Erlaubnis, nach Russland zurückkehren zu dürfen. Da sie gleichzeitig erklärten, sich den „Eingläubigen“, d. h. denjenigen Sektierern, welche rechtgläubige Priester und die Sakramente haben, anschließen zu wollen, so wurden sie überaus zuvorkommend aufgenommen.

Die Regierung siedelte sie in der Mark des Dorfes Pokrowskoje (Gouvernement Suwalki) an, versorgte sie (in Folge kaiserlichen Befehls vom 9. Juli 1868) mit der Krone gehörigen Ländereien, gewährte ihnen unentgeltlich Baumaterial, befreite sie auf sechs Jahre von der Steuerpflicht und gewährte ihnen überdies noch ein unverzinsliches Darlehn von 60 Rubel pro Familie auf 12 Jahre.

Die Kunde von dieser unerwarteten als erfreulichen Aufnahme drang natürlich sofort über die preußische Grenze und bewirkte, dass Ende 1874 322 Familien (so geben die uns vorliegenden russischen Mitteilungen ohne Zweifel übertrieben an) unter den gleichen Voraussetzungen um dieselben günstigen Aufnahmebedingungen baten. Sie sollen es so eilig gehabt haben, dass gegen 200 sogar nur auf die Hoffnung hin nach Russland gingen. Diese wurde denn auch nicht zu Schanden, denn sie wurden in den im Gorokalwarischen Kreise des Gouvernement Warschau gelegenen Dörfern Kukaly und Biskupitza mit 8 bis 32 Morgen pro Familie und freiem Bauholz angesiedelt.

Unter diesen Umständen dürfte bald auch der letzte russisch redende Preuße Deutschland verlassen haben, und das umsomehr, als die öffentliche Meinung Russlands sich den rückkehrenden verlorenen Söhnen gegenüber mit ebenso viel Wohlwollen als Unwissenheit verhält. Die Tagespresse, welche der Meinung ist, dass es sich um Leute handele, die zu Peters des Großen Zeit auswanderten, ist davon entzückt, dass sie noch alle so gut russisch sprechen, dass sie noch dieselben Sagen haben wie ihre Vorfahren in Tula und Kaluga, und dass ein tiefes Heimweh nach der fernen Heimat, die nur selten jemand von ihnen wiedersah, in ihnen lebte.

Wir unsererseits sehen die russischen Mitbürger ohne Herzeleid scheiden. Waren sie uns doch immer fremd geblieben, lebten sie doch ohnehin, wie wir sahen, mehr in Russland als in Deutschland. Überdies machten sie uns, wie es scheint, in Russland keine Schande. Sie sprechen sich dort über ihre bisherige Regierung sehr anerkennend aus und sie erregen dadurch nicht geringes Staunen, dass sie in ihrer neuen Heimat das beste Gebäude der Schule eingeräumt haben. Wir geben ihnen ein wohlgemeintes „Mit Gott!“ mit auf den Weg.

044 Tarantasse_

044 Tarantasse_

045 Bauer in Wintertracht

045 Bauer in Wintertracht

046 Bauernstube

046 Bauernstube

047 Großrusssin

047 Großrusssin

048 Dorfmusikant

048 Dorfmusikant

058 Russen auf der Straße

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063 Russland, bettelnder Pilger

063 Russland, bettelnder Pilger

064 Russland, Der Patriarch Nikon

064 Russland, Der Patriarch Nikon

065 Russland, Ein Altgläubiger

065 Russland, Ein Altgläubiger

066 Russland, Ein Hausierer

066 Russland, Ein Hausierer

098 Ein Zimmer wohlhabender Bauern

098 Ein Zimmer wohlhabender Bauern

100 Ochsenfuhrwerk in der Steppe

100 Ochsenfuhrwerk in der Steppe

119 Erntefest in Polen

119 Erntefest in Polen

120 Polnische Bauern

120 Polnische Bauern

132 Bauernwohnung

132 Bauernwohnung