Preußen

Wenden wir uns nun zunächst Preußen zu, so finden wir in den ersten Januartagen des Jahres 1865 die Volksvertretung aufs Neue um den Thron versammelt, von dessen Stufen die Erfolge in Schleswig als Argumente für die Unentbehrlichkeit jener Militärreorganisation verkündet werden, die seit einem halben Jahrzehnt den Frieden zwischen Fürst und Volk gestört hatte. Die Positionen des Abgeordnetenhauses waren von vorn herein so fest genommen, dass nach dem Ausgange der Budgetdebatte Niemand an die Möglichkeit eines Ausgleichs auf dem Boden der neu eingebrachten Militärnovelle glauben konnte, und die Diversionen Vincke-Oldendorffs und anderer Altliberaler zu Gunsten einer Verständigung über das neue Gesetz von beiden Parteien zurückgewiesen wurden. Unterdessen hatte Prinz Karl, der Sieger von Düppel und Alsen, in Wien nutzlose Versuche zu einem preußisch-österreichischen Abkommen über die Herzogtümerfrage unternommen, die in einen Depeschenwechsel ausliefen, dem sich nur entnehmen ließ, dass auch die Vorbedingungen einer Verständigung fehlten. Nachdem die bekannte, in preußischem Interesse abgefasste ritterschaftliche 17-er Adresse von Scheel-Plessen und Genossen aufs Neue die Befürchtung nahegelegt hatte, eine Realisierung der Bismarckschen Annexionspläne werde zu einer Kräftigung der Sache der Reaktion führen, eine Fusion der feudalen Elemente diesseits und jenseits der Elbe dem Liberalismus hüben und drüben an die Wurzel gehen, war es nicht mehr zu verwundern, dass die partikularistische 40-er Adresse, welche der Abneigung Schleswig-Holsteins gegen jede engere Verbindung mit der preußischen Monarchie einen unerwartet schroffen Ausdruck gab auch bei den außereuropäischen Liberalen kleindeutschen Bekenntnisses Anklang fand und insbesondere dem süddeutschen Partikularismus für den wahren Ausdruck des schleswig-holsteinischen Volkswillens galt. Eine Klärung der Situation fand nicht im März statt, als die preußischen Februarforderungen bekannt wurden und auch in den Reihen der entschiedensten Gegner von Bismarcks innerer Politik lebhafte Unterstützung fanden. Die Notwendigkeit einer militärischen, maritimen und diplomatischen Unterordnung der Elbherzogtümer unter Preußen wurde von einer Anzahl der hervorragendsten norddeutschen Politiker anerkannt, denen Niemand den Vorwurf der Hinneigung zum Feudalismus machen konnte. Männer wie Mommsen und Sybel stellten sich im Wesentlichen aus den Standpunkt der preußischen Regierung, auch ihnen war die Erfüllung der preußischen Forderungen die notwendige Vorbedingung für die Konstitution des schleswig-holsteinischen Staates, auch sie wollten nichts von einer Befragung der Landesvertretung, von einer freien Selbstbestimmung des angestammten Herzogs wissen, wo es die Entscheidung über Deutschlands und Preußens Herrschaft an der Ostsee, den ersten Schritt zur Machtstellung des Vaterlandes galt. Ein noch bedeutungsvolleres Gewicht warf Heinrich v. Treitzschke in die Wagschale Preußens, als er statt der halben, die ganze Annexion verlangte und damit allen denen die Zunge löste, die im Hinblick auf die künftige Lösung der preußisch-deutschen Frage über die Schranken der oppositionellen Parteidoktrin hinwegsahen. Die beiden geachtetesten Organe des norddeutschen Liberalismus, die „Grenzboten“ und die „Preuß. Jahrbücher,“ traten den Auffassungen Mommsens und Sybels bei; die ersteren ließen sogar eine Hinneigung zu den Anschauungen Treitzschkes durchsehen, die Hand in Hand mit der systematischen Befehdung des Dolziger Herzogs ging, der im Gefühl seiner künftigen Souveränität die Anerbietungen Preußens von sich gewiesen, seit seiner Hinneigung zu Österreich aber den besten Teil der Unterstützung des kleindeutschen Liberalismus eingebüßt hatte. Was half es, dass Sachsen und Baiern mit einem neuen Antrage zu Gunsten des Augustenburgers beim Bundestage vorgingen, dass die Ständeversammlungen in Stuttgart und Wiesbaden gegen jede „Vergewaltigung“ an dem Selbstbestimmungsrecht des schleswig-holsteinischen Stammes protestierten, dass diese Proteste durch zahlreiche süd- und westdeutsche Volksversammlungen „moralisch“ unterstützt wurden? Die Macht der Tatsachen begann der Abneigung gegen den preußischen Premier und dessen Politik mehr und mehr Abbruch zu tun und der anfangs so bescheidenen Zahl der Annexionisten gerade aus den Reihen der entschiedensten Demokraten die wärmsten Jünger zuzuführen.

Im preußischen Abgeordnetenhause nahm der Kampf gegen das Ministerium inzwischen ununterbrochen seinen Fortgang; der Gegensatz verschiedener Meinungen über die Lösung der schleswig-holsteinischen Frage, der in allen Fraktionen der großen liberalen Partei Spaltungen erzeugt hatte, verstummte, solange der Streit um die inneren Fragen tobte; als aber der Minister gelegentlich der Vorlage des Marineplans auf die künftige Stellung Preußens zu den Herzogtümern zu reden kam, konnte die zerstörende Wirkung, welche die große auswärtige Frage in dem Schooß der sonst so einträchtigen Partei ausgeübt hatte, nur noch zur Not übertüncht werden. Während es aus der Hand lag, dass eine Zustimmung des Hauses zu der auswärtigen Politik der Regierung diese auch im Innern gekräftigt hätte, und diese Rücksicht zu einer Ablehnung der Marinebewilligungen und zur Annahme des Carlowitzschen Antrags („das Haus befindet sich nicht in der Lage dem gegenwärtigen Ministerium Anleihen zu bewilligen“) führte, konnte man sich doch nicht verhehlen, dass der Rückschlag, den die Haltung der Volksvertretung auf die auswärtigen Beziehungen Preußens übte, den preußischen Interessen von offenbarem Schaden war. Das Gewicht dieser Erwägung konnte auch durch die Aufregung, die der persönliche Konflikt Bismarcks mit Virchow in den ersten Junitagen hervorrief, nicht zum Schweigen gebracht werden. Für den unbefangenen Beobachter kam die Unfähigkeit der liberalen Partei, sich über eine feste Position gegenüber der schleswig-holsteinischen Frage zu einigen, einem Eingeständnis zu Gunsten der Bismarckschen Politik mindestens nahe, und wenn die preußische Demokratie auch zu eng mit ihren parlamentarischen Vertretern verbunden war, um diesen ihre moralische Unterstützung auch nur für einen Augenblick zu entziehen — es ließ sich nicht leugnen, dass die rein negative Haltung, welche das Abgeordnetenhaus der kühnen und tatkräftigen Politik des ehrgeizigen Staatsmannes entgegensetzte, von peinlichster Wirkung aus die Massen war, dass sich seit Jahren zum ersten Mal wieder Symptome einer günstigeren Beurteilung der Regierungshandlungen kund taten und den Glauben an die absolute Unfehlbarkeit der Doktrinen der Fortschrittspartei erschütterten. Die im Juni erfolgte Schließung der beiden Häuser des Landtags kam dieses Mal der Opposition mindestens ebenso gelegen wie der Regierung und befreite die weitsichtigeren Glieder der liberalen Fraktionen von einem Alpdrücken, das in den letzten Tagen der Session beinahe täglich zugenommen hatte. Trotz der Entrüstung, welche die unkluge Auflösung und Verfolgung des Abgeordnetenfestes in Köln in den folgenden Wochen allenthalben erregte, ließ sich ein gewisser Überdruss der Massen an der unfruchtbaren und überdemonstrativen Agitationspolitik der Fortschrittspartei, die der brennendsten Zeitfrage keine, auch nur irgend befriedigende Antwort zu geben vermocht hatte, auch in den Herbst-Monaten des Jahres nicht verkennen, und nur der Abneigung gegen die Geierschen Polizeibrutalitäten kann es zugeschrieben werden, wenn der Rückschlag, den die öffentliche Meinung erlitten, bei einer allgemein gehaltenen Missbilligung der überschwänglichen Manie für Feste und Demonstrationen stehen blieb und nicht auch das Kölner Unternehmen als unzeitig desavouierte. In Wahrheit hatte die allgemeine Aufmerksamkeit Deutschlands sich während der Sommermonate zu ausschließlich auf die österreichisch-preußischen Verhandlungen über die Herzogtümer gerichtet, um für die Classen, Cappelmann und Genossen viel Sinn übrig zu haben.


Der während der Frühlingsmonate ausgetauchte Gedanke einer Einberufung der schleswig-holsteinischen Stände, konnte schon nach den ersten Verhandlungen über den Modus der Einberufung als gescheitert angesehen werden. Preußens fester Entschluss, dem Hauptinhalt der Februarsorderungen keinen Fußbreit zu vergeben, drängte unwiderstehlich zu einer Entschließung Österreichs über das Maß der Zugeständnisse, die man dem mächtigen Mitbesitzer im Norden machen musste. Wochenlang dauerte das Stadium des Depeschenwechsels, aufs Neue glaubten die Helden der mittelstaatlichen Politik, die Beust und Pfordten, den verlorenen Einfluss wieder gewinnen zu können; stürmischer denn je drängten sie sich an Österreich, um die in den Händen der entzweiten Alliierten ruhende Entscheidung in den Bundestag hinüberzuziehen. Die schwarzrotgoldene Fahne wurde zum Symbol des Preußenhasses, unter ihrem Schatten glaubten die Würzburger Diplomaten die Unterordnung unter den Bundestag zu einem Gegenstanstande des Volkswillens machen zu können und der süddeutsche Liberalismus sekundierte ihnen nach Kräften, indem er die negative Haltung des Berliner Abgeordnetenhauses zu einer allgemeinen liberalen Kundgebung gegen die Vergrößerungsgelüste Preußens auszubeuten suchte, das noch eben durch seine kleinlichen Anstrengungen zur Ausweisung des Augustenburgers und durch die brutale Vergewaltigung an dem Redakteur May Freund und Feind gegen sich aufgebracht hatte. Die instinktive Ahnung von dem deutschen Beruf Preußens war aber stärker als der Unwillen über die Unklugheit und den Dünkel seiner gegenwärtigen Machthaber; die moralische Unterstützung, welche die besten politischen Köpfe Deutschlands den Februarforderungen angedeihen ließen, wog mehr als der Anblick des Widerstandes, den dieselben Männer der inneren Politik Bismarcks entgegensetzten, und es bedurfte einer sehr geringen Dosis von Scharfsinn, um zu der Überzeugung zu gelangen, dem preußischen Volk, wie allen wahren Freunden der Einheit und Freiheit Deutschlands, sei der junkerhafte Mann an der Spitze Preußens immer noch lieber als der liberale Herr v. Beust oder der bairische Volksfreund Herr v. der Pfordten.

Die einzelnen Stadien, durch welche die österreichisch-preußischen Verhandlungen liefen, ehe sie in Gastein zum Abschluss kamen, die kleinen Schachzüge zu Gunsten Oldenburgs oder Augustenburgs brauchen wir hier nicht zu rekapitulieren: als die Monarchenzusammenkunft in Salzburg ebenso wenig zu Resultaten zu führen vermochte als die Regensburger Ministerkonferenz, hatten sich die Gegensätze zu einer Schärfe und Erbitterung gesteigert, die in ängstlichen Gemütern bereits Kriegsbefürchtungen aufsteigen ließ. Im August wurde die allgemeine Spannung endlich durch das Gasteiner Übereinkommen gelöst: zwar kein Definitivum, nur ein neues Provisorium war alles, was man hatte verlangen können — aber dieses sprach durch die Abtretung Lauenburgs und die Einräumung des Kieler Hafens zu deutlich zu Gunsten Preußens, als dass eine neue Flut kleinstaatlicher Verwünschungen ausbleiben konnte, die sich dieses Mal indessen eben so reichlich über Österreich wie über Preußen ergoss, dem man in Süddeutschland ein zweites Olmütz von Herzen gegönnt hätte.

Seit der Besitznahme Lauenburgs (die Herrn v. Bismarck eine wahrscheinlich nicht unerwünschte Gelegenheit bot, der Lauenburger Ritterschaft zu beweisen, dass es auch für ihn eine Grenze von Zugeständnissen an den Feudalismus gebe) ist die Herzogtümerangelegenheit in einen Stillstand geraten, der allem Anschein nach für Preußen wenig ersprießlich sein dürfte; „moralische Eroberungen“ hat der Gouverneur von Schleswig, General Mannteuffel sicherlich weder mit seinen Drohungen gegen den Augustenburger, noch mit der Auflösung der schleswig-holsteinischen Vereine und der allgemeinen Knebelung der Presse gemacht, deren Einfluss man durch das Verbot, dem Herzog Friedrich landesherrliche Prädikate zu geben, schwerlich brechen wird. Selbst die wärmsten Anhänger des Annexionsplans, der einzigen konsequenten Lösung im preußischen und nationaldeutschen Sinne werden nicht leugnen können, dass die preußische Verwaltung Schleswigs neben der relativ humaneren der Österreicher in Holstein eine Rolle spielt, die einzig der Antipathie gegen die norddeutsche Schutzmacht und der Verbreitung und Befestigung partikularistischer Beschränktheit zu Gute kommt und einer friedlichen Lösung der Verwickelung ein übles Horoskop stellt.

Auch der Weg, den man durch die Befragung der preußischen Kronjuristen eingeschlagen, muss als ein ziemlich unglücklicher angesehen werden: man kann im Interesse der Notwendigkeit und einer großen deutschen Politik wohl über die Formen des strengen Rechts hinwegsehen; dieses Recht aber zu Gunsten der Staatswohlfahrt beugen, heißt den eigenen Credit untergraben und eine Verurteilung dessen, was man tun zu müssen geglaubt, ohne Not provozieren. Was inzwischen auf dem Gebiet der inneren Politik Preußens geschehen, hat den Umschlag der öffentlichen Meinung zu Gunsten der Regierung, der sich einen Augenblick zu regen schien, gleichfalls im Keime erstickt: wie das Verbot der Geburtstagsfeier des Augustenburgers einzig zu neuen Ovationen für denselben und zu dem (im September beschlossenen) Protest der schleswig-holsteinischen Ständemitglieder die Veranlassung gab, so haben das verunglückte Vorgehen Preußens gegen den Frankfurter Senat und die Prozesse gegen Jacoby, Twesten u. A. der liberalen Opposition neue Kräfte zugeführt und die Popularität derselben in integrum restituiert. Insbesondere der Versuch, die Versammlungen des Nationalvereins und des deutschen Abgeordnetentages aus Frankfurt zu vertreiben, zeugt von einer Kurzsichtigkeit, wie sie Herrn v. Bismarck kaum zugemutet werden konnte: nachdem diese Versammlungen durch das Fernbleiben der preußischen Mitglieder alle Bedeutung verloren hatten und ihre ohnmächtigen Resolutionen längst verpufft waren, hat die preußische Regierung ihnen durch ihre Note eine Wichtigkeit angedichtet, an die man in den Mittelstaaten um so lieber glaubte, als man dadurch Gelegenheit erhielt, gewisse mittelstaatliche Minister aufs Neue das liberale Pferd besteigen zu lassen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rückblick auf 1865