England

Wie für Frankreich war auch für England der Sieg der nordamerikanischen Union zu einem ebenso unerwarteten als folgenreichen Ereignis geworden. Schon bald nach Eröffnung des Parlaments (dessen vieljährige legislative Periode sich mit der ersten Hälfte des vorigen Jahres abschloss) machte sich aus die Kunde von den großen Siegen Shermans und Grants unter den britischen Staatsmännern eine Sorge für die Sicherheit der Grenzen Kanadas geltend, deren Gründe mehr in dem schlechten Gewissen, das man der Union gegenüber hatte, als in den tatsächlichen Verhältnissen zu suchen waren. Frankreich und England wurden beinahe gleichzeitig von einem panischen Schrecken vor der Eroberungslust ergriffen, die man den siegreichen Republikanern des Nordens andichtete: dieses zitterte für seine Kolonien, jenes für das neugeschaffene Kaisertum Mexiko, zu dessen Begründung Napoleon nur im Hinblick aus den Bürgerkrieg und in der Hoffnung aus dessen Fortdauer den Mut gehabt hatte. Militärische Erfolge, so fürchtete man in St. James und in den Tuilerien, würden dem Volk der Vereinigten Staaten zum Bedürfnis geworden sein, den kriegerischen Neigungen des Heeres zu Liebe werde Lincoln sich nach Beschäftigung für dasselbe im Norden oder Osten der Union umsehen müssen. Erst als vier Fünfteile der Unionsarmee ihre Waffen niedergelegt hatten, um zu den Beschäftigungen des Friedens zurückzukehren, atmete man wieder aus. Die scheußliche Ermordung Lincolns schien dann einen Augenblick in Amerika selbst Besorgnisse vor neuen inneren Wirren hinauszubeschwören. Als sich diese zerstreuten, tauchten in England neue Befürchtungen aus, dieses Mal durch die Gerüchte von den Rüstungen des irischen Fenierbundes, der in Pennsylvanien seinen Sitz hatte und bis ins Herz der grünen Insel hinüber verzweigt war, wachgerufen; aber schon bei der Auflösung des Parlaments wusste man, dass dieses Gespenst auch ohne Rüstungen zu bannen war. Das eigentliche Verfahren gegen die noch immer ziemlich geheimnisvolle sozialistische Verbindung begann indessen erst im Herbst und spielte neben der eben damals im vollen Gange begriffenen Wahlcapitulation eine nur bescheidene Rolle.

Die Parlamentsverhandlungen, welche diesen Neuwahlen vorausgegangen waren, hatten kein hervorragendes Interesse geboten; man hatte sich an den Gedanken gewöhnt, das unbestreitbar vorhandene Bedürfnis einer Parlamentsreform bis zu dem Tode Palmerstons, dessen abnehmende Kräfte dem großen Werke nicht mehr gewachsen waren, zu vertagen und einstweilen nicht über die Erledigung der lausenden Geschäfte hinauszugehen. Zwei Vorgänge aus der letzten parlamentarischen Session sind indessen hervorzuheben: der Tod Richard Cobdens, der zu einer so überaus würdigen Totenfeier im Unterhause Veranlassung gab und dessen Gedächtnis Whigs und Tory’s *) mit gleicher Ehrfurcht feierten — und der Rücktritt des Kanzlers Lord Westbury, der, getreu den ehrenhaften Traditionen der Staatsmänner Alt-Englands, wegen eines hinter seinem Rücken begangenen Missbrauchs seines Namens, resignierte. Schon beim Beginn der Wahlen war wiederholt von Schwankungen innerhalb des Kabinetts, beziehungsweise vom Rücktritt des Premiers die Rede gewesen; nichts desto weniger übte das Kabinett seinen früheren Einfluss noch in vollem Maße und entsprach das Ergebnis der Wahlen seinen Erwartungen. Wir übergehen die um dieselbe Zeit in Plymouth und Cherbourg gefeierten englisch-französischen Flottenfeste, als Schaustellungen, deren Wirkung bloß aus die Massen berechnet war, und wenden uns dem Hauptereignis des Jahres, dem im Oktober erfolgten Tode, des ältesten europäischen Staatsmannes, des ältesten und populärsten Ministers Englands, des greisen Viscount Palmerston zu, der noch die Tage des großen Pitt gesehen, seine parlamentarischen und ministeriellen Sporen unter den Castlereagh, Liverpool und Canning erworben und dann Jahrzehnte lang das Steuer des britischen Staatsschiffs gelenkt. Lassen sich die Folgen seines Ausscheidens auch noch nicht übersehen, hat die Macht seines Namens auch Wahlen zu Wege gebracht, die seinen Kollegen ein geneigtes und wesentlich unter whigistischen Einflüssen stehendes Parlament sichern, so hat es doch schon jetzt den Anschein, als ob die Whigs den Tod ihres Führers nicht lange überleben werden und als ob die Herrschaft des dritten Standes vor der Türe steht, um an das Kabinett zu pochen, das trotz aller Wandlungen der letzten Jahre bis zur Stunde das beinahe ausschließliche Eigentum der beiden alten Parteien, der „zehntausend herrschenden Familien“ der Nobility und Gentrv gewesen ist. Das lange zurückgekehrte Reformbedürfnis hat sich seit Palmerstons Tode mit doppelter Macht geltend gemacht und könnte leicht über die liberalen Absichten Earl Russels hinausschießen. Zu den natürlichen Schwierigkeiten, die sich der Führung des Unterhauses durch Mr. Gladstone entgegenstellen, sind seit den Grausamkeiten, die der Gouverneur Eyre sich in Jamaica zu Schulden kommen ließ, neue hinzugekommen, während die unvermutet rasche Erhebung des jungen Handelsministers Göschen zum Kanzler von Cambridge eine lebhafte Verstimmung unter den treuesten und erprobtesten Dienern und Freunden des Ministeriums hervorgerufen hat. Die Macht der von John Bright geführten Manchesterpartei kann durch einen Zwiespalt im Lager der Whigs nur Zuwachs gewinnen und es bedarf vielleicht nur einer günstigen Gelegenheit, etwa der Einberufung eines nach dem Tode Palmerstons gewählten Parlaments, um diese Partei zur Trägerin der Reform und damit zur Herrin der Situation zu machen. Ein bemerkenswertes Symptom der zunehmenden Macht der Radikalen war schon die im März des vorigen Jahres ohne alle Kosten und ohne jede Wahlbeeinflussung vollzogene Wahl des Nationalökonomen Stuart Mill zum parlamentarischen Vertreter Westminsters. Bright selbst hat im Laufe der Jahre an Umsicht, Mäßigung und Erfahrung und damit an Einfluss und Ansehen gewonnen; so groß aber auch die Macht der Tradition in England ist, so nachdrücklich sie zu Gunsten der noch jetzt regierenden Klasse reden mag, auf die Dauer wird sie dem Andringen neuer Mächte und Faktoren des englischen Staatslebens schwerlich widerstehen können, und einmal ans Ruder gekommen, dürfte die Herrschaft des britischen Mittelstandes, eine neue, noch nicht abzusehende Form der inneren und äußeren Politik Großbritanniens begründen. Ob und in wieweit ein solcher Umschwung in Englands eigenem Interesse zu wünschen ist, muss die Zeit noch lehren, unter allen Umständen wird der am Abend ihrer ausschließlichen Leitung des Staatswesens stehenden englischen Aristokratie der Ruhm nicht entgehen, ihr Vaterland zwei Jahrhunderte lang zur Heimat echter Freiheit und zum Träger einer den Erdball umspannenden Zivilisationspropaganda gemacht zu haben.


*) Wir erinnern an den ergreifenden Nachruf den Disraeli dem verstorbenen Gener widmete.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rückblick auf 1865