Livland, Kurland, Estland

Als das erste derselben nennen wir billig den kurländischen Beschluss aus Freigebung des Güterbesitzrechts, dem bereits ein ähnlicher in Estland zu folgen sich anschickt. Gerade diese Reform, neben der Aufhebung des Zunftzwanges in den Städten, hätte eigentlich die erste sein sollen unter allen nicht bloß aus Agrar- und Bauerverhältnisse bezüglichen, deren unser Land bedurfte. Denn vor allem der wirtschaftlichen Freiheit eine Gasse! Sonst ist in dieser modernen Welt der Konkurrenz, der Konkurrenz zwischen Völkern und Ländern wie zwischen den Individuen absolut nicht zu bestehen. Die Moskauer Zeitung freilich behauptete noch unlängst bei einer gewissen Gelegenheit, es gebe respektable Länder, wo das Grunderwerbsrecht ganz besonderen Beschränkungen unterliege; sie fand aber als Beispiele nur England (wo nur der geborne englische Untertan Landeigentümer werden dürfe) und ferner — Liv- und Estland und „bis jetzt“ auch noch Kurland! Schon früher hatte sich dieselbe einflussreiche Zeitung gegen den Gesetzesvorschlag der kurländischen Ritterschaft erklärt, weil in Folge desselben am Ende etwelche preußische Landwirte einwandern und wenn auch Russland Kapital oder Intelligenz zutragen, doch zugleich das leidige deutsche Element verstärken könnten. Wären ihr unsere Zustände näher bekannt, so könnte sie wohl noch andere Argumente ähnlichen politischen und moralischen Wertes beibringen, z. B. dass mit der Aufhebung des Güterbesitzprivilegs eine alte und zwar die hauptsächlichste Zwietrachts-Ursache zwischen Edelmann und Bürger hier zu Lande beseitigt, also wieder das deutsche Element gestärkt werde. Doch dieses nur zur Scheiterung! Ernsthaft aber möchten wir noch Denjenigen, die es nicht wissen, erklären, wie es ganz natürlich war, dass Kurland mit dem betreffenden Beschluss den Schwesterprovinzen vorangehen musste. Der Grund liegt einfach in der dort viel beträchtlicheren Zahl von Fideikommissgütern. Ein entsprechender Teil des kurländischen Adels fühlt sich als reelle Grundaristokratie und ist daher weniger veranlasst an dem paradoxen „Gesamtfideikommiss einer gewissen Anzahl Familien an einer ganzen Provinz“ (wie die Sache einmal in diesen Blättern genannt wurde) festzuhalten. Es versteht sich von selbst, dass wir mit dieser Erklärung den verdienten Ruhm der Ritterschaft Kurlands in keiner Weise zu verkürzen gedenken, sondern nur auch gerecht nach der andern Seite hin sein wollten. Zugleich aber ergibt sich, worin nach unserer Meinung der Adel Liv- und Estlands für das auszugebende Privileg teilweise Ersatz zu suchen hat; denn was auch die radikale Doktrin dagegen sage, so glauben wir doch, dass eine fideikommissarisch fundierte Grundaristokratie in verhältnismäßiger Beimischung zu der Masse des freien Bodenbesitzes vielleicht keinem Lande schädlich, gerade unseren Zuständen aber sehr angemessen sein dürfte.

Doch noch eine zweite erfreuliche Erinnerung wollten wir vorführen: die im Juni des verflossenen Jahres in Riga abgehaltene landwirtschaftliche Ausstellung. Wie über alle Erwartung gelang sie! Wie zeigten wir da, was wir unter gewissen Umständen können! Wie überlegen durften wir uns jeder andern Provinz des Reichs, ja sogar in einiger Hinsicht den beiden Hauptstädten mit ihren riesigen Mitteln fühlen! Nur wer etwas näher in das Getriebe hineingesehen hat, weiß, welches bedeutende Opfer an Zeit und Arbeit der Sache auch von Solchen gebracht wurde, die keineswegs zu den Mitgliedern der zunächst engagierten Ökonomischen Sozietät gehörten und die überhaupt kein anderes Interesse als das ganz allgemein patriotische daran hatten, am wenigsten aber durch gewisse, sonst in der Welt unentbehrliche Triebfedern, wie Dienstauszeichnung, Orden oder auch nur Namennennung in der Presse, in Bewegung gesetzt wurden. Und der Grund dieses Gelingens? — Antwort: nichts Anderes, als dass die Gesamtkraft der drei Provinzen auf ein Ziel gerichtet war, die verschiedenen Gesellschaftsgruppen auf einem neuen, traditionslosen, von Hader und Missgunst nicht überwucherten Felde sich zusammenfanden. Wo irgend unsere alten politischen Stände, als solche, sich gegenüberstehen, da geht es niemals so gut: das ist eine traurige aber sichere Erfahrung. Wenn nun Einer hierdurch zu der Ansicht käme, dass unsere ererbte ständische Gliederung, wie sie ist, nicht mehr sein soll — wer dürfte es ihm verdenken? Und doch! — wer hätte in jetzigen Zeitläufen den Mut, neue Reformen, und gar die unserer ganzen traktatenbegründeten Provinzialverfassung, herbeizuwünschen? Hat sich doch schon zur Genüge gezeigt, einerseits wie unsicher oder zerfahren wir vorläufig noch bei allen größeren Reformversuchen sind, andererseits welche verhängnisvolle Handhabe sie der zur Zeit das russische Publikum und die russische Publizistik beherrschenden politischen Leidenschaft (von welcher noch weiter unten zu reden sein wird) bieten. Hier ist der Punkt, wo dem ehrlichen baltischen Patrioten, so zu sagen, Denken und Wollen ausgeht, und jedes Wort überflüssig zu sein scheint.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rückblick auf 1865