Stralsund, seine Gründung, älteste Schicksale und fernere Entwicklung

Der schmale Meeresarm, welcher den südlichen Teil der Insel Rügen von dem Pommerschen Festlande scheidet, heißt der Gellen. Der Name gehört ursprünglich dem unteren südlichen Ende der Insel Hiddensee, welches am Eingange des Gellen, dem Pommerschen Borhöwd gegenüber liegt; dort kennen die Schiffer noch jetzt den sogenannten Geller Haken, eine Untiefe, welche weit in das Fahrwasser vorspringt. Der Name ist, wie fast alle unsere älteren Namen, Wendischer Abstammung; jelen bezeichnet im Polnischen, gelen im Böhmischen den Hirsch; die Insel Hiddensee war nach alter Tradition bewaldet; auf dem gegenüber liegenden Pommerschen Festlande bei Borhöwd war noch lange nach der Christianisierung des Landes ein landesherrliches Wildgehege, und von dem nahen Darß und Zingst konnte der Hirsch, namentlich zur Winterszeit über das Eis ebenso leicht nach Hiddensee gelangen, als von Rügen her. Aus dem Wendischen Namen Jelen oder Gellen, den das südliche Ende von Hiddensee führte, ward dann, als die Deutsche Sprache die herrschende ward, Gelant oder Jellant*). In christlicher Zeit war hier dem heiligen Nicolaus, dem Patron der Schiffer, eine Kapelle erbaut, deren Stelle jetzt nur noch durch schwache Trümmer-Überreste bezeichnet wird. Es mochte hier oft genug Unglück geben, dem die Mönche der Kapelle mit hilfreicher Hand beizuspringen hatten. Denn das Fahrwasser war eng, und die Untiefen waren noch nicht, wie heut zu Tage, durch künstliche Baggerung für die Schifffahrt ausgetieft. Schon im dreizehnten Jahrhundert mussten schwerer beladend Schiffe hier einen Teil ihrer Ladung in leichtere Fahrzeuge ausladen, um hinüber zu kommen**).

*) Jelenie 1240. Gelende 1254. Galant 1278. Yellant 1302.
**) Dies erhellt aus einer Stelle der Urkunde des Rügenschen Fürsten Wizlaw II. von 1278, bei Fabricius, Rüg. Urk. II, p. 29.


Von der Hiddensee’schen Südspitze ging dann der Name des Gellen auf den ganzen Meeresarm über, der sich von hier zwischen Rügen und Pommern durchzieht, bis er sich bei der Halbinsel Zudar zum Greifswalder Bodden ausweitet. Ungefähr in der Mitte der ganzen Strecke, einer vorspringenden Ausbiegung des Pommerschen Festlandes gegenüber, liegt eine kleine Insel, etwas über hundert Pommersche Morgen groß*). Es ist die altberühmte Insel Strela oder Strale. Hier in dem natürlichen Hafen, den die Insel mit der Bucht des Festlandes bildet, ankerten in den Kriegen, welche Dänemark vorlängst mit Rügen und Pommern führte, die Dänischen Flotten; von hier wurden die Streifkorps ausgesandt, welche an den Küsten zu beiden Seiten plünderten, brannten und mordeten; hier ward dann auch wohl ein Friede auf ewige Zeiten geschlossen, um nach ein paar Jahren wieder gebrochen zu werden. Der Name der Insel ist ebensosehr Altdeutsch als Wendisch und gehört zu den Wortstämmen, die dem Germanischen und Slawischen gemeinsam den verwandten Ursprung der beiden Rassen bezeugen. Strâl, Strael, Strala, Strela bedeutet im Altdeutschen (auch Angelsächsisch) wie im Slawischen**) den Pfeil, das Geschoß; die Insel führt den Namen offenbar, weil sie wie ein Pfeil in die Gewässer des Sundes vorspringt und sie teilt. Gegen das Ende des 13. Jahrhunderts ward die alte Benennung durch den Namen Dänholm verdrängt, den die kleine Insel noch heute führt.

*) Nach einer mir von Herrn Prof, Zober mitgeteilten Notiz ist der Dänholm zufolge der Landesvermessung von 1696 groß 104 Morgen und 180 Quadratruten Pommerschen Maßes (ungefähr = 286 Magdeb. Morgen), — Der Dänholm ging im Jahr 1849 für 15.000 Rthlr, in den Besitz des Militärfiskus über, und ist gegenwärtig eine Marine-Station der Preußischen Flotte,
**) Im heutigen Polnisch strzala, Böhmisch strela, — Die Ortsnamen Stralau oder Stralow, Strelow, Strelitz, Strelentin sind alle derselben Abstammung, desgleichen die bekannten Strelitzen Peters des Großen.

Offenbar erhielt sie den neueren Namen in der Erinnerung an die Rolle, welche sie in den früheren Kriegen als Stationsplatz der Dänischen Kriegsflotten gespielt hatte, und auch später, als die Beziehungen Rügens zu Dänemark friedliche geworden waren, mochten die Dänen, wenn sie in diese Gewässer kamen, hier auf der altbekannten Stelle ankern*). Unsere alten Chronisten des sechzehnten Jahrhunderts, die es liebten, einen Namen aus einem bestimmten Ereignis oder durch die Beziehung auf eine bestimmte Person zu erklären, haben auch für den Namen Dänholm eine derartige Erklärung gesucht und gefunden. Nach Kanzows Pomerania soll der Dänholm seinen Namen führen von einer den Dänen hier durch die Stralsunder i. J. 1326 beigebrachten Niederlage, nach Balentin von Eickstedts Annalen-Abriss von einem 1429 durch die Flotte Stralsunds über die Dänen hier erfochtenen glänzenden Seesieg. Das Eine wie das Andere ist falsch und ein Beitrag zu der Unzuverlässigkeit dieser alten Chronisten. Der Name Dänholm findet sich schon zu dem Jahre 1288 in dem ältesten Stralsunder Stadtbuch**), und im Jahr 1314 gebraucht ihn eine Deutsche Urkunde des letzten Rügischen Fürsten Wizlaw III., welche der Stadt Stralsund ihre Freiheiten und Besitzungen garantiert ***). Mit dieser Insel haben unsere Chronisten überhaupt Unglück gehabt. Bestimmen sie einerseits den Zeitpunkt, wenn der Name Dänholm aufgekommen, unrichtig, so wissen sie andererseits auch nichts davon, dass der Dänholm mit der alten Insel Strela identisch ist; Kantzow namentlich tappt in der wunderlichsten Weise in der Irre herum; er sagt, wo die Insel Strela gelegen, wisse man jetzt nicht mehr, es müsste denn die Insel Zingst (nordwestlich von Borhöwd) oder ein Teil von Rügen sein! Und doch war die Kunde, dass der Dänholm von dem alten Strela nicht verschieden sei, in dem Jahrhundert Kantzows keineswegs verschollen. Crantz, der alte Geschichtsschreiber von Dänemark, Sachsen und dem Wendenlande, der ein paar Jahrzehnte vor Kantzow schrieb und oft von diesem benutzt wird, sagt uns ausdrücklich, dass die Insel Strela ganz in der Nähe von Stralsund gelegen habe, und der bekannte Dichter Zacharias Orthus, der ein paar Jahrzehnte nach Kantzows Tode (1562) sein Lobgedicht auf Stralsund verfasste, bezeichnet die Insel Strela als der Stadt gegenüber liegend und später nach den Dänen benannt****).


*) Auch in der Peene haben wir einen Dänholm.
**) Der Dänholm (insula nostra Deneholm), schon seit 1240 Eigentum der Stadt Stralsund, ward 1288 an einen gewissen Ludbert Stolter auf 4 Jahre zu 10 Mark verpachtet. — Fabricius in dem Aufsatz: Stralsund in den Tagen des Rostocker Landfriedens. Baltische Studien XI. 2. p. 79.
***) Die Urkunde bei Fabricius (Rüg. Urkunden IV. 2. p. 30) führt den direkten Beweis für die Einerleiheit der Inseln Strale und Dänholm. Denn Wizlaw III. wiederholt hier im Wesentlichen den Inhalt der alten lateinisch ausgestellten Privilegien-Urkunde seines Ahnherrn Wizlaw I. von 1240, und statt der hier vorkommenden insula Strale haben wir in der Deutschen Urkunde von 1314 den Dänholm.
****) Man vergleiche Kantzow (niederdeutsch) herausgegeben von Böhmer p. 73. — Kantzow (hochdeutsch), herausgegeben von v. Medem p. 146. — Pomerania, herausgegeben von Kosegarten I. p. 219, — An der letzteren Stelle wird sogar die abgeschmackte Erklärung des Namens Stralsund von einem Fischer Stral, der hier zuerst gewohnt habe, wahrscheinlich gefunden, weil der Verfasser nicht weiß, was er mit der Insel Strale machen soll. — Vergl. hinten Anhang I.

Die Meerenge, in welcher die Strale-Insel lag, hieß den Deutschen und Dänen naturgemäß der Sund von Strale oder der Strale-Sund, wie Oere-Sund, Gröna-Sund und andere nordische Engen. Eine Stadt, welche an diesem Sund lag, musste gleich naturgemäß als die Stadt am oder zum Strale-Sund bezeichnet werden, und diese Benennung zum Stralesund oder kurzweg zum Sund finden wir in der Tat häufig genug in älterer Zeit für die Stadt*). Dann, wie der Name Gellen vom Lande auf die angrenzende Meerenge überging, so sehen wir hier den Namen Stralesund von der Meerenge ans die an derselben liegende Stadt übertragen werden: aus der Stadt am oder zum Stralesund wird schlechtweg Stralesund, oder wie wir zu schreiben gewohnt sind, Stralsund. Das ist die eben so einfache als unbezweifelbar richtige Erklärung des Namens**). Sie wird bestätigt durch das alte Siegel der Stadt, welches, wie wir es so häufig bei den Siegeln finden, den Namen bildlich ausdrückt. Eine Pfeilspitze über einem auf dem Wasser einherfahrenden Schiff, die eine als Darstellung von Strale, das andere als Symbol des Sundes: das sind die einfachen, unschwer zu deutenden Zeichen des Siegels von Stralsund ***). Erst das Missverständnis späterer Zeiten hat aus der Pfeilspitze drei Strahlen gemacht, wie es auch die Fabel von einem Fischer Stral erfand, welcher der Stadt den Namen gegeben.

*) Auch das älteste uns erhaltene Siegel der Stadt von 1267 hat als Umschrift ,,Sigillum civitatis in Stralassunt“. — Ähnlich finden wir auch Greifswald in alten Urkunden als Appellativum gebraucht, thom Grypeswold, vom Grypeswold. —
**) Sie findet sich bereits im Wesentlichen bei Alb. Krantz (†1317), Wandalia B. VII. cp. 5. — Ferner Zacharias Orthus (1562), in seinem Lobgedicht auf Stralsund, herausgegeben von Zober, Strals. 1831. — Vergl. auch Zober, Über Namen und Wappen der Stadt Stralsund, Sundine 1836. P. 319.
***) Die beiden ältesten uns erhaltenen Abdrücke von Siegeln der Stadt Stralsund sind abgebildet bei Fabricius, Rüg, Urkunden III. Taf. IV. Das Eine ist vom Jahr 1267, das Andere von 1278; beide haben die Pfeilspitze über dem Schiff auf dem Wasser, Das letztere hat auf dem Siegel von 1278 bereits einen Mast und Tauwerk bekommen, den es auf dem ersten noch nicht hatte; Überhaupt ist das zweite Siegel größer und mit mehr Verzierungen gearbeitet. Es ist der Vorläufer des bekannteren großen sogenannten Koken- oder Coggen-Siegels der Stadt, welches aus dem 14. Jahrhundert stammt.

Der Name Stralsund, der durch die Schlusssilbe seinen Germanischen Ursprung verrät, ist freilich nicht der älteste unserer Stadt. In der ältesten Urkunde, welche ihrer Erwähnung tut, in dem Privilegium des Rügenschen Fürsten Wizlaw I. vom Jahr 1234 wird sie noch mit dem echt Wendischen Namen Stralow bezeichnet; erst seit 1240 führt sie urkundlich den Namen Stralesund.

Welche Bewandtnis hat es nun mit diesen beiden Namen, oder mit anderen Worten, welches ist die älteste Geschichte der Stadt?

Die ersten Anfänge des Lebens einer Stadt, welche später zu Macht und Größe gedeiht, liegen oft ebenso sehr im Dunkeln, als der Ursprung von ganzen Völkern, welche , in dem weiteren Verlauf ihres Daseins die Weltgeschichte mit ihrem Ruhm und Glanz erfüllen.

Ein solches Dunkel liegt auch über der ältesten Geschichte von Stralsund. Zwar, der offizielle Geburtsschein lautet auf das Jahr 1234, das Jahr, in welchem Fürst Wizlaw I. die Stadt, die er Stralow nennt, mit Lübischem Recht bewidmet*). Aber eben, weil sie hier als eine schon vorhandene städtische Anlage in die Geschichte eintritt, müssen ihre ersten Anfänge bereits früher angesetzt werden.

*) Früher nahm man das Jahr 1229 als dasjenige an, in dem die Stadt Stralsund zuerst urkundlich erwähnt sein sollte. Allein die Urkunde, auf welche man sich bezog, ist nach der Entdeckung der jüngsten Zeit erst von 1269 und damit sind alle für die ältere Geschichte Stralsunds aus dieser Urkunde gezogenen Folgerungen hinfällig. Vergl. hinten den Anhang I. 2.

Und in der Tat führt uns eine spätere Überlieferung ein Vierteljahrhundert früher hinauf. Was sie über die frühesten Schicksale der Stadt berichtet, ist etwa Folgendes.

Im Jahre 1209 gründete der Fürst Jaromar I. von Rügen unter den Auspizien seines Ober-Lehnsherrn, des Königs Waldemar II. von Dänemark die neue Stadt an dem Sunde von Strela*). Es geschah dies zum großen Missvergnügen der jungen Pommern-Herzoge Bogislaw II. und Kasimar II., welche ihre Ansprüche auf die ihren Vorfahren durch Jaromar entrissenen festländischen Landschaften noch nicht aufgegeben hatten. Ward nun hier auf Pommerschem Gebiet, an der Stelle, wo der Hauptübergang von Rügen Statt findet, eine feste Stadt begründet, so musste die Hoffnung den Fürsten von Rügen das Verlorene wieder abzugewinnen , immer mehr schwinden. Die Rügianer hätten daran nicht nur ein uneinnehmbares Bollwerk für die Verteidigung ihrer festländischen Provinzen, sondern auch für den Angriff einen sichern und allezeit brauchbaren Stützpunkt gehabt. Man beschloss daher von Pommerscher Seite, die neue Anlage wo möglich im ersten Entstehen zu vernichten. Die beiden Herzoge brachen demnach — etwa 1210 — mit Heeresmacht in das Rügensche Gebiet ein, dessen Grenzen sich damals bis dicht vor Wolgast und Demmin erstreckten. Statt indes direkt auf Stralsund zu marschieren, hielten sie sich erst eine Weile mit der Belagerung von Grimmen auf. Aber die Rügensche Besatzung verteidigte sich so tapfer, dass die Pommern endlich unverrichteter Sache abziehen mussten. Nunmehr ging es an die Belagerung von Stralsund, die unfertig wie sie war den Angreifern eine leichte Beute schien. Die junge Stadt hatte noch keine Mauern, und war nur von notdürftig hergestellten Gräben und Wällen geschützt. Aber der Fürst Jaromar war selbst zu ihrer Verteidigung herbeigeeilt und hatte die Besatzung verstärkt. Zugleich hatte er für den äußersten Notfall eine Kirche in der Stadt befestigen lassen, um sich hierher wie in ein Kastell zurückzuziehen, wenn es dem Feinde gelingen sollte, die schwache äußere Verteidigungslinie der Stadt zu forcieren. Die Vorsicht erwies sich als sehr gegründet. Es gelang den Pommern, die neuen, und wahrscheinlich noch trockenen und nicht sehr tiefen Gräben zu füllen und über die niedrigen Wälle in die Stadt zu dringen. Nun warf sich Jaromar mit dem wehrhaftesten Teil der Bürgerschaft in die schon vorher für diese Eventualität befestigte Kirche. Hier setzten sie mit unverzagtem Mut die Verteidigung fort. Die Angriffe der Pommern wurden abgeschlagen und die Angreifer sahen sich endlich genötigt, unverrichteter Sache wieder abzuziehen. Doch führten sie beim Abzuge den Teil der Bevölkerung, der in dem befestigten Zufluchtsort keinen Platz gefunden hatte, als Gefangene fort; die neuen Häuser, die wir uns in dieser ersten Zeit nur aus leichtem Material, und vorzugsweise aus Holz konstruiert zu denken haben, wurden angezündet und die Gräben mit dem aufgeschütteten Erdreich der Wälle ausgefüllt. Dann ward die umliegende Gegend verheert und geplündert, und schließlich begaben sich die Pommernherzoge, die ihren Zweck nur halb erreicht hatten, mit ihrem Heer wieder auf den Heimweg.

*) Das Jahr 1209 gibt Alb. Krantz in der Wandalia p. 131 und nach ihm unsere Pommerschen Chronisten Kantzow und Andere. Die alte lateinische Slawenchronik (Incerti auctoris Chronica Slavorum) bei Lindenbrog, Syntagma Script. P. 203 nennt nach Cornerus Vorgange das Jahr 1210 als das der Gründung Stralsunds, lässt es indes zweifelhaft, ob dieselbe dem König Waldemar von Dänemark, oder dem Fürsten Germar von Rügen, oder endlich einem Herzog von Pommern beizulegen ist. — Das Jahr 1211 endlich nennt der Deutsche Text derselben Slawenchronik bei Grantoff, Lüb. Chroniken I. p. 439. — Vergl. hinten Anhang I. 1.

Aber nun wandte sich das Blatt. Jaromar von Rügen hatte bei der ersten Kunde von dem Einfall der Pommern seinen Oberlehnsherrn, den König von Dänemark zu Hilfe gerufen. Waldemar II. kam mit einem mächtigen Heer und jetzt brachen Dänen und Rügianer ihrerseits in Pommern ein. Loitz und Demmin wurden erobert, und der letztere Platz, dessen Befestigungen seit den Wendenkriegen des vorigen Jahrhunderts in Verfall geraten sein mochten, ward aufs Neue befestigt und von Waldemar der Obhut der Rügianer übergeben. Die Pommernherzoge, ohne Hoffnung, dem mächtigen Waldemar das Verlorene wieder abzugewinnen, machten Frieden, erkannten den Fürsten von Rügen auch als Herrscher über die ihnen entrissenen festländischen Landschaften an, und der Friede ward besiegelt durch eine Heirat des Herzogs Kasimar mit Ingard, der Tochter des Fürsten von Rügen.

Soweit die romantische Darstellung der Ereignisse, bei denen die Belagerung und teilweise Zerstörung der jungen Stadt Stralsund den eigentlichen Mittelpunkt der ganzen Verwicklung bildet.

Man mag den historischen Wert dieser ganzen Geschichte nicht allzu hoch veranschlagen; sie beruht, mit Ausnahme eines einzigen Umstandes — des Dänen-Kriegs gegen die Pommern um das Jahr 1210 — lediglich auf den Berichten von Chronikanten und Geschichtsschreibern aus dem Ende des fünfzehnten und dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, deren Glaubwürdigkeit in kritischer Beziehung viel zu wünschen übrig lässt. Sie bringen Wahres und Falsches, Geschichtliches und Sagenhaftes, urkundlich Beglaubigtes und unbeglaubigte Erzählungen durcheinander, ohne dass wir jetzt noch immer im Stande wären, die Scheidung mit Sicherheit vorzunehmen.

Sehen wir nun jene Darstellung von den ältesten Schicksalen der Stadt Stralsund auf ihre innere Glaubwürdigkeit an, so enthält sie in ihren Hauptzügen, wenn man Einzelheiten auf Rechnung späterer Ausschmückung setzt, unleugbar einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit.

Fürst Jaromar I. von Rügen war nach Allem, was wir von ihm wissen, ein ebenso einsichtsvoller als energischer Fürst. Die Sicherung seiner neuerworbenen festländischen Besitzungen musste ihm um so mehr am Herzen liegen, als er sehr wohl wusste, dass die Herzoge von Pommern nur auf die Gelegenheit lauerten, das Verlorene wieder zu gewinnen. Da die Meerenge des Gellen die neu erworbenen Pommerschen Provinzen von dem Rügenschen Stammland trennte, so bedurfte es jenseits derselben auf dem Festlande eines festen Stützpunktes der Rügenschen Herrschaft, der für die Verteidigung als sicheres Reduit, für den Angriff als Debouché, für alle Fälle als befestigter Übergangspunkt dienen konnte. Wo war der passendste Platz dafür? Es gab in alter Zeit, wie noch jetzt, hauptsächlich zwei Übergangspunkte von der Insel nach dem Festlande, den einen gerade im Süden von einer vorspringenden Landzunge des Zudar aus, die Fähre von Stalbrode, den andern mehr im Südwesten, die heutige Alte Fähre*). Die Erstere lag indes, um für die neu anzulegende Befestigung gewählt zu werden, der Pommerschen Grenze zu nahe. Die Alte Fähre, weiter rückwärts gelegen, entsprach schon aus diesem Grunde dem Zweck besser. Außer den strategischen Gesichtspunkten mochten bei der Wahl dieses Punktes noch allgemeinere Rücksichten auf Handel und Verkehr mitwirken. Denn dieser Punkt war es, auf den sich die Verkehrswege von Westen her nach Rügen konzentrierten, und im Westen lagen damals wie noch heute für den Slawischen Osten die Kultur-Länder. Die Straßen, welche nach Deutschland führten, waren überall die wichtigsten. Für den Land-Verkehr Rügens mit Deutschland bildete Mecklenburg das Mittelglied; von Mecklenburg führten drei Pässe in das Rügensche Pommern, bei Damgarten, bei Triebsees und bei Demmin-Loitz, und von diesen Punkten im Westen, Südwesten und Süden liefen drei große Verkehrsstraßen konzentrisch gegen Rügen bei der Alten Fähre zusammen. Zugleich war hier für den Seehandelsverkehr wahrscheinlich schon frühzeitig und ehe Stralsund als Stadt aufblühte, ein besuchter Stationsplatz. Der Dänholm bildete mit der Einbiegung des Pommerschen Ufers eine geschützte Reede, die wie sie den Dänischen Kriegsflotten schon längst bekannt war, auch den handeltreibenden Kauffahrern später einen willkommenen Ankerplatz geboten haben wird. Sie werden ihn um so lieber gewählt haben, als hier auch die Hauptlinien des Rügenschen Landverkehrs zusammentrafen. Unter diesen Umständen konnte es nicht fehlen, dass sich in und neben dem Fährdorf Niederlagen von Waren, die zu Wagen oder zu Schiff herangeführt waren, bildeten und fremde Händler hier ihren anfangs vorübergehenden, dann aber bleibenden Aufenthalt nahmen.

*) Dass beide Fähren schon in ältester Zeit als Übergangspunkte von Rügen nach Pommern dienten, erhellt für Stalbrode schon aus dem Namen, Stalbrode ist korrumpiert aus Starbrode, und Starbrod bedeutet Wendisch die alte Fähre (wie Sza brod, Schaprode, an, hinter der Fähre). War also bei Stalbrode schon in Wendischer Zeit eine alte Fährstelle, so war dies ebenso mit der heutigen Alten Fähre der Fall: die Privilegien-Urkunde Wizlaws I. von 1240 erwähnt bei Stralsund eines alten Fähr-Übergangs nach Rügen.

Alle diese Momente, die strategisch-politischen, wie die merkantitisch-zivilisatorischen sind gewiss zusammen gekommen, um dem Fürsten Jaromar für die Wahl gerade dieses Punktes zu einer Stadtanlage zu bestimmen.

Dass die Pommernherzoge mit Eifersucht und Hass auf solches Vorgehen blickten, dass sie dann eine, wie sie meinten, günstige Gelegenheit ersahen, die junge Schöpfung ihres Nebenbuhlers im Keime zu ersticken, war bei der obwaltenden Lage der Dinge nur allzu erklärlich. Nun war König Waldemar II. von Dänemark, damals der Ober-Lehnsherr der Herzoge von Pommern wie der Fürsten von Rügen, fern auf einem Zuge nach Preußen und Samland*); dieser Augenblick mochte den Pommern zum Angriff günstig scheinen. Dass dann dieser Feldzug einen Verlauf nahm, wie die spätere Überlieferung es darstellt, ist wenigstens nicht unmöglich. Der Fürst von Rügen wird seine neue Anlage bis aufs Äußerste verteidigt haben; dass die äußere Umwallung verloren ging, ist um so eher möglich, als die großen Teiche, welche später die Stärke der Befestigung Stralsunds ausmachten, damals noch nicht existierten, wenigstens nicht in der späteren Größe; auch waren die Festungswerke schwerlich über die ersten unvollkommenen Anfange hinaus gekommen. Dass dann die Pommern den letzten kastellähnlich befestigten Zufluchtsort der Stralsunder, eine massive mit Verschanzungen umgebene Kirche, nicht bezwingen konnten und schließlich unverrichteter Sache abziehen mussten, hat bei dem Zustande der Belagerungskunst jener Zeit um so weniger Auffallendes, wenn man annimmt, dass die Zeit ihnen nur knapp zugemessen war; jeden Tag war die Ankunft Waldemars zu befürchten, dem der Fürst von Rügen bei dem Einbruch der Pommern sogleich Nachricht gesandt hatte. Wurden sie von dem vor Stralsund überrascht, so war es um sie geschehen. So ließen sie es mit einer Zerstörung dessen, was sich in ihren Händen befand, bewenden und nach einer verheerenden Razzia gegen das umliegende flache Land zogen sie wieder ab.

*) Dieser Zug nach Preußen und Samland wird uns von derselben alten Dänischen Chronik berichtet, die kurz nachher die Notiz von dem Kriege gegen Pommern und dem Wiederaufbau Demmins mitteilt, Vergl. hinten Anhang I. 1.

An der Möglichkeit, dass die Sache so verlaufen sein könne, müssen wir uns genügen lassen; eine Gewissheit lässt sich bei dem Mangel auch nur annähernd gleichzeitiger Berichte nicht erreichen*).

*) Der Umstand, dass der Angriff der Pommern auf Stralsund durch die Belagerung von Grimmen verzögert sei, kann nicht so ohne Weiteres als unhistorisch verworfen werden, wie es von Alb. V. Schwarz in seiner Geschichte der Rügensch-Pommerschen Städte p. 20 geschieht, weil der Ort Grimmen oder Grimm erst später in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts urkundlich nachweisbar ist. Es konnte dort auch schon früher eine Burg gestanden haben, wie es deren in den Wendischen Ländern ja so viele gab, von denen uns die Geschichte und die Urkunden gar nichts melden.

Neben den alten Nachrichten, welche die Gründung der Stadt Stralsund um das Jahr 1209 geschehen fein lassen, geht nun eine andere alte Überlieferung her, welche das Jahr 1230 als dasjenige der Gründung Stralsunds nennt. Sie findet ihre hauptsächliche Stütze an einer alten Inschrift, welche in der großen Ratsstube zu Stralsund angebracht war; hier wird in einem lateinischen Gedenkverse, über dessen Wortlaut unter den Berichterstattern des 16. Jahrhunderts im Einzelnen keine vollkommene Übereinstimmung herrscht, das Jahr 1230 als das der Entstehung Stralsunds bezeichnet. Spätere Geschichtsschreiber haben diese Überlieferung mit der Anderen, welche als das Geburtsjahr Stralsunds das Jahr 1209 angibt, in der Weise vereinigt, dass sie die Erbauung der Stadt in dem letzteren Jahr begonnen und dann einundzwanzig Jahre, später vollendet sein lassen. Aber es springt schon an sich in die Augen, dass die Erbauung einer solchen Stadt schwerlich in einem bestimmten Jahr abgeschlossen gewesen sein wird; auch können wir den uns erhaltenen Urkunden mit Sicherheit entnehmen, dass noch dies ganze Jahrhundert hindurch an dem inneren Ausbau und der Erweiterung der Stadt und ihrer Befestigungen gearbeitet ist. Man muss vielmehr anerkennen, dass hier zwei verschiedene Nachrichten über das Jahr der Gründung Stralsunds vorliegen. Das Jahr 1230, welches man, wie aus der alten Inschrift des Rathauses erhellt, später in den offiziellen Kreisen der Stadt als das der Gründung ansah, ist wahrscheinlich nur abgeleitet aus der ältesten auf dem Rathause befindlichen Urkunde vom Jahr 1234; man nahm für den Gedenkvers, in dem man die Gründung der Stadt verewigen wollte, die runde Zahl 1230 und konnte sich um so mehr dazu berechtigt halten, als in der Urkunde von 1234 das Bestehen der Stadt bereits vorausgesetzt wird.

Erst mit dem Jahr 1234 gelangt dann die Geschichte Stralsunds aus der unsicheren und schwankenden Region der Sage und der Überlieferung auf den festen Boden unbezweifelbarer Tatsachen. Denn in diesem Jahr erließ der Fürst Wizlaw I., der seit etwa sechzehn Jahren seinem Vater Jaromar I. in der Regierung gefolgt war*), von seinem Schloss zu Charenz ein Dekret, wodurch Stralsund als Deutsche Stadt konstituiert wird. Wie jene Zeit überhaupt sich mit den Formen nicht sehr aufhielt, und die wichtigsten Dinge kurz und bündig ohne viel Umstände abmachte, so ist auch diese Urkunde, auf welche die ganze spätere Entwicklung eines mächtigen städtischen Gemeinwesens sich gründet, von unscheinbarem Äußeren, ein schmaler Pergamentstreifen mit wenigen Schriftzeilen darauf; keine Zeugen, nicht einmal der expedierende Sekretär ist unterschrieben; nur das fürstliche Siegel hängt daran, zur Beglaubigung, dass es der Fürst ist, der hier spricht. Er bringt hiermit zur allgemeinen Kenntnis, dass er seiner Stadt Stralow dasselbe Recht und dieselbe Freiheit verliehen habe, womit die Stadt Rostock bewidmet sei. Rostock, schon vor Alters in den Kriegen zwischen Deutschen, Dänen und Wenden als Wendischer Hafenplatz genannt, dann allmählich von Deutschen Ansiedlern bevölkert, hatte im Jahr 1218 von dem Mecklenburgischen Fürsten Borvin das Recht von Lübeck und die Befreiung vom Zoll für das gesamte Gebiet des genannten Fürsten erhalten. Rostock lag nur wenige Meilen von der Grenze des Fürstentums Rügen. Die Rügenschen Fürsten sahen vor ihren Augen das rasche Aufblühen dieser Stadt unter der Einwirkung Deutscher Sitte und Rechtsanschauung, Deutschen Bürgerfleißes und Unternehmungsgeistes. Sie zögerten nicht sich dies Beispiel zu Nutze zu machen.

*) Jaromar I, starb wahrscheinlich 1218, oder 1217, wie Usinger will, der die Angaben des Chronicon Danorum hier um ein Jahr hinaufrückt. Vergl. Usinger, die Dänischen Chroniken und Annalen des Mittelalters, Hannover 1861 p. 36.
**) Codex Dipl. Pom. Ed. Kosegarten etc. I. p. 478, — Fabricius, Rüg. Urkunden II. No. XXVII.

Bis dahin hatte Stralsund nach der Weise der Wendischen Städte und Ortschaften existiert. Wie schon der Name Stralow, den die Stadt noch in der Urkunde von 1234 führt*), ein völlig Wendischer ist, stand auch die Bevölkerung bis dahin unter Wendischer Verfassung und Wendischem Recht, obschon das Deutsche Element einen sehr wesentlichen Teil der Einwohnerschaft bildete.

*) Stralowe ist Genitiv von Stralova, indem das ae wie häufig in den mittelalterlichen Urkunden e geschrieben wird; so vorher nostre statt nostrae, — Stralowa aber ist das latinisierte Stralow. Der Name der Stadt ist also nach dieser Urkunde nicht Stralowe, wie man ihn öfter irrtümlich angeführt findet (auch bei Kosegarten), sondern Stralow, lateinisch Stralowa.

Die Umwandlung in eine Deutsche Stadt konnte hier nicht die Schwierigkeiten haben, wie in den alten Wendischen National - Städten Stettin, Wollin, Wolgast und Anderen. Stralow war eine junge Anlage; alle Verhältnisse waren noch flüssig und die Deutsche Bevölkerung der Händler und Kaufleute, welche sich hier angesiedelt hatten, hatte wie es scheint von Anfang an eine hervorragende Bedeutung gehabt.

Andere Deutsche Städte im Wendenlande wurden in der Weise begründet, dass von den Landesherren einer oder mehrere Unternehmer mit der Begründung und ersten Leitung der Kolonie beauftragt wurden.*) Dafür erhielten sie dann als Entgelt gewisse Einkünfte aus den gerichtlichen Gefällen und mancherlei Privilegien, die je nach den Umständen bald weiter bald enger bemessen waren. So ward im Jahr 1235 von dem Pommerschen Herzog Barnim I. die Begründung der Stadt Prenzlau **) acht namhaft gemachten Deutschen Bürgern zu Lehn übertragen; sie erhalten achtzig Hufen Grund und Boden, und von den Abgaben und Einkünften den dritten Teil. In ähnlicher Weise wurde 1248 die Erbauung der Stadt Friedland in Mecklenburg-Strelitz von den Brandenburgischen Markgrafen vier Männern von gutem Ruf übertragen. Greiffenberg an der Rega ward 1262 einem gewissen Jacob von Treptow in Entreprise gegeben, und Cöslin 1266 zweien Bürgern Marquard und Hartmann; Rügenwalde wird 1312 an sechs Unternehmer vergeben. Überall erhalten die ersten Gründer für sich und ihre Erben eine gewisse Hufenzahl als Grundbesitz neben ihrem sonstigen Anteil an den städtischen Einnahmen. Dabei erhalten sie nicht selten öffentliche Stellungen in dem neuen Gemeinwesen; in Schlesien wird ihnen die Erb-Vogtei, in Preußen das Schultheißenamt zugewiesen; in Prenzlau wird einer von den acht Unternehmern als Präfekt bezeichnet und in Rügenwalde besetzen sie mit dem Landesherrn gemeinschaftlich die Stelle des Vogts.***)

*) Sie heißen in den Urkunden locatores oder possossores.
**) Prenzlau existierte als Wendischer Ort —Burg und Burgflecken — schon früher.
***) Auch in Hamburg hatte 1188 Wirad von Boizenburg durch den Grafen von Holstein als Landesherrn eine ähnliche Stellung erhalten.

Fand etwas Ähnliches Statt, als Stralsund zur Deutschen Stadt ward? Wurden eine oder mehrere Mittelspersonen mit der Herbeischaffung der Bürger und der ersten Einrichtung der Stadt vom Fürsten beauftragt? — Nichts deutet in den uns erhaltenen Urkunden und in den späteren Verhältnissen darauf hin. Die Anziehungskraft unserer Vorpommerschen und Rügenschen Städte scheint für die fremden Ansiedler eine so große gewesen zu sein, dass sie auch ohne die Bemühungen besonderer Unternehmer an den für Handel und Verkehr günstigen Orten zu städtischen Gemeinden sich versammelten. Eine solche Ansammlung hatte am Sunde von Strela, bei dem alten Fährdorfe, ohne Zweifel schon früh Statt gefunden, und ihre Bedeutung war gestiegen, seit Jaromar I. den Platz zum festen Stützpunkt seiner festländischen Herrschaft erkoren hatte. Eine Dazwischenkunft Dritter war hier überflüssig.

Indem nun Wizlaw I. seiner Stadt Stralow 1234 dieselbe Gerechtigkeit und Freiheit verleiht, wie sie der Stadt Rostock zu Teil geworden, so wird damit der Wendische Charakter, welcher der ersten Anlage noch anhaftete, vollends abgestreift und das Deutsche Bevölkerungs-Element offiziell als das maßgebende und herrschende anerkannt. Mit der Erteilung des Lübischen Rechts, wie es bereits in Rostock galt, ward auch Stralow nun aus dem Verband der Wendischen Kastellanei - Verfassung herausgehoben, und Deutsches Recht trat auf diesem Punkt an die Stelle des herkömmlichen Wendischen Landrechts. Und wie die Ratsverfassung überall einen wesentlichen Bestandteil des Rechts von Lübeck bildete, so musste die Einsetzung eines Stadt-Rates nach Lübischem Muster auch in Stralow die erste Kundgebung des neuen Rechtszustandes sein. Wie dieser erste Rat zu Stande gekommen, darüber wissen wir freilich nichts Näheres; aber dass die Angesehensten der Deutschen Bevölkerung - dazu berufen sein werden, liegt in der Natur der Sache. Überall in der Fremde schlossen sich die Deutschen Kaufleute näher aneinander und wählten unter sich ihre Vorsteher, um die eigenen Händel wo möglich ohne Einmischung der Landesbehörden zu schlichten und überall nach außen wie nach innen die Interessen der Deutschen Kaufleute zu vertreten und wahrzunehmen. Solches genossenschaftliche Zusammenhalten der Deutschen Kaufleute wird auch bereits in Stralow Statt gefunden haben als hier noch Wendisches Recht und Wendische Verfassung galt; sie werden ihre selbstgewählten Vorsteher gehabt haben, und was war natürlicher, als dass diese in den ersten Rat berufen wurden, als die Verleihung des Deutschen Stadtrechtes erfolgte? Mögen wir dem Fürsten eine Mitwirkung bei der Wahl des ersten Rates zuschreiben, oder mögen wir ihm einfach eine Bestätigung der von der Gemeinde allein vollzogenen Wahl beilegen: immer wird sich naturgemäß die Sache so gemacht haben, dass die Angesehensten, die bereits vorher das Vertrauen ihrer Deutschen Genossen hatten, auch zuerst mit dem wichtigsten Amt des neuen Gemeinwesens betraut wurden. Dass neben dem Rat ein von dem Landesherrn ernannter Vogt die fürstlichen Rechte wahrzunehmen hatte, mögen wir nach dem Beispiel Lübecks auch für die erste Deutsche Verfassung Stralows annehmen, wenn wir es auch erst für die spätere Zeit ausdrücklich wissen.

Mit der Erteilung des Lübischen Rechts war der jungen Stadt die Selbständigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Rechtspflege von den Eingriffen Wendischer Kastellane, überhaupt die freie und ungehemmte Entfaltung der Tätigkeit und Kraft ihres Bürgertums gesichert. Dazu kam aller Wahrscheinlichkeit nach schon jetzt die Befreiung der Stralow’schen Bürger von allen Zöllen innerhalb der Grenzen des Fürstentums Rügen. Zwar wird dies in der Urkunde von 1234 nicht ausdrücklich gesagt; allein wenn die Stadt Stralow mit derselben Freiheit, wie sie Rostock zu Teil geworden, bewidmet wird, so liegt eben darin die Befreiung von allen Zöllen innerhalb der Landesgrenzen; denn diese Zollfreiheit war den Rostockern 1218 mit ausdrücklichen Worten verliehen.

So war die Grundlage für die fernere Entwicklung der Stadt zu Macht und Wohlstand gewonnen. Mit der offiziellen Sanktion Deutschen Rechts musste das Deutsche Element in der Bevölkerung vollends das überwiegende werden, und wurden auch die Wenden von der Aufnahme in die Bürgerschaft nicht geradezu ausgeschlossen, so geschah dieselbe doch nur ausnahmsweise und der Aufzunehmende musste sich nach allgemeiner Anerkennung des Bürgerrechts würdig gemacht haben.

Mit der entschieden Deutschen Richtung, welche die Entwicklung der Stadt nunmehr nimmt, trat auch eine Änderung des Namens ein: das Wendische Stralow verwandelt sich in Stralsund, wo die Schlusssilbe den Germanisch-Nordischen Sprachcharakter kennzeichnet. Von dem Jahr 1240 an ist Stralsund oder Stralesund der offizielle Name der Stadt.

In dem zuletzt genannten Jahr, sechs Jahre nach der ersten Bewidmung mit Lübischem Recht, befand sich der Fürst Wizlaw I. in seiner neuen Stadt. Der rege Aufschwung, den sie in jeder Beziehung genommen hatte, lag vor seinen Augen; aber es fehlte noch Mancherlei; es fehlte an Holz für die Neubauten, es fehlte vor Allem an einer scharfen Abgrenzung des Stadtgebietes und an einer präzisen Zusammenfassung ihrer Gerechtsame zu Wasser und zu Lande. Eine solche Feststellung der erweiterten städtischen Freiheiten und Besitzungen ward während der Anwesenheit des Fürsten in den ersten Monaten des Jahres 1240 zu Stralsund beraten und beschlossen, und von seinem Schloss zu Prohn erließ dann Wizlaw I. unterm 24. Februar die zweite wichtige uns noch jetzt erhaltene Privilegien-Urkunde für Stralsund.

Sie enthält zunächst, wie dies häufig bei alten Urkunden der Fall ist, eine Wiederholung der früher erteilten Bewidmung. Das Recht, wie es der Stadt Rostock verliehen, und die Zollfreiheit der Stralsunder Bürger in dem Gebiet des Fürsten wird der Stadt ausdrücklich abermals verbürgt. Auf dem Lande erhielt sie eine doppelte Erweiterung ihres Gebiets. Auf der Nordseite wurde ihr das alte Fährdorf, von wo man nach Rügen hinüber setzte, mit der dazu gehörigen Feldmark gegen Entrichtung der Summe von neunzig Mark Denare Rügenscher Münze überlassen, und nach der Südseite erhielt sie einen Teil des dort an die Stadt stoßenden fürstlichen Waldes zum Geschenk. Wahrscheinlich war es der Wald, wo achtzig Jahre früher der heidnische Opferhain Bukow genannt wird, auf dem Festlande dem Dänholm gegenüber; noch in jüngster Zeit hat man bei der Herstellung der neuen Schiffswerft in dieser Gegend alte Baumstämme aus der Erde an das Tageslicht befördert*). Zu dem Geschenk dieser Holzung, welches für die junge Stadt von dem höchsten Wert war für die Häuser- und Schiffsbauten, fügte der Fürst noch die nahe gelegene Insel Strela, welche seither Eigentum der Stadt war. Mit der Weidegerechtigkeit in den innerhalb ihrer Grenzen gelegenen Wäldern und Feldern erhielt sie auch die niedere Jagd; nur das Hochwild der Hirsche und Rehe behielt der Fürst sich vor. Auf dem Wasser wurden die Grenzen der städtischen Fischereigerechtigkeit in der liberalsten Weise normiert; auf eine Strecke von etwa drei Meilen, zwei Meilen nördlich der Stadt bis zur Südspitze von Hiddensee und von Ummanz und eine Meile südlich bis zum See von Devin, erhielten die Bürger von Stralsund das Recht, in der Meerenge zwischen Rügen und Pommern zu fischen. Allerdings war das Recht kein ausschließliches; es sollte auch den andern Untertanen des Fürsten gemeinsam sein, und auch Fremde konnten zugelassen werden, doch nur gegen besondere Erlaubnis des Fürsten oder der Stralsunder. Auf den kleineren Binnengewässern in der Umgebung der Stadt behielt sich der Fürst die Fischereigerechtigkeit in den fürstlichen Mühlenteichen vor. Die Anlage von Mühlen war wie die Anlage von Krügen, hier überall fürstliches Regal, und eine nicht unbedeutende Quelle der fürstlichen Einkünfte.

Mit dieser Erwähnung der fürstlichen Mühlenteiche in der Umgebung Stralsunds tritt zuerst eine geschichtliche Andeutung jenes großen Netzes zusammenhängender Gewässer hervor, welches später die Stadt im weiten Bogen von Nordwest, West, Südwest und Süden her umschloss und recht eigentlich die Grundlage ihrer natürlichen Festigkeit bildete. Die Teiche in der späteren Gestalt sind jedenfalls erst künstliche Anlagen; selbst die schon im Jahre 1240 erwähnten fürstlichen Mühlenteiche sind wahrscheinlich bereits ein Resultat künstlicher Stauungen. Zwei fließende Gewässer waren es, welche das eine im Südosten, das andere im Westen und Nordwesten die Niederung begrenzten**), auf deren Küstensaum das alte Fährdorf und die neue Stadt Stralsund lagen. Landeinwärts von der Stadt mochte die Niederung ursprünglich, wie man es in den Wendenländern an der Ostsee häufig fand, ein vielfach kupiertes, aus Sumpf und Bruch, kleineren Wasserläufen und Teichen, Buschwerk und Holzung, Wiesen und Weiden zusammengesetztes Terrain bilden. Die zunehmende Kultur entwässerte die eine Stelle, um sie in fruchtbares Ackerland zu verwandeln, und sammelte an anderer durch Stauung und Ausgrabung das Wasser an, um seine Kraft für Mühlen, für Wasserleitungen, für Befestigungszwecke zu verwenden.

*) Nach einer Notiz in einem von dem Herrn Senator Francke gehaltenen Vortrage über die älteste Baugeschichte der Stadt, dessen Manuskript von dem in den Antiquitäten Stralsunds sehr bewanderten Herrn Verfasser mir freundlichst zur Benutzung überlassen ist.
**) Das eine von Vogedehagen, das andere vom Pütter See her.

Neun Jahre waren verflossen, seit die junge Stadt von ihrem Fürsten so ausgedehnte Begünstigungen empfangen hatte. Die freiere Bewegung, welche ihr dadurch gestattet war, musste einen verdoppelten Aufschwung aller ihrer Kräfte zur Folge haben: da traf sie mitten in der besten Entwicklung ein schwerer Schlag, der das kaum Begonnene abermals mit Vernichtung bedrohte.

Der Schlag ging diesmal nicht vom Wendentum, nicht von feindlicher Fürstenmacht aus: es war eine Stadt, und zwar eine Deutsche Stadt, welche ihren schweren Arm auf die aufstrebende Rivalin legte.

Wir haben früher gesehen, wie Lübeck nach der Befreiung vom Dänischen Joch rasch von Staffel zu Staffel der Macht sich emporschwang. Aber die Dänischen Könige konnten es sobald noch nicht vergessen, dass sie die reiche Stadt an der Trave ein paar Jahrzehnte lang ihre Stadt genannt hatten. So lag König Erich IV., Plogpenning zubenannt, seit dem Jahr 1246 wieder in Fehde mit Lübeck. Er hatte ihre Schonenfahrer anhalten und berauben lassen, und hatte auch Lübeck im folgenden Sommer einen glücklichen Streifzug nach Moen gemacht, so ward dieser Erfolg doch wieder wett gemacht durch den Verlust von fünf reichbeladenen Schiffen, welche die Dänen im Sunde fortnahmen. Der kleine Krieg hatte mit wechselndem Erfolge fortgedauert: da gelang es im Jahr 1249 den Lübeckern, einen großen Schlag auszuführen. Sie hatten insgeheim eine starke Flotte ausgerüstet und als dann im Sommer König Erich in Estland abwesend war, steuerte die Lübische Flotte unter dem Kommando ihres Admirals Alexander von Soltwedel gegen die Dänischen Inseln. Die Expedition hatte einen glänzenden Erfolg. Auf Seeland fiel das einst von Bischof Absalon erbaute feste Schloss von Kopenhagen; hier wie später auch auf Fühnen wurden eine Menge von Ortschaften verheert und geplündert; die Bewohner wurden zum Teil als Gefangene mitgeführt; eine reiche Beute von Gütern und Kostbarkeiten aller Art ward an Bord der Flotte gebracht.

An den Rachezug gegen Dänemark schloss sich eine nicht minder erfolgreiche Kampagne gegen Stralsund. Über die eigentliche Veranlassung fehlt es an genauen Nachrichten; die späteren Lübischen Geschichtsschreiber werfen die Schuld auf Stralsund, wie die Pommerschen umgekehrt auf Lübeck. Jene wissen davon zu sagen, dass die Bürger von Stralsund den Lübeckern zu Wasser und zu Lande feindlich gegenüber standen und ihnen nach Kräften zu schaden suchten. Diese — die Pommern — stellen die Sache so dar, als sei der Überfall ins Werk gesetzt ohne alle vorhergegangene Veranlassung von Seiten Stralsunds; der Neid der Lübecker gegen die junge rasch aufblühende Rivalin am Sunde soll das geheime Motiv gewesen sein**).

Die Wahrheit liegt wahrscheinlich, wie so häufig, auch hier in der Mitte, und beide Parteien haben gleichviel Recht. Schon früh hatten die Lübecker Handelsverbindungen an den Rügenschen Küsten; bereits im Jahr hatten sie von Wizlaw I. ein wertvolles Privilegium erhalten; sie erhielten dadurch außer der Garantie freier Hin- und Rückfahrt die Zusicherung der Rechtspflege nach Lübischem Recht durch einen von ihnen und einen vom Fürsten zu erwählenden Richter, eine wenigstens teilweise Befreiung vom Strandrecht, freien Holzhieb für ihren Bedarf in den fürstlichen Wäldern, mit Ausnahme des Wildparks auf Borhöwed, endlich eine feste Regulierung der Schifffahrtsabgaben und Zölle, wodurch sie von Willkürlichkeiten und Übervorteilungen durch die fürstlichen Beamten geschützt waren. Man kann sich denken, wie eifrig die strebsamen Handelsherren darauf bedacht gewesen sein werden, so große Vergünstigungen auszubeuten und von dem Verkehr mit einem Lande, dessen natürlicher Reichtum sich soeben erst einer höheren Kultur erschloss, den möglichst großen Vorteil zu ziehen. Nun sehen sie plötzlich an den Küsten, die ihnen so gewinnreichen Verkehr versprachen, eine gefährliche Nebenbuhlerin sich erheben. Stralsund, die Rügensche Stadt, zog naturgemäß bald den größten Teil des Ausfuhr- und Einfuhrhandels an sich; die Zollfreiheit, welche seine Bürger genossen, und die andern mannigfachen Begünstigungen der eigenen Stadt durch die Landesherren mussten den Lübeckern die Konkurrenz auf das Äußerste erschweren. Ein Gefühl der Missgunst und der Eifersucht gegen das jugendlich aufstrebende Stralsund war daher bei ihnen sehr erklärlich. Auf der andern Seite lag es in der Natur der Sache, dass die Stralsunder, die bei der Ausdehnung ihrer Betriebsamkeit vielfach auf die Konkurrenz der durch Kapital und alte Verbindungen überlegenen Lübecker stießen, diese auch eben nicht mit den freundlichsten Augen ansahen, und im Geheimen den Wunsch hegten, die unbequemen Konkurrenten ganz los zu werden. Kleine Reibungen der Schiffer und Händler, wie sie auf dem engen Schauplatz der beiderseitigen Tätigkeit nur allzu leicht vorkommen konnten, mussten die bereits gereizte Stimmung noch mehr verbittern.

Nun kam der Krieg zwischen Lübeck und Dänemark, der König von Dänemark war Ober-Lehnsherr des Fürsten von Rügen und die Gefahr lag nahe, dass auch Rügen in den Krieg mit verwickelt ward. Bereits trauten die Lübecker dem Frieden so wenig, dass sie sich trotz des noch gültigen Vertrags von 1224 bei den Fürsten von Rügen um einen besonderen Schutzbrief für ihre Angehörigen bewarben, welche sich zum Fischfang oder Fischhandel nach den Rügenschen Küsten begeben wollten. Die Fürsten von Rügen sahen in dem Zerwürfnis zwischen Lübeck und Dänemark keinen hinlänglichen Grund, weshalb sie den für ihr Land so vorteilhaften Verkehr mit Lübeck abbrechen sollten, und gewährten den Geleitsbrief*). Auf Grund desselben stellten sich die Lübecker wie früher ein, und nun scheint der Konflikt mit den Stralsundern zum Ausbruch gekommen zu sein. Zwar fehlen uns über die eigentliche Veranlassung die Nachrichten, aber aus dem was folgte, können wir schließen, dass die Lübecker einen besonderen Grund zur Rache zu haben glaubten. Die Stralsunder mochten bei den ohnehin gespannten Verhältnissen eine Gelegenheit vom Zaune gebrochen haben, mit den Lübeckern anzubinden.

*) Er ist bereits von Jaromar II., doch für seinen Vater mit ausgestellt, der also damals noch am Leben war. Die Urkunde hat kein Datum, aber da Fürst Wizlaw I. am 7. Juni 1249 starb, so muss sie vorher ausgestellt sein. Das kurze Schreiben lautet in der Übersetzung: „I, von Gottes Gnaden Fürst der Rügianer, den Konsuln und allen Bürgern in Lübeck Gruß und Alles Gute. Wir tun Eurer Gemeinde kund, dass wir zugleich mit unserm Vater Denen aus Eurer Stadt, die zum Fischfang nach Rügen schiffen wollen, in unserm Lande und in unseren Hafen festes und sicheres Geleit gewähren“, — Unter dem Hafen ist wohl nicht geradezu Stralsund, sondern die Meerenge des Gellen verstanden, die im Großen und Ganzen als Hafen betrachtet ward.

Kam diese Nachricht nach Lübeck kurz vor dem Abgang der großen Flotte nach Dänemark, so wird dieselbe den Befehl mitgenommen haben, nach den Dänen auch mit den Stralsundern abzurechnen. Die letzteren waren sorglos und erwarteten keinen Feind von der Seeseite her; denn mit Dänemark standen sie in gutem Einvernehmen, und dass der Arm Lübecks so weit reiche, glaubten sie schwerlich. Da nachdem sie ihr Werk auf den Dänischen Inseln vollendet, wovon man auf Rügen noch keine Kunde haben mochte, erscheint die Lübische Flotte vor Stralsund. Dass es zur Nachtzeit geschehen, ist wahrscheinlich nur eine Ausschmückung unserer Pommerschen Chronisten, um den leichten Fall der Stadt begreiflich und die Heimtücke der Feinde in soviel schwärzerem Lichte erscheinen zu lassen. Wie dem auch sei, als Tatsache dürfen wir ansehen, dass Stralsund mit leichter Mühe von den siegestrunkenen Lübeckern genommen ward. Die gehasste Nebenbuhlerin ward geplündert, und soviel sich in der kurzen Zeit tun ließ zerstört; ihre reichsten Bürger wurden an Bord der Schiffe gebracht und mussten nach Lübeck in die Gefangenschaft wandern, um später ihre Freiheit mit schwerem Lösegelde zu erkaufen.

Als nach solchen Siegen die Lübische Flotte beutebeladen wieder in die Trave einlief, ward sie mit Triumph und Jubel empfangen; Alexander von Soltwedel, der glückliche Feldherr, erhielt als Belohnung seiner Verdienste um die Stadt einen Sitz im Rat — da schon ein Bruder von ihm sich unter der Zahl der Senatoren befand, eine seltene Ausnahme von der herkömmlichen Satzung des Lübischen Rechts, wonach Bruder und Bruder, sowie Vater und Sohn nicht zusammen im Rat sitzen durften*).

*) Detmar, bei Grantoff, Lüb. Thron. I. p. 128. — Vergl. Frensdorff, Stadt- und Gerichtsverfassung Lübecks p, 100.

Der von den Lübeckern gegen Stralsund geführte Schlag hatte natürlich den vollständigen Bruch mit den Rügenschen Fürsten zur Folge.

Unsere Pommerschen Chronisten wissen große Dinge von dem Schaden zu berichten, den zur Vergeltung die Landesherren Stralsunds den Lübeckern zugefügt haben, so dass die Letzteren die Gefangenen hätten frei lassen und für das angerichtete Unheil Ersatz leisten müssen. Man kann dies in seinem historischen Wert dahin gestellt sein lassen; wahrscheinlich liegen hier keine bestimmten Nachrichten, nur patriotische Fiktion zu Grunde. Annehmen darf man indes, dass beide Teile unter dem Kriegszustande litten. Auch die Lübecker machten ohne Zweifel die Erfahrung, dass die Rügianer keine so ganz verächtlichen Gegner waren, als sie nach dem leichten Siege über Stralsund geglaubt hatten. Rügensche Kaper werden, wie früher, die Ostsee durchschwärmt und manchen Lübischen Kauffahrer als gute Prise davon geführt haben. Ein Fall dieser Art gab sogar zu einer päpstlichen Intervention den Anlass. Unter den Gefangenen, welche Rügensche Kaper gemacht hatten, befanden sich auch einige vornehme Bürger aus Lübeck, welche gegen die Ungläubigen in Preußen und Livland das Kreuz genommen hatten. Die Kreuzfahrer standen damals überall unter der speziellen Obhut der Kirche, und da die Rügianer auch die Lübischen Kreuzfahrer nur gegen Lösegeld entlassen wollten, ward der Fall sogar nach Rom gemeldet. Auf dem päpstlichen Stuhl saß damals der energische Innocenz IV. Er erließ sofort ein Dekret an den Bischof und Probst zu Ratzeburg, in welchem er dies Verfahren als eine Beleidigung Gottes und des heiligen Stuhls brandmarkt und befiehlt, die Fürsten von Rügen unter Androhung der strengsten Kirchenstrafen zur sofortigen und unentgeltlichen Freilassung ihrer durch das Kreuz geweihten Gefangenen anzuhalten.

Wir wissen nicht, ob sich Jaromar II. — sein Vater war inzwischen gestorben — dem päpstlichen Machtgebot gefügt hat. Die Feindseligkeiten zwischen Rügen und Lübeck dauerten vier Jahre. Dann machte sich vermutlich auf beiden Seiten die Einsicht geltend, dass es im beiderseitigen Interesse sei, das alte Verhältnis freundschaftlichen Verkehrs wieder herzustellen, bei dem man sich so wohl befunden hatte. Im Sommer 1253 begannen die Verhandlungen, welche im September des nächsten Jahres zu Wismar zum Abschluss gebracht wurden. Der Fürst von Rügen gebrauchte Geld, und die Lübecker knauserten damit nicht, wo sie große Handelsvorteile dafür erlangen konnten. So ward der Friede dahin abgeschlossen, dass Lübeck dem Fürsten Jaromar die Summe von zweihundert Mark Lübischer Pfennige zahlte*), wogegen der Letztere der Stadt Lübeck die Privilegien, welche sie unter seinem Vater seit dem Jahr 1224 gehabt hatten, aufs Neue erteilte, zunächst allerdings nur auf ein Jahr und mit Vorbehalt halbjähriger Kündigung; allein da sich Jaromar verpflichtete, das empfangene Geld im Fall der Kündigung zurück zu zahlen, so hatte es damit seine guten Wege. Drei namhafte Ritter, ein Mörder, ein Kahlden und ein Wostenhove mussten sich dafür verbürgen, dass der Fürst den Vertrag halten werde, unter der ausdrücklichen Verpflichtung, sich im Fall von Differenzen als Gefangene in Wismar zu stellen, und diese Stadt nicht vor einer vollständigen Beilegung der Sache zu verlassen **). Man sieht, die Herren von Lübeck waren sehr vorsichtig, und nahmen lieber eine Garantie mehr als weniger.

Von dieser Seite ward der Friede nicht wieder gestört, sonst war die kurze Regierung Jaromars II. (1249—60) namentlich gegen das Ende stürmisch und voll blutiger Wirren. Es waren die Dänischen Händel, welche auch den Fürsten von Rügen in ihren Strudel hinein zogen. Das Jahr 1259 sah ihn siegreich auf Seeland, Kopenhagen ward erobert, das Dänische Landvolk in blutiger Metzelei bei Nestved bis zur Vernichtung geschlagen, und noch einmal verbreiteten furchtbare Verheerungen, wie vor Alters, den Schrecken der Rügenschen Waffen. Fern bis nach Island erscholl der Ruf Jaromars und noch bei späten Geschlechtern der Dänen erregte sein Name nur Hass und Abscheu. Aber der furchtbare Gegner fand in diesen wilden Kämpfen ein frühzeitiges Ende, wie Dänische Sage berichtet, durch die Hand eines Weibes.

*) Nach heutigem Gelde 933 Thlr, 10 Sgr,, wenn man den damaligen Münzfuß, wonach drei Mark Pfennige aus der Mark fein Silber geprägt wurden, auf den 14 Thaler - Münzfuß reduziert, wonach 14 Thaler Preuß, Cour, aus der Mark fein geprägt wurden.
**) Die Urkunde, datiert Wismar vom 19. September 1234, bei Fabricius. Damit vergl. die Urkunde, Bart, 1553, durch welche die Verhandlungen eingeleitet wurden, bei Fabricius III. Nachtrag No. LIX b. p. 1.

Was ward unter solchen Stürmen aus der Lieblings-Anlage der Rügenschen Fürsten am Sunde von Strela? — Es ist gewiss das glänzendste Zeugnis für die jugendkräftige Elastizität des damaligen städtischen Lebens in unseren Gegenden, dass Stralsund nach einer so schweren Katastrophe, wie die Eroberung durch die Lübecker in seiner Geschichte bilden musste, unter all den Erschütterungen, welche den Ausgang der Regierung Jaromars II. erfüllten, auf der Bahn der Entwicklung nicht nur nicht zum Stillstand gebracht ward, sondern im Gegenteil einen neuen und ungeahnten Aufschwung nahm.

Gerade die fünfziger Jahre des dreizehnten Jahrhunderts sind es, in denen die sogenannte Neu-Stadt zuerst hervor tritt, durch welche die Stadt einen beträchtlichen Zuwachs empfing. Es lag in der Natur der Sache, dass die ersten Ansiedler sich in der Nähe des alten Fährdorfes niederließen, dessen Territorium, wie wir sahen, bereits 1240 der Stadt überwiesen ward. Aus diesem alten Fährdorf mit den darin und daneben entstandenen Anlagen bestand die Stadt Stralsund ursprünglich; die Altstadt, wie man sie später im Gegensatz zu der Neu-Stadt nannte, ward durch die größere nördliche Hälfte der heutigen Stadt gebildet. Die südliche Grenze der damaligen ältesten Stadt, durch Wall und Graben bezeichnet, lief von dem Katharinenberg östlich über den Apollonienmarkt und weiter zwischen der Heiligen-Geist- und Rangen-Straße durch, über Faulen-Hof, Papenstraße und Mattenhagen hinab gegen den Hafen zu.

Aber diese Grenzen erwiesen sich bald als zu eng für die betriebsame schnell sich mehrende Einwohnerschaft. Schon 1256 finden wir die Neu-Stadt urkundlich erwähnt; Ratmänner und Gemeinde schenken dem jüngst angelegten Heiligen-Geist-Hause in Stralsund eine kleine als Ackerland nutzbare Insel neben der Neu-Stadt. Seit dieser Zeit wird dieser neue Stadt-Teil sowohl in Urkunden als im ältesten Stadtbuch mehrfach erwähnt, und gegen das Ende des Jahrhunderts war er im Wesentlichen vollendet; Stralsund hatte, wenn man von den Vorstädten absieht, deren damalige Lage und Ausdehnung sich weniger genau bestimmen lässt, seinen heutigen Umfang erreicht.

Dabei dehnt sich die Betriebsamkeit der Sundischen Bürger bereits über die eigentlichen Stadtgrenzen in der Umgegend aus. In demselben Jahr 1256, wo wir die Neu-Stadt zum ersten Mal hervortreten sehen, erwarben zwei Bürger von Stralsund, Heinrich Holewechte und Dietrich von Demmin, vom Fürsten die Erlaubnis zur Anlage von Mühlen an dem Gewässer, welches aus dem Pütter See kommend bei der Stadt ins Meer floss. Welchen hohen Wert man dieser Erwerbung beilegte, trotzdem dass bereits eine andere Mühle, dort bestand, und die Zahl der anzulegenden Mahlgänge auf höchstens fünf festgesetzt ward, erhellt aus der bedeutenden jährlichen Erbpacht, welche der Fürst für die Ausübung dieser Mühlengerechtsame erhielt. Sie betrug nicht weniger als 150 Drömt Getreide (1.800 Scheffel), ein Drittel Roggen, ein Drittel Gerste und ein Drittel Hafer. Konnte eine für die damalige Zeit immerhin hoch zu nennende Pacht für die Errichtung weniger Mühlenanlagen bewilligt werden, so muss man daraus auf einen ausgedehnten Konsum und einen wahrscheinlich noch ausgedehnteren Ausfuhrhandel schließen. Die Fürsten von Rügen aber überließen mit sicherem Takt die Ausbeutung ihres Regals der bürgerlichen Privatindustrie und begnügten sich, ihren Einnahmen einen bedeutenden Zuwachs zu verschaffen, ohne sich selbst mit dem industriellen Betrieb zu befassen.

War die Stadt schon unter der stürmischen und drangvollen Regierung des zweiten Jaromar nicht still gestanden, so nahm ihr Fortschritt unter der umsichtigen Regierung seines Sohnes und Nachfolgers Wizlaws II. (1261—1302) die großartigsten Dimensionen an. Der Fürst, die überlieferte Politik seiner Vorgänger fortsetzend, war der Stadt förderlich wo er konnte, und diese ging ihrerseits mit solcher Kraft und Selbständigkeit auf der einmal betretenen Bahn vorwärts, dass auch kleinere Hemmungen mit Leichtigkeit überwunden wurden.

Ein solches Hindernis auf ihrer Bahn fand die Stadt gleich im Anfange der Regierung des genannten Fürsten. Es war eine jüngere Nebenbuhlerin, die sich in ihrer nächsten Nähe etabliert hatte, mit dem guten Willen, der älteren Schwester den Rang abzulaufen. In den sechziger Jahren sehen wir in der unmittelbaren Umgebung von Stralsund, wahrscheinlich an der Nordwest-Seite, eine neue Stadt des Namens Schadegard auftauchen. Über ihre Entstehung, die Zeit, Art und Veranlassung ihrer Gründung wissen wir nichts Näheres. Der Name gibt nur einen sehr unsicheren Anhalt. Es mag ursprünglich ein fester Wartturm gewesen sein. Die Aufgabe der Besatzung war, ein scharfes Auge auf das Fahrwasser des Gellen zu haben, damit sich kein Feind unversehens der Stadt Stralsund nahe. Der Überfall der Lübecker im Jahr 1249 mochte die Rügenschen Fürsten zuerst zu dieser Anlage veranlasst haben. Früher existierte sie schwerlich; sonst wäre auch Schadegard wohl 1240 bei der Bestimmung der Grenzen des städtischen Gebiets von Stralsund genannt. Dann mochten sich in dem schützenden Rayon der neuen Befestigung einheimische und fremde Ansiedler niederlassen, und die Fürsten, stets bereit solche Anlagen als einen Zuwachs der Macht ihres Landes zu fördern, erhoben sie zur Stadt, zunächst wohl nur mit Wendischem Recht.

Die Bürger von Stralsund fühlten sich nicht ohne Grund durch die neue Nachbarschaft geniert; Schadegard lag mit seinem Wartturm unmittelbar vor den Toren der Stadt und beherrschte das Fahrwasser des Gellen, die Hauptstraße für den See-Verkehr von Norden und Westen nach Stralsund. Man setzte demnach alle Hebel in Bewegung, um der gefährlichen Konkurrenz ledig zu werden. Im Jahr 1269 war Wizlaw II. persönlich in Stralsund anwesend. Der Rat der Stadt machte so eindringliche Vorstellungen, die er vielleicht durch das Gewicht klingender Gründe unterstützte, dass der Fürst die neue Stadt fallen zu lassen versprach. In einer noch jetzt auf dem Stralsunder Rathause aufbewahrten Urkunde, dem einzigen Dokument, durch welches wir Kunde von dem ganzen Vorgang erhalten haben, erklärt der Fürst, dass er nach Anhörung des Rats seiner geliebten Bürger von Stralsund, zu deren größerem Nutzen und Frommen beschlossen habe, seine neue Stadt Schadegard hier gänzlich eingehen zu lassen, und sie später an einen andern passenderen Ort zu versetzen, wo es seinen Getreuen und seinen geliebten Ratmännern von Stralsund zweckmäßig erscheinen würde.

So war mit wenigen Federzügen die gefährliche Nebenbuhlerin beseitigt. Zwei Jahre später hatte das Vernichtungs-Dekret bereits seine Ausführung erhalten und der einst für die Kirche von Schadegard bestimmte Platz konnte mit seiner Umgebung einem Stralsundischen Gärtner vom Rat auf zwölf Jahre verpachtet werden*). Was aus den Einwohnern der neuen Stadt geworden ist, wissen wir nicht. Da der Fürst ohne Weiteres über sie verfügt, scheinen sie noch nach Wendischem Recht angesessen gewesen zu sein. Die Deutschen Elemente, wenn sie dort vorhanden waren, wird Stralsund an sich gezogen haben; die Wenden dagegen werden, wie dies auch sonst geschah, nach andern Orten verpflanzt sein.

*) Die Kirchhöfe lagen in älterer Zeit auch in den Städten, wie noch heute in den Dörfern, um die Kirche herum. Der Kirchhof von Schadegard war also der Platz, wo die Kirche der neuen Stadt stand oder doch erbaut werden sollte.

Solches meteorartige Auftauchen und Verschwinden von Doppel-Städten ist auch sonst in unseren Gegenden nicht ohne Analogie. Im Jahr 1248 erhält das Mecklenburgische Güstrow von seinem Fürsten gegen ein „Geschenk“ die Erlaubnis, eine daneben liegende neue Stadt, die ihr Sorge machte, zu vernichten. Ebenso sehen wir in den ersten Jahrzehnten des folgenden Jahrhunderts neben der bereits Deutschen Stadt Garz eine andere Deutsche Stadt Rügendal auftauchen, um nach ein paar Jahren wieder in Garz auf- und unterzugehen, wie es scheint allerdings nicht durch einen Machtspruch des Fürsten; denn sie hatte bereits Rat und Gemeinde nach Deutschem Recht. — Die Leichtigkeit von Städtegründungen in jener Zeit, der rapide Aufschwung, den sie in den meisten Fällen nahmen, der dadurch für das ganze Land gesteigerte Wohlstand verführte wie es scheint auch hier und da zu Anlagen, denen keine innere Berechtigung zur Seite stand, am wenigsten dort, wo bereits ältere Städte florierten. Und die Rügenschen Fürsten waren, wie das Beispiel von Schadegard und Rügendal zeigt, vernünftig genug, nicht auf einem Irrtum zu bestehen.

Kaum war die Gefahr beseitigt, welche die Entstehung einer nahen rivalisierenden Stadt den Bürgern von Stralsund drohte, so traf die Stadt abermals ein herbes Missgeschick. Ein großes Feuer, welches am 15. Juni 1271 ausbrach, legte einen großen Teil der Häuser in Asche. Große verheerende Brände waren in unseren Städten im Mittelalter viel häufiger als in unseren Tagen. Namentlich im Anfange, ehe die Städte einen gewissen Grad der Blüte und des Wohlstandes erreichten, war Holz und Lehm das gewöhnliche Baumaterial, und Strohdächer, wie wir sie heutzutage in unseren Dörfern finden, waren damals auch in den Städten herkömmlich. Man kann sich denken, wie bei solcher Nahrung die Flammen im Nu eine unberechenbare Ausdehnung gewannen, vor Allem wenn der Wind, der an den Seeküsten selten ganz ruht, den Brand anfachte. Und dazu lag das Feuer - Löschwesen noch in den Windeln; man hatte weder unsere durch alle Erfindungen moderner Technik vervollkommneten Spritzen, noch jene besonderen Korps, welche besonders für diesen Dienst organisiert sind. Daher finden wir auch zahllose Brände in den älteren Annalen der Städte verzeichnet. Werfen wir nur auf das 13. Jahrhundert und speziell auf unsere Ostseeküsten einen Blick, so finden wir allein in Lübeck drei größere Brände erwähnt in den Jahren 1209 (?), 1251 und 1276; der zweite verzehrte die Stadt mehr als halb und der dritte soll noch größer gewesen sein. In Rostock finden wir 1262, in Wismar 1266 einen großen Brand notiert; das landesherrliche Schloss in letzterer Stadt fiel 1286 den Flammen zum Raube. 1291 brannte das Kloster Doberan und auch Hamburg hatte schon 1284 seinen großen Brand. Außer den Wohnungen, nicht selten auch den Kirchen und anderen öffentlichen Gebäuden gingen bei solchen Gelegenheiten unermessliche Mengen von Gütern verloren; Versicherungsanstalten existierten noch nicht, und so konnte das gefräßige Element in wenigen Stunden den Wohlstand und die Arbeit von Tausenden, ja ganzer Städte vernichten.

Aber auch solche Kalamitäten waren nicht im Stande, die jugendliche Triebkraft unserer Städte zu brechen. Man fing frischen Muths von vorne an, und da man den Grund des Übels in dem leichten Material der Gebäude erkannte, so gaben derartige Unfälle die Veranlassung, bei den Neubauten fortan dem feuerfesten Stein den Vorzug zu geben. Der gebrannte Ziegel, unser nordisches Baumaterial, verdrängte auf den Dächern das Stroh und Rohr und in den Wänden das Holz und den Lehm; doch herrschte neben der ganz massiven Konstruktion der Mauern noch lange Zeit die gemischte sogenannte Fachwerksbauart, indem man ein Gerippe hölzerner Ständer und Balken mit Ziegeln ausfüllte.

Auch in Stralsund wird die allgemeinere Verwendung des solideren Stein-Materials durch die Überlieferung auf den großen Brand von 1271 zurückgeführt. Wir können es dahin gestellt sein lassen, ob es wahr ist, wie die Sage ging, dass die Holländer den Bürgern der Stadt die Kapitalien zum Neubau vorschossen und ihnen die Ziegel lieferten; Tatsache ist, dass wir in dem letzten Viertel des Jahrhunderts bereits eigene Ziegeleien in der nächsten Umgebung Stralsunds finden. Das Unglück hatte eine neue Industrie erzeugt*).

*) Die Tatsache des großen Stralsunder Brandes ist die Veranlassung geworden, dass die spätere Sage hier einen zweiten Überfall der Lübecker in die Geschichte Stralsunds eingewoben hat. Unsere Pommerschen Chronisten des 16. Jahrhunderts, Kantzow, Klempzen, Bal. v. Eckstedt berichten bald zum Jahr 1273, bald zum Jahr l277 einen abermaligen Überfall der Lübecker, bei dem Stralsund geplündert und verbrannt sei. Und gleich darauf lassen sie dann die Stadt noch durch eine natürlich entstandene Feuersbrunst heimgesucht werden. — Aber während der erste Überfall der Lübecker vom Jahr 1249 auch durch Lübische Zeugnisse eine Bestätigung fand und in den Rahmen der uns erhaltenen Lübischen und Rügenschen Urkunden sehr gut hineinpasst, so fehlt es hier bei dem nur durch unsere Chronisten des 16. Jahrhunderts berichteten zweiten Überfall an jeder anderweitigen Beglaubigung, und die Art, wie sie den vom äußeren Feind verursachten Brand der Stadt mit dem gleich darnach angesetzten natürlichen Brand verbinden — der kürzere hochdeutsche Kantzow, herausgegeben von v. Medem, lässt den letzteren ganz fort — ist wohl geeignet, uns über die Entstehung der ganzen Nachricht Aufschluss zu geben. Man fand die Notiz vom Brande der Stadt vor. und da ein solcher bereits früher einmal von feindlichen Lübeckern entzündet war, so erfand die Sage auch jetzt eine gleiche Veranlassung, und indem sich daneben die Überlieferung von dem natürlichen Feuer erhalten hatte, so registrieren unsere Chronisten nun Beides, geben aber schon in den unrichtigen Jahreszahlen ihr Schwanken zu erkennen; der Brand fand nach dem Stadtbuch 1271 am Tage St. Veits statt, nicht 1273 oder gar 1277.

Mit der großen Feuersbrunst von 1271 schließt sich die Reihe der Unfälle, mit denen die Stadt seit ihrem ersten Entstehen zu ringen hatte. Wenigstens ist uns aus den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts keine Kunde geblieben von einem schweren Missgeschick, wodurch die Stadt betroffen wäre. Vielmehr finden wir sie in dieser Zeit unaufhaltsam vorschreitend auf dem Wege zu Wohlstand und Macht. Der Fürst von Rügen fuhr fort, die Schöpfung seiner Vorfahren mit den unzweideutigsten Beweisen seiner Gunst zu überhäufen. Im Jahr 1273 fixiert er, nach Übereinkunft mit Rat und Bürgerschaft, das Grundgeld, welches ihm die Stadt jährlich entrichten soll, auf die mäßige Summe von 200 Mark. Allerdings ward die beschränkende Klausel hinzugefügt, dass bei einer etwaigen Erweiterung der Stadt über den bisherigen Befestigungsumkreis eine billige Erhöhung des Grundgeldes vorbehalten bleibe. Aber schon 1290 lässt der Fürst auch diese Klausel fallen, und übernimmt damit für alle Zukunft die Verpflichtung, jene mäßige Grundrente unter keinen Umständen zu erhöhen. Dazu kamen in dem zuletzt genannten und dem nächstfolgenden Jahre noch andere wertvollere Verleihungen. In dem Umkreis einer Meile von der Stadt verlieh ihr der Fürst an allen von ihr bereits erworbenen oder noch zu erwerbenden Besitzungen das Ober-Eigentumsrecht, welches ihm nach Wendischem Recht bis dahin zugestanden hatte. Auch die Gewässer innerhalb dieser Grenzen gehen — durch Kauf — in den Besitz der Stadt über; sie erhält die Fischerei-Gerechtigkeit auf dem fürstlichen Mühlenteich; nur behält sich der Fürst das Recht des Mitfischens für seinen eigenen Tisch vor, wenn er selbst in seiner getreuen Stadt anwesend ist. Weiter wird derselben die Anlage von Wassermühlen in beliebiger Zahl freigegeben, gegen eine jährliche feste Abgabe, die für jeden Mahlgang dieser Art auf dreißig Drömt (360 Scheffel) Getreide normiert ward. Zwei Windmühlen gestattete der Fürst ohne alle Abgaben anzulegen. Alle diese Besitzungen an Ländereien und Gewässern wurden dem Stadtrecht unterworfen, und damit von Wendischer Verwaltung und Recht emanzipiert. Ja, der Fürst geht noch weiter: er erteilt der Stadt das Recht, an den Küsten feines Fürstentums überall zur Zeit des Fischfangs ihre Vitten anzulegen, dort ihre eigenen Vögte einzusetzen, und nach Lübischem Recht alle Ausschreitungen zu richten, mit Ausnahme der dem Fürsten vorbehaltenen Hölle, wo es an den Hals geht. Dazu die Versicherung, dass die Bürger der Stadt unter keinem Rechtsvorwande, möge er kirchenrechtlicher, zivilrechtlicher oder lehnrechtlicher Natur sein, gehalten sein sollen, vor einem anderen als ihrem städtischen Gericht zu Recht zu stehen; — ferner die Befreiung von der Pflicht der Heerfolge außerhalb der Stadtmauern, welche sie dagegen zu verteidigen gehalten sind; dann das Versprechen, jemals weder in der Stadt noch auf ihrem Gebiet ohne ihre ausdrückliche Einwilligung Kollegiat-Kirchen zu gründen oder geistliche Orden einzuführen; — endlich die Befreiung von allen Zöllen, Lasten und Abgaben und die Zusicherung des fürstlichen Schutzes gegen alle und jede Feinde: — das ist in Kürze die Summe der neu erteilten oder aufs Neue bestätigten Privilegien*). Man muss gestehen, die Fürsten von Rügen knauserten nicht mit ihrer Gunst gegen die Stadt, und allerdings entsprangen, auch abgesehen von den Geldsummen, welche für die Erteilung derartiger Gnadenbriefe in die fürstliche Kasse flossen, aus dem Aufschwung der Stadt und ihres Verkehrs so große allgemeine Vorteile für das ganze Land, dass auch außerordentliche Privilegien und Bevorzugungen gerechtfertigt erschienen.

Wir machen auf diesem Punkt mit der Geschichte der Stadt Halt. Sie hat eine breite solide Basis kommunaler Selbständigkeit erreicht, und damit die feste Grundlage für die großartige und glanzvolle Entwicklung der nächsten drei Jahrhunderte.

Werfen wir jetzt einen kurzen Blick auf die äußere Erscheinung der Stadt, wie sie sich uns im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts darstellt.

An der Stelle, wo im Anfang des Jahrhunderts noch ein dürftiges Wendisches Fährdorf lag, umgeben von Bruch und Wald, durchsetzt von Bächen und Tümpeln, spärlichen Weide- und Ackerplätzen, sehen wir jetzt eine schmucke Deutsche Stadt in einer freundlichen der Kultur gewonnenen Umgebung. Wald und Busch ist ausgerodet, nur in dem später so berühmt gewordenen Hainholz erhielt sich ein schwacher Rest der benachbarten Wälder. Lohnende Äcker und Gärten mit allerlei Gemüsen und Früchten umgeben die Stadt. Die Gewässer haben ihren naturwüchsigen Lauf aufgeben müssen und sind von Menschenhand, in den Dienst der Kultur gezwungen. Sie speisen Wasserleitungen*) und treiben Mühlen, durch ihre Fische sind sie neben dem Meer auf der andern Seite eine Nahrungsquelle für die Bewohner der Stadt; gestaut, so dass sie nicht ohne Weiteres abfließen können, bilden sie von der Landseite eine große teichartige Wasseransammlung, die für jene Zeit wirksamste Befestigung der Stadt. Schmale Dämme und Brücken führen an vier Stellen hindurch auf die Stadttore zu **). Unmittelbar vor der Stadt am Stadtgraben und an den Teichen erblicken wir industrielle Anlagen, wie Wasser- und Windmühlen, Reiferbahn und Ziegeleien, und an der Strandseite die Schiffswerft mit Allem was dazu gehört. Der Hafen war noch nicht, was er jetzt ist. Er war noch nicht so weit ausgetieft, dass die größeren Schiffe mit ihrer Ladung unmittelbar an die Brücke legen konnten. An den Brücken lagen Prame, jene breiten viereckigen Fahrzeuge mit flachem Boden, die zum Transport schwerer Lasten bei geringer Tiefe des Wassers vorzugsweise geeignet sind. Ihrer bedienten sich, gegen eine feste Abgabe, die größeren Schiffe im Hafen von Stralsund, um ihre Ladung einzunehmen oder zu löschen. Schon damals muss, nach Allem was wir darüber wissen, das Treiben der anlandenden und abgehenden Schiffe, der zwischen ihnen und der Brücke mit der mannigfaltigsten Ladung hin- und herfahrenden Prame, der Wagen und Karren, welche die Güter aus der Stadt nach dem Hafen oder vom Hafen in die Stadt brachten, das Bild des regsten Verkehrs geboten haben.

*) Das große System unterirdischer Kanäle, welche der Stadt noch heutigen Tags das Trinkwasser zuführen, stammt nach der Ansicht des Herrn Senators Francke — in dem oben angeführten handschriftlichen Aufsatz — wahrscheinlich aus dem Ende des 13. Jahrhunderts, aus der Zeit nach dem Brande von 1271.
**) Außer den jetzt noch auf der Landseite vorhandenen drei Zugängen — dem Knieper-, Tribseer- und Franken-Damm — führte in älterer Zeit auch ein Damm durch den Teich auf das Spitaler Tor zu. Der Teich, mochte er auch noch nicht allenthalben so breit und tief sein wie später, umgab, wie die Urkunden ausweisen, schon zu Ende des 13. Jahrhunderts die ganze Landseite der Stadt vom Knieper- bis zum Franken-Tor.

Inmitten dieser lebensvollen Umgebung erhebt sich die Stadt selbst. Ihren äußeren Umkreis bezeichnet ein mit Wasser gefüllter Graben und dahinter eine von gebrannten Ziegeln aufgeführte Mauer, an 24 Fuß hoch mit zahlreichen Wehrtürmen und Wiekhäusern, über die Mauern hervorragend und vorspringend. Die Stadtmauer, welche in ihrem Umkreise die Altstadt wie die Neustadt umschloss, ward erst im letzten Drittel des Jahrhunderts vollendet. Die ursprüngliche Befestigung der Stadt war der landesübliche Wall mit einem hölzernen Plankenwerk darauf. Zwar werden schon 1256 Mauern der Stadt urkundlich erwähnt, allein da später noch stellenweise das Plankenwerk als vorhanden und die Mauer als erst zu erbauen bezeichnet wird, so erhellt daraus, dass einige Jahrzehnte über der Vollendung eines so umfangreichen Werkes vergangen sind**). Durch die Mauer führen zwölf Tore, sechs auf der ziemlich eine gerade Linie bildenden Strandseite, und sechs in dem unregelmäßigen Polygon nach dem Lande zu; dazu noch kleinere Ausgangspforten an verschiedenen Stellen wie bei den Dominikanern und Franziskanern***). Innerhalb der Tore erblicken wir zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts den Grundriss der Stadt in Straßen und öffentlichen Plätzen bereits wie er sich bis auf die Gegenwart erhalten hat. Die bedeutenderen Straßen werden schon damals mit ihren gegenwärtigen Namen genannt; sie führen denselben zum Teil wie die Semelower, die Baden-, die Franken-, die Ravensberger Straße nach namhaften Bürgern der Stadt, die sich hier zuerst angebaut haben mochten.

*) Vergl. die Urkunde Wizlaws II. über die Hafenabgaben in Stralsund im Jahr 1278, Fabricius. Urk. III. p. 29.
**) Man vergleiche die Urkunde Jaromars II. (bei Fabricius II. No. LXIV), wo ein aus dem Pütter See kommendes Gewässer als neben den Mauern der Stadt (prupe murocj eivikuis) ins Meer fallend bezeichnet wird, mit den Urkunden Wizlaws II. von 12«l nnd 1274 (bei Fabricius III. 108 und 170), in deren ersterer das Plankenwerk neben dem Platz der Dominikaner, in der andern die noch nicht vollendete Mauer neben den Franziskanern erwähnt wird, zu deren Bau die Letzteren verpflichtet werden.
***) Nach der Landseite führen heutzutage nur noch fünf Tore: das Knieper-, das Spitaler-, das Küter-, das Tribseer- und das Franken-Tor. Ehemals gab es zwei Küter - Tore, ein altes und ein neues. Das eine lag wahrscheinlich zwischen dem heutigen Küter- und dem Tribseer-Tor.

In den Straßen selbst finden wir im buntesten Gemisch große und kleine Häuser und Buden, alt und neu, von Holz und von Stein, Speicher, Scheunen, Ställe und Werkstätten; dazwischen größere und kleinere Hofe und unbebaute Plätze, ganz wie es dem Bilde einer kürzlich gewordenen und noch tagtäglich werdenden Stadt entspricht*). Wer hat nicht in unseren Tagen die Beschreibung einer der zahllosen jüngst entstandenen Nordamerikanischen Städte gelesen, wo der Reisende neben dem schmuck verzierten Steingebäude das urwaldliche hölzerne Blockhaus, neben der Kirche den Stall oder den Speicher, große und kleine unbebaute Räume zwischen den bereits mit Bauten bedeckten Grundstücken erblickt? Ganz ähnlich sah es damals auch in unseren jungen Städten, im Wendenlande aus. Doch war in Stralsund an manchen Stellen, namentlich am Markt und in der Nähe der Tore der Raum zu Ende des Jahrhunderts, in dem sich unsere Darstellung bewegt, schon so gesucht, dass die Stadt von Händlern und Handwerkern, welche in Buden hier ihre Ware feilboten, eine für jene Zeit beträchtliche Miete bezog**).

Vor Allem gesucht waren die Standplätze auf den Märkten, an und in den Rathäusern. Wie in Stralsund die Altstadt und die Neustadt jede ihren Markt hatten, so hatte auch eine jede ihr Rathaus ***); aber der alte Markt mit dem altstädtischen Rathaus gewann bald eine hervorragende Bedeutung. Hier drängte sich der Verkehr; in Buden und unter freiem Himmel boten die Verkäufer ihre Waren aus und das Erdgeschoß des Rathauses war angefüllt mit Standplätzen von Händlern aller Art. So war, wie wir es im Mittelalter fast überall finden, das Rathaus, welches den Zwecken der städtischen Verwaltung und Rechtspflege diente, zugleich ein Kaufhaus oder ein Schauhaus, ein Theater, wie es in dem Latein jener Zeit mit Vorliebe genannt wird. Hier und auf dem nahen Markt finden wir Krambuden aller Art; Schuster, Hutmacher, Gewandschneider, Pelzer, Töpfer, Schmiede und Messerschmiede, Flickschneider und Trödlerinnen, die mit alten Kleidern handeln, haben in buntem Gemisch ihre Standplätze; dazwischen die Verkäufer von Nahrungsmitteln und Esswaren, Haaken und Bäcker, Fischer mit ihren Wassertonnen, in denen sie ihren Fang aufbewahrten; Gärtner und Gärtnerinnen mit ihren Gemüsen und Früchten, Ackersleute mit ihren Wagen voll Getreide und Hopfen, Höker mit Lebensmitteln aller Art, selbst Garköche und Weinschenken mit ihren Fässern fehlten nicht, um den drängenden Begehr auf der Stelle zu befriedigend.

*) Vergleiche Fabricius, Stralsund in den Tagen des Rostocker Landfriedens (1283), in den Baltischen Studien, Jahrgang XI. 2. p. 64, wo aus den Urkunden und namentlich aus dem ältesten Stadtbuch (um 1277 beginnend), die wertvollsten Aufschlüsse über das alte Stralsund gegeben werden.
**) Ein Platz von 3 Ruthen neben dem Heiligen-Geist-Tor trug 4 Mark, ein anderer neben dem Franken-Tor 2 Mark Pfennige, — Mehrere Angaben der Art bei Fabricius a. a. O.
***) Das Rathaus der Neustadt auf dem neuen Markt an der Stelle des heutigen Landwehrzeughauses; das Rathaus auf dem alten Markt erfüllt noch heute seine alte Bestimmung, gehört aber in seiner jetzigen Form einer viel späteren Zeit an.

Die ehrenwerten Bürger unserer alten Städte, welche rastlos arbeiteten, wollten dabei auch gut leben, wenigstens auf ihre Weise; man erstrebte in der täglichen Kost nicht das Pikante und den Gaumen Reizende, sondern das Solide und Massive; zu dem täglichen Brot durfte daher ein gutes Stück Fleisch nicht fehlen. Unsere Städte sorgten dafür durch die Einrichtung großer Schlachthäuser, in denen alles Vieh so zu sagen im Licht der Öffentlichkeit getötet ward. Auch Stralsund hatte außer seinen Schlächterscharren, wo das Fleisch zum Verkauf ausgeboten ward, sein eigenes Schlachthaus; es lag in der Nähe des Küter-Tores, ungefähr an der Stelle des heutigen neuen Gerichtsgebäudes, bei dessen Erbauung man in der Erde noch auf zahlreiche Knochenüberreste stieß*).

*) Für das Schlachthaus zahlte das Amt der Knochenhauer an die Stadt eine jährliche Miete von 8 Mark. — Das Küter-Tor hatte offenbar von dieser Nachbarschaft seinen Namen; Küter ist Schlächter; in Lübeck hieß das Schlachtbaus auch lateinisch domus kuterorum.

Mitten unter dem Drange irdischer Geschäftigkeit und materiellen Treibens erhoben sich die Pflanzstätten des Verkehrs mit dem Himmel und die Denkmale werktätiger Frömmigkeit. Sechs Gotteshäuser zählte Stralsund zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts, zwei Pfarrkirchen, zwei Klosterkirchen und zwei Kirchen oder Kapellen frommer Stiftungen. Von den drei jetzigen großen Hauptkirchen, der Nicolai-, Jacobi-und Marien-Kirche, finden wir zur Zeit unserer Schilderung nur die Erstere genannt; sie ist nach ihrer Lage im Mittelpunkt der Altstadt, am alten Markt, neben dem Rathause, und nach der Einfachheit ihres Baustils unzweifelhaft die älteste der jetzt noch erhaltenen Kirchen. Der heilige Nicolaus war der Patron der Seefahrer, und daher die vielen Nicolai-Kirchen in unseren Seestädten. Neben dem heiligen Nicolaus hatten auch, wie in Stettin und anderen Städten, die beiden Apostelfürsten Petrus und Paulus, ihre Kirche; aber die alte Stralsunder Peter- und Pauls-Kirche, deren Existenz in dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts nach den Notizen des ältesten Stadtbuchs unzweifelhaft feststeht, ist schon in den nächsten Jahrhunderten wie verschollen; nicht einmal die Stelle, wo sie gestanden, lässt sich mit Sicherheit bestimmen. Dass sie in die später auftauchende Jacobi-Kirche über- oder untergegangen, ist lediglich eine Mutmaßung, welche sich auf die noch jetzt erkennbaren Wandelungen stützt, welche die innere Anlage der letzteren im Lauf der Zeiten erfahren hat *). Unsere Marien-Kirche wird noch nicht genannt; aber wenn sie gewiss auch erst viel später vollendet ist, so hat doch die Annahme große innere Wahrscheinlichkeit, dass die Neustadt, die wir seit der Mitte des Jahrhunderts im Entstehen begriffen sahen, spätestens gegen das Ende desselben auch den Bau einer eigenen Kirche in Angriff genommen haben wird. Denn die Sorge für die Kirchen stand stets in vorderster Reihe in dem Denken und Streben dieses Zeitalters, und auch in Stralsund bezeugen zahlreiche uns erhaltene Notizen über Kirchen gemachte Schenkungen an Geld und Naturalien den gleichen Sinn seiner Bürger**). Und da uns schon eine Schule der Neustadt genannt wird (1285), so wird auch eine Kirche der Neustadt bereits begonnen sein oder in naher Aussicht gestanden haben***). Denn die Schulen waren in jener Zeit mit den Kirchen verbunden, und blieben es in Stralsund bis auf die Reformationszeit. So hatte die Nicolai-Kirche ihre Schule in der Baden-Straße und eine alte Schule, welche am Petri-Kirchhofe erwähnt wird, wird die der Peter- und Pauls-Kirche gewesen sein.

*) Die erste urkundliche Spur unserer Jacobi-Kirche ist aus den Jahren 1303 und 1304, wo die Fürsten von Rügen dem Rat von Stralsund das Patronat der St. Jacobi-Schule übergeben, — Fabricius, Urkunden IV. I. p. 29. 33. — Wenige Jahre danach wird auch die Kirche im Stadtbuch erwähnt, — Vergl. Zober, die St. Jacobi-Kirche in Stralsund, in der Sundine. Jahrgg, 1837 p. 306 f. — St. Jacob machte bekanntlich dem heiligen Nicolaus bei den seefahrenden Nationen jener Zeiten eine starke Konkurrenz. Zu dem heiligen Jacob, namentlich zu dem von Compostella, stiegen noch Gebete und Gelübde empor, wenn der Schiffsmannschaft im Sturm und Wogendrang alle Hoffnung auf natürliche Hilfe geschwunden war. In Stralsund finden wir die erste Spur eines höheren Interesses für St. Jacob im Jahr 1296, wo der bekannte Stralsunder Bürger Leo Balke dem heiligen Jacob eine Vikarie in der Nicolai-Kirche stiftete. Damals also war eine eigene Jacobi-Kirche schwerlich schon vorhanden, da Leo Balte seine Stiftung sonst wohl der Jacobi-Kirche zugewandt haben würde. Die Erbauung der letzteren wird aber bald nachher, jedenfalls bis zum Jahr 1303 begonnen sein.
**) So gab der Stralsunder Bürger und Ratsherr Leo Balke an die St. Nicolai-Kirche 3 Last (288 Sch.) Roggen. Andere Schenkungen bei Fabricius a. a. O.
***) Die Marien-Kirche erscheint 1318 bereits im Stadtbuch; damals wird ein Haus „hinter der ecclesia beatae Mariae in der Neustadt“ verkauft; seitdem öfter, — Vergl. Zober, die St. Marien-Kirche zu Stralsund, Sundine 1836 p. 231.

Den Pfarrkirchen machten in jener Zeit die Kirchen der Mönchsorden eine gefährliche Konkurrenz. Auf dem Lande waren es, wie wir früher sahen, namentlich die Zisterzienser, welche sich in unseren Gegenden ansiedelten; das bewegte Treiben der Städte dagegen ward vorzugsweise von den beiden großen Bettelorden, von den Dominikanern und Franziskanern gesucht, jene auch bekannt unter dem Namen der Prediger- oder schwarzen Mönche, diese als Minoriten oder graue Brüder. Während die Zisterzienser mit den enggesteckten Grenzen des spiritualistischen Mönchslebens auch allgemeinere Kulturzwecke materieller Art zu verbinden wussten, sehen wir die beiden berühmten Bettelmönchsorden vorzugsweise auf dem geistigen Gebiete durch Predigt und Seelsorge, Lehre und Unterricht, daneben allerdings auch durch Ketzerverfolgung und Scheiterhaufen, ihre Wirksamkeit entfalten. Kaum hatten sie im zweiten und dritten Jahrzehnt des dreizehnten Jahrhunderts vom Papsttum die gesetzliche Sanktion empfangen, so begannen sie ihren Triumphzug durch alle Länder der Abendländischen Kirche, und um die Mitte des Jahrhunderts werden bereits auch die Städte des nördlichen Europa in das große Netz ihrer Niederlassungen hineingezogen. Auch in Stralsund siedelten sie sich an unter der Regierung Jaromars II.; das Jahr 1251 wird als das Stiftungsjahr des Dominikanerklosters zu St. Catharinen, 1254 als das des Franziskanerklosters St. Johannis angegeben *). Beide lagen, wie es bei den Bettelorden üblich war, an der Stadtmauer, aber noch innerhalb der Stadt, das eine in dem Winkel, wo Alt- und Neu-Stadt zusammen

*) In einer von dem Landrat Dinnies herrührenden Anmerkung zu dem auf dem Stralsunder Rathause befindlichen Manuskript der sogenannten Busch’schen Congesten (p. 99) wird darauf aufmerksam gemacht, dass das Jahr 1251 als das Stiftungsjahr des Dominikaner-Klosters zu Stralsund auch in den Aufschriften der Stühle für die Konvente des Dominikaner-Ordens in der Klosterkirche zu Göttingen angegeben werde.

stieß, das andere nach dem Strande hinab zwischen Knieper- und Fähr-Tor. Das St. Johannis-Kloster soll nach einer alten chronikalischen Nachricht durch Schenkungen von zweien Geschwistern Putbus, dreien Brüdern von der Osten und zweien Brüdern Schriner oder Schriver erbaut sein. Beide Orden hatten ihre Kirchen neben den Klöstern. Aber nur die St. Johannis-Kirche, wenn es gleich nicht mehr die alte ist, dient noch dem religiösen Zweck und das Kloster hat wenigstens den Charakter einer städtischen Stiftung bewahrt. Dagegen haben die Umwälzungen der Zeit die alte Dominikaner - Kirche in ein Zeughaus verwandelt, und das Kloster ist dem Gymnasium und dem Waisenhause zugefallen.

Das nahe Zisterzienser-Kloster zu Neuencamp hatte sich schon im 13. Jahrhundert wenigstens ein Absteigequartier in Stralsund erbaut, wo die Äbte mancherlei weltliche und geistliche Geschäfte zu regeln hatten. Es war der für seine Zeit großartige und prächtige Campische Hof in der Mühlenstraße, heutzutage als Proviantamt sehr materiellen Zwecken dienend.

An die Pfarr- und Kloster-Kirchen reihten sich in Stralsund endlich noch die Kirchen zweier frommer Stiftungen, des Heiligen-Geist-Hauses und des St. Jürgenhospitals. Die Heiligen-Geist-Häuser finden wir im dreizehnten Jahrhundert in fast ganz Europa verbreitet. Nach dem Muster des berühmtesten Heiligen-Geist-Hauses in Rom waren sie ursprünglich zur gastlichen Aufnahme und Verpflegung kranker Fremder*) und einheimischer Armen bestimmt. Alle, welche dem Weltleben entsagend, sich für die Zeit ihres Lebens den Pflichten der Krankenpflege und dem Dienst der Armen in diesen Häusern widmeten, bildeten die Brüderschaft des Heiligen Geistes. Auch Reiche und Wohlhabende suchten durch Gaben und Geschenke aller Art wenigstens den Namen der Mitgliedschaft, wenn sie auch nicht immer gesonnen waren, die schweren Pflichten selbst zu üben. In Stralsund war das Heiligen-Geist-Haus kurz vor 1256 gegründet**); bald hatte es auch seine Kirche; doch ist die heutige Heilige Geist-Kirche neueren Ursprungs und auch von den ursprünglichen Baulichkeiten des Hauses ist kaum noch etwas vorhanden.

*) Daher auch Elenden-Häuser: — Elender in der Bedeutung von Ausländer, Fremder.
**) Das Heiligen-Geist-Kloster ist nächst dem Kloster St. Annen und Brigitten, dessen Entstehung erst in eine spätere Periode fällt, noch jetzt die reichste städtische Stiftung.

Wie die Heiligen-Geist-Häuser, so waren auch die St. Jürgen- oder St. Georg-Hospitäler um jene Zeit weit durch das ganze Abendland verbreitet. Sie waren hauptsächlich der Aufnahme und Pflege der Aussätzigen gewidmet. Man stellte sie unter das Protektorat des heiligen Georg (St. Jürgen), weil derselbe nach der christlichen Legende einen Drachen tötete, dessen Atem giftige Krankheiten verbreitete*). Der Aussatz, die Plage und der Schrecken des Orients schon im Altertum, war nicht erst, wie die frühere Annahme war, seit den Kreuzzügen auf das Abendland verbreitet. Schon im früheren Mittelalter grassierte er unter den Longobarden in Italien und auch anderwärts werden seine Spuren bemerkt. Aber die Kreuzzüge mögen seine Verbreitung erhöht haben und jedenfalls gehört die über das ganze Abendland sich ausdehnende Einrichtung von Aussatz-Spitälern erst dieser Zeit, namentlich dem dreizehnten Jahrhundert an. Im ersten Viertel desselben, zur Zeit König Ludwigs VIII. von Frankreich, zählte man bereits gegen 21.000 solcher Häuser in Europa. Unheilbar und ansteckend, wie der Aussatz nach dem Glauben der Zeit war, ward er geflohen wie die Pest; die davon Befallenen wurden ausgeschlossen von allen Berührungen mit der menschlichen Gesellschaft und glücklich waren sie, wenn es in ihrer Gegend barmherzige Anstalten, wie die St. Georgs-Hospitäler gab, wo sie, wenn auch abgeschieden von aller Welt, doch in Ruhe leben und endlich sterben konnten. Wer sich ihrer Pflege widmete, der war wie die Kranken selbst, verbannt aus der Welt; aber auch ein so schweres Opfer ward von Manchem gebracht in einer Zeit, welche durch fromme Werke den Himmel zu verdienen und schwere Missetaten tilgen zu können glaubte. Und wer nicht mit seiner Person einstehen wollte, der suchte sich durch Schenkungen an Geld und Gut den Anspruch auf himmlischen Lohn zu erwerben. Das St. Georgs-Hospital in Stralsund mit der dazu gehörigen Kirche und dem Wirtschaftshof lag vor dem Spitaler-Tor, welches davon den Namen führt. Gegenwärtig ist Alles, nebst der Landstraße, welche daran vorüberführte, verschwunden; der ehemals auf das Tor zu führende Damm ist seit lange abgetragen und der Teich an seine Stelle getreten**).

*) Doch gab es auch einzelne Aussatzspitäler, welche dem h. Lazarus, Johannes oder Jakobus geweiht waren. — Man vergl. Virchow, „Zur Geschichte des Aussatzes und der Spitäler“ in seinem Archiv für pathologische Anatomie u. Physiologie, 1860. 1861, wo das Material über den Aussatz und die Aussatzspitäler des Mittelalters in möglichster Vollständigkeit mitgeteilt ist. — Neuerdings ist der Aussatz besonders in Norwegen wieder zu größerer Verbreitung gelangt und dort von Virchow selbst beobachtet.
**) Als seit dem Ende des 14. Jahrhunderts der Aussatz in Europa sich zu vermindern begann, wurden die St. Georgs-Spitäler auch für die Aufnahme von Pest- und Pocken-Kranken, und endlich überhaupt von Armen verwendet, auch teilweise zu bloßen Präbenden-Stiftungen, in die man sich einkaufen konnte.

So war Stralsunds äußere Erscheinung gegen das Ende des 1Z. Jahrhunderts. Werfen wir jetzt den Blick noch weiter im Lande umher, auf die jugendlich aufstrebenden Städte der Nachbarschaft.
Stralsund, Der Artushof heute

Stralsund, Der Artushof heute

Stralsund, alte Giebelhäuser

Stralsund, alte Giebelhäuser

Stralsund, Jakobiturmstraße und Jakobikirche

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Stralsund, Kniepertor

Stralsund, Kniepertor

Stralsund, Rathaus

Stralsund, Rathaus

Stralsund, Semlowertor

Stralsund, Semlowertor

Stralsund vor der Alten Fähre

Stralsund vor der Alten Fähre

Stralsund Stadtansicht

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