Polen

Die Reihe der internationalen Fragen, welche unsere Zeit beschäftigen und von denen hier zu handeln ist, muss notwendig mit der polnischen eröffnet werden. In keiner Phase ihrer bald hundertjährigen Geschichte hat diese Frage einen so nachhaltigen und weitgreifenden Einfluss auf die Geschicke und die innere Politik Russlands ausgeübt, wie seit den letzten drei Jahren. Während der Name „Polen“ für Westeuropa nur noch die Veranlassung zu den Ablagerungen gewisser Antipathien gegen Russland ist, bezeichnet er für Russland selbst den wichtigsten Wendepunkt in dessen innerer Entwickelung, den vielleicht das Jahrhundert aufzuweisen hat, indem er dem demokratischen Gedanken in Russland zu einer durchaus neuen Form der Erscheinung verhalf, ihn aus der mehr phantastischen Region, in der er sich bis dazu ziellos ergangen, auf ein bestimmtes Revier verwies und in den Dienst streng-nationaler Bestrebungen bannte. Es ist wohl auch sonst in der Geschichte vorgekommen, dass eine Frage der auswärtigen Politik sowie der Beziehung zu einer Kolonie oder einem Nebenlande von Einfluss aus die jeweilige Stimmung und Gedankenrichtung eines Volks war: dafür, dass diese Stimmung alle übrigen Neigungen und Rücksichten beherrscht und den günstigen Abschluss der Krisis, von welcher sie erzeugt worden, um Jahre überdauert hat, dafür wüssten wir kein ähnliches Beispiel anzuführen. Der Grund dieser Erscheinung ist in der Eigentümlichkeit der Lage zu suchen, in welche der russische Liberalismus um die Zeit des letzten polnischen Aufstandes geraten war.

Die liberale Strömung, welche in den ersten Jahren der durch den Namen Alexander II. bezeichneten neuen Epoche die russische Gesellschaft beherrschte, hatte, wie gesagt, etwas bodenlos Phantastisches an sich, wie namentlich in der eigentümlichen Anwendung französisch-sozialer Ideen aus das altrussische Institut des Gemeindebesitzes — einer Theorie, in welcher die von den verschiedensten Prämissen ausgehenden Parteien, Slavophilen und Alexander Herzen und ganz Jungrussland, bald übereinstimmten. Der bäuerliche Gemeindebesitz sollte das Prinzip der Zukunft sein, nicht nur für Russland, sondern auch für den aus einem falschen Zivilisationswege verrannten Westen; dem russischen Volke sollte die Welt dieses aus allen Nöten der hochgesteigerten Arbeitskonkurrenz und des Proletariats rettende Prinzip verdanken — und zwar nicht dem russischen Volke als politischem Ganzen, nicht der Staatsweisheit seiner Regierer, nicht dem Kodex seiner geschriebenen Gesetze, sondern vielmehr dem russischen Bauernvolke, das mit primitivem Genie jene rettende Sitte erfunden oder wenigstens treuer als andere Völker bewahrt hätte. Diese der Nationaleitelkeit schmeichelnde Theorie führte nun in richtiger Konsequenz zu einem Gegenbilde dessen, was auch anderwärts als Verherrlichung des ouvrier, als „Evangelium vom vierten Stande,“ schon dagewesen ist, zu einer wunderlichen Idealisierung des russischen Bauernstandes, die auch durch den ihr angehefteten Spottnamen der „Muschikophilie“ nicht zu diskreditieren war. Noch am Neujahrstage 1862 konnte der bekannte Professor Kostomarow in einem Aussehen erregenden Zeitungsartikel sein Bauernrussland — mit Perhorrescierung der Städte und aller nichtbäuerlichen Stände — als den letzten Zweck der nationalen Entwickelung proklamieren. Die Staatsregierung war unterdessen auch „muschikophil“ gewesen, aber freilich in ihrer Weise: sie hatte die Leibeigenschaft ausgehoben. Die Modalitäten dieses großen legislativen Akts genügten nicht dem extremeren Teil der theoretisierenden Köpfe. Die ersten Monate des Jahres 1862 weisen eine Reihe von Experimenten auf, an welchen der russische Radikalismus sich versuchen zu wollen schien: als es weder mit der Vernichtung des Adels, noch mit der Verwirklichung unreifer Konstitutionsideen vorwärts ging, griff das Handvoll exaltierter Fanatiker, das sich in Petersburg gesammelt hatte, zu revolutionären Proklamationen und vielleicht zur Brandfackel. Die Wirkung, welche dieses wahnwitzige Beginnen ausübte, ist zu bekannt, um der weiteren Erörterung zu bedürfen: im Handumdrehen ernüchterte sich die Gesellschaft und der Radikalismus verlor das Terrain noch rascher als er es gewonnen hatte. Am Ausgang des Jahres 1862 war aus die Hochflut der Frühlingsmonate eine gründliche Ebbe gefolgt, die Wasser der Bewegung schienen sich verlaufen zu wollen, da brach im Januar 1863 der polnisch-littauische Aufstand aus, und der Volksgeist wurde aufs Neue zu den Fahnen gerufen: die Verbindung der Herzen und Ogarew mit den polnischen Revolutionären brachte sie um allen Einfluss; die, sei es aus der kosmopolitischen Revolutions-, sei es aus der slavischen Nationalitätsidee begründeten Sympathien für die Polen, die sich noch beim Beginn des Aufstandes nicht völlig verleugnet hatten, schlugen in ihr direktes Gegenteil um, als die Westmächte Miene machten, zu Gunsten Polens zu intervenieren. Die Moskausche Zeitung fand die Zauberformel, die die Zügel der Bewegung in ihre Hände legte: das durch polnisch-aristokratische Einflüsse beherrschte und in die Sache des Aufstandes verwickelte westliche Russland sollte dem Mutterlande wiedergewonnen, der Einfluss der russisch gebliebenen Landbevölkerung vermittelst der Umgestaltung der Agrarverhältnisse entfesselt, eine neue russisch-nationale Ordnung hergestellt werden.


Dieser Gedanke war von zündender Wirkung. Hier war der Punkt gefunden, auf welchem die progressisistischen Tendenzen der sogenannten Gesellschaft mit dem Interesse des Staates und der Erhebung der Nation zusammenfielen. Die demnächst in den westlichen Gouvernements und im Königreich Polen zur Anwendung gekommenen agrarischen Maßnahmen waren der Staatsregierung nichts Anderes als ein Akt der abgezwungenen Notwehr, ein Mittel des Krieges wider den geschworenen Feind, eine Strafe für den Hochverräter; der „muschikophilen“ Gesellschaft dagegen hatten sie zugleich die positive Bedeutung eines weitern Fortschritts über das Emanzipationsgesetz vom 19. Februar 1861 hinaus zur vollständigeren Verwirklichung ihrer Ideale. Der polnische Aufstand hat dem russischen Radikalismus ein neues Objekt gegeben gerade in dem Augenblick, da er schon um die Mittel zur Fortführung seiner Existenz verlegen war. Zieht man weiter in Erwägung, dass es auch für die Regierung von Bedeutung sein musste, einflussreiche Kräfte, die bis dahin nur zersetzend gewirkt hatten, in ihren Dienst zu ziehen, so wird man den Zusammenhang der Dinge erkannt haben, welcher der gegenwärtig die Geister beherrschenden Strömung soviel Intensität und Dauerhaftigkeit gegeben hat. Ist doch z. B. das Verhalten der russischen Presse zu den Ostseeprovinzen eine direkte, wenn auch unberechtigte Fortsetzung derjenigen Gedankenreihe, welche die eisten Monate des Jahres 1863 in Bewegung gesetzt haben.

Aber nicht nur aus die innere, auch aus die auswärtige Politik Russlands ist die polnische Frage von nachhaltigstem Einfluss gewesen. Der diplomatische Sieg, den die Noten des Fürsten Gortschakow den Westmächten gegenüber erfochten, hat die Selbständigkeit Russlands gegenüber den übrigen europäischen Großstaaten aufs Neue befestigt, den alten Gegensatz gegen Österreich beträchtlich geschärft, Frankreich zu Rücksichten gegen Preußen gezwungen und nicht wenig dazu beigetragen, dem letzteren Staate für sein Vorgehen in Schleswig-Holstein freie Hand zu schaffen. Der Tod König Frederiks VII. nämlich war noch vor der Beendigung des polnischen Ausstandes und so unmittelbar nach Zurückweisung der westmächtlichen Einmischung erfolgt, dass man in Russland noch unter dem vollen Eindruck der Thatsachen stand, die alle europäischen Großmächte mit Ausnahme Preußens zu Gegnern Russlands gemacht hatten; es war darum nicht zu verwundern, dass man in Russland, trotz der lebhaftesten Sympathien für Dänemark und trotz der Abneigung gegen jede Kräftigung des preußischen Einflusses an der Ostsee, Anstand nahm, gemeinsam mit Frankreich und England, Preußen gegenüber ein energisches Verfahren einzuschlagen. In Übereinstimmung mit dem Volksgeist, den die letzten Erfahrungen mehr denn je aus sich selbst angewiesen und dem westlichen Europa entfremdet hatten, begab Russland sich jeder direkten Einmischung in die Herzogtümerfrage, indem es seine Aufmerksamkeit der Pazifikation Polens und der Befestigung des russischen Elements in den westlichen Provinzen zuwandte, die mit ihren Erinnerungen an die einstige Zugehörigkeit zu der königlichen Republik für immer abschließen sollten.

Wie für die Geschichte der letzten Jahre Russlands Polen von maßgebender Bedeutung gewesen ist, so hat Schleswig-Holstein bestimmend auf die jüngsten Geschicke Deutschlands eingewirkt. Sonderbar genug! in Russland hat die Begeisterung für die Behauptung eines zum Reich gehörigen, von diesem aber durch nationale, konfessionelle und politische Besonderheiten getrennten Territoriums die Wiederverschmelzung in der Zersetzung begriffener Elemente zu Wege gebracht; für Deutschland ist die glückliche Wiedererwerbung eines deutschen Grenzlandes, das man bereits halb verloren gegeben hatte, nicht nur zum Erisapfel *) der verschiedenen Glieder des Bundesstaats, sondern auch zu einem Signal geworden, das bewährte Partei- und Gesinnungsgenossen zum Auseinandergehen gezwungen und die einflussreichste politische Verbindung Deutschlands, den Nationalverein, nahezu ausgelöst, mindestens um den Rest seiner früheren Einheit und Kraft gebracht hat. Hüben wie drüben hat eine Frage der auswärtigen Politik die gänzliche Umgestaltung der inneren Lage nach sich gezogen, das Verhältnis der alten Parteien zu einander und zur Regierung verrückt, den Einfluss dieser wesentlich gekräftigt, zu einer Unterordnung der Parteiinteressen unter das Staatsinteresse gezwungen.

*) Zankapfel auch Apfel der Zwietracht. Urteil des Paris.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rückblick auf 1865