Russland

Wenden wir daher die Betrachtung hinüber aus die Geschicke unseres „weiteren“ Vaterlandes (nach der einer Deutschland fast schon lächerlich gewordenen Terminologie, die aber aus uns in sehr richtigem und zugleich sehr loyalen Sinne anzuwenden ist) — Russlands, das allerdings so weit ist, dass es, bei der durch Eisenbahnen und Telegraphen eintretenden allgemeinen Distanzenverkürzung, bald als das einzige große unter den Ländern Europas erscheinen wird. Seine extensive Bewegung aber hat noch immer das Ende nicht erreicht: die im letzten Jahre gemachte Erwerbung Taschkends muss sogar als eine besonders bedeutsame angesehen werden. Hiermit ist die endlose, dürre Steppe der filzzeltbewohnenden Kirgisen überschritten; man steht aus uraltem Kulturboden, am Ufer des Jaxartes, den schon Alexander der Macedonier von der entgegengesetzten Seite her erreichte, nicht fern mehr von dem Oxus, wo in noch viel früherer Zeit Zoroaster die Völker lehrte, und nur noch 700 Werst von dem äußersten Endpunkt der englisch-ostindischen Besitzungen. Schon bemüßigt sich die politische Kannegießerei, einen Zusammenstoß Englands und Russlands in diesen bisher kaum dem einzelnen Reisenden zugänglichen Gegenden und eine mittelasiatische Frage zu konstruieren; aber im Interesse der Zivilisation kann man nur wünschen, dass noch weiter vorgegangen werde. Je geringer hier der Zwischenraum zwischen der russischen und englischen Herrschaft wird, desto mehr Boden wird einer stagnierenden Halbbarbarei entzogen sein; denn seit dem allgemeinen Verfall der Bildung, welche die ersten Jahrhunderte des Islamismus auszeichnete, ist dieser Teil Asiens in eine religiöse Borniertheit und einen ebenso bornierten Despotismus versunken, womit verglichen die Nachbarländer China und Persien als hochgesittet sich darstellen. Noch schlimmer aber als die drei Chanate von Chiwa, Bochara und Khokand sind die zwischen ihnen und Persien hausenden Reiterstämme der Turkmenen, welche, nur vom Raube lebend und ganze Städte vertilgend, immer weiter um sich greifen, ohne dass die entarteten Kulturvölker in weitem Umkreise sich ihrer zu erwehren vermöchten. Erst das vordringende Russland wird diese wilde Rasse — gleichsam den letzten Rest jener Weltverwüster, welche in wiederholten Ausbrüchen von Attila bis Dschingis-Chan Asien wie Europa überflutet haben — zu bändigen berufen sein. Wir sagen: den letzten Rest, denn die weiter ostwärts nomadisierenden Mongolenstämme sind schon durch die milde Religion Buddhas aus Wölfen in Lämmer verwandelt und übrigens auch von Russland teils unterworfen, teils durch die unabsehbare Reihe der sibirischen Kosakenstanitzen eingedämmt. Eine gleich großartige Ausgabe der Überherrschung der Barbarenwelt erfüllt außer Russland nur noch Großbritannien mit seinen Flotten und Kolonien. Es liegt im Interesse der Menschheit, dass sie dieser ihrer Mission ohne Rivalität, vielmehr mit gegenseitiger Unterstützung sich hingeben.

Von den nach außen gerichteten Eroberungen kommen wir aus diejenigen zu reden, die man im Innern macht oder machen möchte; denn gerade diese innere Eroberungssucht ist die oben erwähnte Leidenschaft des russischen Publikums im gegenwärtigen Moment. Geduld bei weit aussehenden Zielen ist bekanntlich überhaupt keine Eigenschaft des sonst nach so vielen Seiten hin tüchtigen Nationalcharakters der Russen; jetzt aber, durch den polnischen Aufstand entflammt, wollen sie auf einmal und in der kürzesten Frist rein Haus machen nicht nur mit den schuldigen Polen, sondern auch mit allen übrigen Nationalitäten und Kulturformen im Umkreise des Reichs, die irgend dem Zentralteil desselben unähnlich sehen,— unbekümmert um das staatsrechtliche Grundverhältnis dieser oder jener Provinz und unbekümmert auch darum, ob man nicht etwa, durch Unterbindung der eigentlichen Lebensadern derselben, im Besonderen einen Verlust zu tragen bekäme, der den für das Ganze erstrebten politischen Vorteil mehr als auswöge. Ein großes Reich mit einer so überwiegenden Kernmasse, wie Russland, hat von selbst die Tendenz zur Anähnlichung der im Laufe der Zeit hinzugekommenen Länderteile, und unausgesetzt ist der betreffende Ausgleichungsprozess auch in Russland vor sich gegangen — schneller im Osten, langsamer im Westen, aus sehr begreiflichen Gründen und über welche wir auch auf Balt. Monatsschr. 1864, Mai, verweisen können. Diesen bei natürlichem Verlaufe für beide Teile heilsamen Prozess überstürzen und erzwingen zu wollen, halten wir weder für zweckentsprechend noch auch für patriotisch, Diximus.


Im Übrigen ist Russland natürlich auch im vorigen Jahre aus der Bahn befreiender Gesetzgebungsakte fortgeschritten. Wir erinnern hier nur an die Aushebung der Präventivzensur für die periodische Presse — zunächst freilich nur Moskaus und Petersburgs — und an die Zulassung jüdischer Gewerbsleute im ganzen Umfange des Reichs. In Bezug aus die konfessionellen Verwickelungen in den Ostseeprovinzen hat die Regierung, wie früher schon in Bezug aus die Häretiker der Staatskirche, die nicht genug zu preisende Tendenz zu der wichtigsten aller Freiheiten, der religiösen unverkennbar betätigt. Von den Gegnern dieser Freiheit dagegen wurde plötzlich die für uns alle höchst überraschende Wendung genommen, religiöse Intoleranz und Verfolgungssucht befinde sich gerade auf Seiten der protestantischen Bevölkerung unserer Provinzen. Die Balt. Monatsschr. hat es sich in der zweiten Hälfte des Jahres zur besonderen Ausgabe gemacht, die betreffenden Anklagen der „rechtgläubigen Revue“ gründlich zu widerlegen, natürlich ohne dass auch nur eine Zeile dieser Widerlegungen von der russischen Presse reproduziert worden wäre — wobei wir indessen nicht mit Stillschweigen übergehen wollen dass der „Golos“ sich immerhin des Prinzips der Religionsfreiheit angenommen hat.

Die russischen Kreis- und Gouvernementsversammlungen, die im verflossenen Jahre zum ersten Mal ihre Tätigkeit entfaltet haben, dürfen wenigstens nicht unerwähnt bleiben, wenn auch erst die Zukunft lehren kann, ob diese Institution tiefere Wurzeln in der Nation zu schlagen bestimmt ist, als es die nun völlig wesenlos gewordenen Adelsversammlungen nach der Ordnung Katharinas vermochten. Letztere waren bekanntlich eine Nachbildung unserer, d. h. der est- und livländischen Landtage, während jene neue Provinzialverfassung nun umgekehrt uns als Vorbild hingestellt werden dürfte. Schon darum sind sie freilich der aufmerksamen Beachtung unserer baltischen Zeitungsschreiber wie Leser gar sehr zu empfehlen.

Über die Beschlüsse, welche während des abgelaufenen Jahres in Sachen der Einführung und Verwirklichung der Justizreform für einen Teil des Reichs gefasst worden, hat diese Zeitschrift so eingehend gehandelt, dass wir den Lesern kaum etwas Neues über diese Frage zu berichten hätten. Die finanziellen Schwierigkeiten, um deren willen beim Beginn des abgelaufenen Jahres die 5-prozentige innere Anleihe eröffnet wurde, sind nach wie vor, wie in andern europäischen Staaten, so auch in Russland auf der Tagesordnung geblieben und dürften bald alle übrigen inneren Fragen überragen oder verschlingen: auch das Budget pro 1866 weist noch ein Defizit von 23 Millionen aus. In finanziellen wie industriellen und kommerziellen Kreisen hat die Veröffentlichung des Gutachtens des beständigten Ausschusses des deutschen Handelstages über einen deutsch-russischen Zollvertrag, resp. Herabsetzung der russischen Schutzzölle, eine ebenso nachhaltige als tiefgehende Bewegung hervorgerufen, die bis jetzt einen vorwiegend protektionistischen Charakter tragt. Die Staatsregierung hat ihre Stellung zur Sache bis jetzt noch nicht bezeichnet und eben durch diese weise Zurückhaltung den verschiedenen Ansichten über diesen Gegenstand freien Spielraum zur Betätigung gegeben: ihrer Äußerung wird beinahe in allen Teilen des Reichs mit gleicher Spannung entgegengesehen, und die Protektionisten oder (was dasselbe ist) die Fabrikanten an der Düna, Moskwa und Wolga haben mit einer Übereinstimmung vor der Anwendung freihändlerischer Grundsätze gewarnt, die aus die geringe Zuversicht schließen lässt, welche sie im Grunde in die protektionistische Glaubensfestigkeit des Finanzministeriums setzen.

Statt der Totenschau, mit der wir unsere Betrachtungen über die Geschicke anderer Staaten abschlossen, nennen wir für Russland nur den einen Toten des abgelaufenen Jahres, der vom baltischen bis zum ochozkischen und schwarzen Meer beweint worden ist, den an der Schwelle des Mannesalters dahingegangenen Großfürsten Thronfolger, an den sich auch bei uns, die wir ihn im Jahre 1860 mehrere glückliche Wochen lang lebensfroh unter uns weilen sahen, reiche Hoffnungen geknüpft hatten. So hat das Jahr 1865, das Russland eine Reihe glänzender Erfolge gebracht, gleichsam jenen Zoll gefordert, den die Alten zur Versöhnung der eifersüchtigen Gottheit für notwendig hielten, wohl wissend, „dass die irdischen Dinge wechseln.“ Und im Hinblick auf diesen ewigen Wechsel, dessen Gesetze sich der menschlichen Voraussicht entziehen, unterlassen wir es dem neuen Jahr das Horoskop zu stellen — nur noch für unsere baltischen Landsleute den Wunsch aussprechend, sie möchten, komme was da wolle, den festen Sinn bezeugen, der schon vor 200 Jahren in den Worten „ne quid temere, ne quid timide“ seinen livländischen Ausdruck fand.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rückblick auf 1865
Alexander I. Zar von Russland

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Anatolische Türken

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Garde Tscherkesse

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Pferdeschlitten

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Russisches Kaiserpaar in historischen Kostümen

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Russische Parlamentaria beim Verlassen der Duma

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Bauernhochzeit

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