Schweden

Erfreulicheres lässt sich aus dem Norden Europas, aus Schweden, berichten, wo die kräftige Initiative, welche der Justizminister Freiherr v. Geer zu Gunsten der längst zum Bedürfnis gewordenen Umgestaltung der alt-ständischen Verfassung in eine modern-konstitutionelle geübt hat, vom schönsten Erfolg gekrönt worden ist. Der schwedische Adel, der durch Jahrhunderte für einen Gegner der Staatsgewalt wie der Volksfreiheit gegolten, hat in der Stunde der Entscheidung gegen alles Erwarten eine opferfreudige Einsicht in die Notwendigkeit eines Zugeständnisses an das Zeitbedürfnis bewiesen, die in grellem Gegensatze zu der Starrheit steht, mit welcher in Deutschland die Überreste des Adels sich gegen das Rad der Zeit anstemmen, um ihren gänzlichen Untergang zu beschleunigen und die konservative Aufgabe ihres Standes in deren direktes Gegenteil zu verwandeln. Das Beispiel des Adels ist auch für den in Schweden zäheren Priesterstand maßgebend gewesen und die Anzeichen einer Volksbewegung gegen die beiden privilegierten Stände, haben sich, noch ehe sie bedrohlich geworden, zerstreut. Unter solchen Umständen hat Schweden Aussicht darauf, seiner neuen Verfassung einen Faktor des politischen Lebens zu erhalten, wie er bis jetzt noch kaum einem konstitutionellen Staate des Festlandes zu Teil geworden: ein Oberhaus aus historisch gefestigter Grundlage, das nicht erst theoretisch konstruiert zu werden braucht und das eine feste politische Tradition mitbringt.

Die alte, jetzt zu Grabe getragene Verfassung Schwedens hat bekanntlich das Muster für die ständische Organisation unseres Nachbarlandes Finnland gegeben; mehr als ein bloßes Zusammentreffen des Zufalls möchte es sein, dass — gemäß den Äußerungen offizieller Blätter in St. Petersburg — fast gleichzeitig mit den reformatorischen Vorgängen in Schweden von maßgebender Seite her eine Verfassungsreform für Finnland in Aussicht genommen worden ist. Obgleich über den Inhalt dieser beabsichtigten Neugestaltung schwerfälliger und veralteter Lebensformen noch nichts verlautet, so lässt sich doch vielleicht voraussehen, dass dieselbe gerade im gegenwärtigen Augenblicke nicht ohne ernstliche Schwierigkeiten sich vollziehen dürfte, wenn es auch in diesem Falle sicher nicht die Exklusivität und Unbeweglichkeit der Privilegierten sein wird, woraus die Schwierigkeiten entstehen. An Umgestaltungen hat es den finnländischen Verhältnissen in den neuesten Zeiten ohnehin nicht gefehlt; auch das letzte Jahr hat deren mehrere und hochwichtige gebracht: die Aufhebung des Zwangskurses für russisches Papiergeld, das neue Pressegesetz, endlich die Entscheidung der seit Jahren schwebenden Sprachenfrage, die mit der nahe bevorstehenden Einführung des Finnischen in die Gerichtshöfe und Schulen und mit der dekretierten Zulassung des Russischen in denselben ihren vorläufigen Abschluss gefunden hat. Für das Jahr 1866 steht ein neuer Zusammentritt des Landtags bevor und aller Wahrscheinlichkeit nach wird dieser bereits in die Beratungen über die Umgestaltung der Verfassung eintreten.


Von der Frage, welche die südliche Nachbarschaft der baltischen Provinzen betrifft, sind wir bei unserer Rundschau ausgegangen und über Finnland sind wir wieder an ihre entgegengesetzte Seite angelangt. Ist nun die Ähnlichkeit mit dem südlichen oder dem nördlichen Nachbar und dessen Lage die größere? und worin unterscheiden wir uns von beiden? Es bedarf wenig mehr als dieser Fragestellung, um die Situation zu bezeichnen, und doch wäre eine nach beiden Seiten hin durchzuführende Parallele keine leichte Arbeit, auf die wir uns hier nicht einlassen können, an der aber sich zu versuchen auch für die geschickteste patriotische Feder lohnend sein müsste.

Ernst und arbeitsvoll und in mannigfachen Schwankungen zwischen Furcht und Hoffnung geteilt ist für uns Ostseeprovinziale dieses Jahr gewesen. Justizreform, Stadtverfassungen und die kirchliche Bewegung unter unserem Landvolk — drei Worte, die dem Kundigen eine lange Reihe von Eindrücken in die Erinnerung zurückrufen! Wir enthalten uns jedes unzeitigen Raisonnements über diese noch lange nicht abgeschlossenen, wenn auch schon in engere Grenzbestimmungen eingeschlossenen Fragen: wenn nichts Anderes uns diese Enthaltsamkeit auferlegte, so täte es schon das Bedenken, diese im nächsten Vordergrunde des provinzialen Interesses riesengroß erscheinenden Themata einer die Welt umfassenden Vogelperspektive passend einfügen zu können. Ist es doch auch ganz eigentlich die Sache der „Baltischen Monatsschrift“, ihnen immer wieder besondere Artikel zu widmen. Um aber aus dem verflossenen Jahre wenigstens ein paar ostseeprovinziale Ereignisse für die Betrachtung hervorzuheben, wählen wir uns diejenigen heraus, welche die erfreulichste Erinnerung gewähren.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rückblick auf 1865