Italien

Auf dem halben Wege zwischen den europäischen Großmächten und den Staaten zweiten Ranges steht das junge Königreich Italien, noch immer ein Rumpf ohne die ersehnte Hauptstadt. Das wiederholte Scheitern der durch den, französischen Diplomaten Sartiges angeknüpften Verhandlungen zur Aussöhnung und Verständigung mit der päpstlichen Curie hat die Augen der Italiener auch während des vorigen Jahres trotz der teilweisen Ausführung der mit Frankreich vereinbarten Septemberkonvention immer wieder auf Rom gerichtet, damit aber den bestehenden Verhältnissen den Stempel des Provisorischen ausgedrückt und so die Lage wesentlich erschwert. Alle Anstrengungen der italienischen Regierung waren vergeblich; auch die Hoffnungen, die während der letzten Monate an die Entlassung des ultra-ultramontanen Grafen Merode geknüpft wurden, haben sich nicht verwirklicht; Rom steht noch immer auf dem Boden des non possumus und scheint unerschütterlich. Seit die päpstliche Curie durch jene Encyclica, die sie der erstaunten Welt zum Neujahr 1865 entgegendonnerte, und durch ihre Bulle gegen die Freimaurer und deren Genossen aufs neue den Gegensatz zwischen der mittelalterlichen und der modernen Welt geschärft hat, sind die Aussichten aus eine Auseinandersetzung mit dem modernen Italien, die Bestand haben könnten, unwahrscheinlicher denn je geworden und die Werbungen zur päpstlichen Armee, die in den letzten Wochen bis nach Frankreich ausgedehnt worden sind, werden das dominium temporale des Papstes schwerlich über das Grab des neunten Pins hinaus fristen. Je länger dieser lebt, desto sicherer fällt die überreise Frucht in den Schooß des geeinigten Italiens. Die Turiner Wirren, welche beim Beginn des abgelaufenen Jahres die Übersiedlung des Königs in die interimistische Hauptstadt Florenz begleiteten, sind samt ihren Folgen längst vergessen und an ermutigenden und glückverheißenden Ereignissen hat es der Regierung auch während der letzten zwölf Monate keineswegs gefehlt: zu diesen rechnen wir die Zeugnisse für das allenthalben im Zunehmen begriffene Vertrauen zum Bestand der neu-italienischen Verhältnisse, die Anerkennung des Königreichs durch das bourbonisch-katholische Spanien, später durch Baiern, Württemberg, Sachsen und andere deutsche Staaten, die ihre dynastischen Rücksichten und Liebhabereien der Macht der Tatsachen opfern mussten, sowie den Abschluss des Handelsvertrages mit Preußen und andern Staaten des Zollvereins; auf dem Gebiet der inneren Politik die allmähliche Abnahme des süditalienischen Brigantenwesens, den in Sachen der Einführung der Zivilehe erfochtenen Sieg über die halben und ganzen Klerikalen, die von Napoli kräftig begonnene Reform des Volksschulwesens, endlich die Begründung eines einheitlichen Zivilgesetzbuchs für die gesamte Monarchie, ein Erfolg der Angesichts des geschichtlich überkommenen und von den Mazzinisten absichtlich genährten Partikularismus der nord- und mittelitalienischen Städte nicht hoch genug angeschlagen werden kann. Aber alle diese Resultate, so erfreulich sie sind, nehmen neben den Schwierigkeiten, deren Überwindung es galt und noch jetzt gilt, doch nur einen bescheidenen Platz ein. Vor allem sind es finanzielle Nöte der ernstesten Art gewesen, welche immer wieder an den Grundlagen des Staates rüttelten; trotz der Emission eines neuen Papiergeldes im Betrage von 150 Millionen und trotz des einträglichen Verkaufs der Staatsbahnen stellte sich das voraussichtliche Defizit für die beiden nächsten Jahre im Januar 1865 immer noch auf 300 Millionen, eine Entdeckung, die von entmutigendster Wirkung auf die Kammern war und nicht verfehlen konnte, den empfindlichsten Druck aus die Staatspapiere und den Staatskredit auszuüben. Angesichts dieser finanziellen Kalamitäten musste die Regierung alle die Wünsche für eine allendliche Befreiung Venetiens, mit denen sie seitens der Partei, die ihre Hauptstütze bildet, gedrängt wird, hinausschieben, dadurch ihre innere Stellung aber wesentlich erschweren. Dem noch immer nicht überwundenen Mazzinismus führt die Selbstbeschränkung, zu welcher Victor Emanuel, Rom und Venetien gegenüber, gezwungen ist, fortwährend frische Kräfte zu, während die dadurch verursachten Schwankungen der Regierung aus der andern Seite den partikularistischen Neigungen in Süd- und Mittelitalien zu Gute kommen. An Schwankungen und Zerwürfnissen innerhalb der maßgebenden Kreise ist aber das Jahr 1865 reich gewesen: wir erinnern an die Leidenschaftlichkeit, mit welcher der Versuch einer Verständigung mit Rom angegriffen wurde, den Sturm gegen die diesen Verhandlungen zu Liebe verfügte Zurückziehung des Gesetzes über die Säkularisation der geistlichen Güter, den Lärm über das Petitische Rundschreiben in Sachen der Presse, die heftige Opposition, die sich in der Kammer gegen die Septemberkonvention geltend machte und durch den in Caprera grollenden Garibaldi unterstützt wurde, die Zerwürfnisse im Schooß des Kabinetts, die bald zur Berufung Corteses in das Justizministerium, bald zum Rücktritt des erfahrenen Lanza führten, endlich die für die Einheit und den Nachdruck der Aktion nicht eben günstigen und immer wiederkehrenden Befürchtungen vor einem Systemwechsel und dem Rücktritt Lamarmoras. Dass inmitten dieser Schwierigkeiten die Machtstellung Italiens nach außen im Zunehmen begriffen gewesen ist, zeugt für die der Sache des einigenden Italien innewohnende moralische Kraft und für die Richtigkeit der Grundgedanken der Cavourschen Politik, denen nachgerade auch die erbittertsten Gegner des großen, seinem Vaterlande zu früh entrissenen Staatsmannes, dem neuerdings sein alter Gefährte Massimo d'Azeglio ins Grab gefolgt ist, Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rückblick auf 1865