Wronke, den 19. 05. 1917

Wie schon ist es jetzt hier! Alles grünt und blüht.

Die Kastanienbäume sind in frischem herrlichen Laubschmuck, die Zierjohannisbeeren haben gelbe Sternchen, die Zierkirsche mit dem rötlichen Laub blüht auch schon und der Faulbaum wird nächstens blühen. Ich habe heute von Luise Kautsky, die mich besucht hat, zum Abschied einen Haufen Vergissmeinnicht und Stiefmütterchen gekriegt und sie selbst eingepflanzt! Zwei runde Klümbchen und eine gerade Linie dazwischen, immer abwechselnd Vergissmeinnicht und Stiefmütterchen, — alles steht so fest; ich traue kaum meinen Augen, denn ich habe zum ersten Mal im Leben gepflanzt und alles ist gleich so gelungen. Gerade zu Pfingsten werde ich so viel Blumen vor dem Fenster haben!


Vögel gibt es jetzt hier eine Menge neue, jeden Tag lerne ich wieder einen kennen, den ich nie gesehen hatte. Ach, wissen Sie noch, damals im Botanischen mit Karl in der Frühe, als wir die Nachtigall hörten, da sahen wir auch einen so großen Baum, der noch ganz ohne Laub, aber massenhaft mit kleinen leuchtend weißen Blüten bedeckt war; wir zerbrachen uns den Kopf, was denn das sei, denn es war klar, daß es kein Obstbaum war und die Blüten waren auch etwas seltsam. Jetzt weiß ich! Das ist eine Silberpappel und diese Blüten sind keine Blüten, sondern junge Blättchen. Das erwachsene Blatt der Silberpappel ist nämlich nur unten weiß, oben dunkelgrün, die jungen aber sind noch beiderseits mit weißem Flaum bedeckt und leuchten in der Sonne wie weiße Blüten. Solch eine große Pappel steht hier in meinem Gärtlein und auf ihr sitzen mit Vorliebe alle Singvögel. Damals am gleichen Tage wart Ihr Beide bei mir abends, erinnern Sie sich noch? Es war so schön; wir lasen uns etwas vor, und um Mitternacht, als wir stehend Abschied nahmen, — durch die offene Balkontür floss himmlische Luft mit Jasminduft herein — trug ich Euch noch jenes spanische Lied vor, das ich so gern habe:

Gepriesen sei, durch wen die Welt entstund,
Wie trefflich schuf er sie nach allen Seiten,
Er schuf das Meer mit endlos tiefem Grund,
Er schuf die Schiffe, die hinübergleiten.
Er schuf das Paradies mit ewigem Licht,
Er schuf die Erde — und Dein Angesicht! . . .


Ach Sonitschka, wenn Sie das nicht in Wolfscher Musik gehört haben, dann wissen Sie nicht, wieviel glühende Leidenschaft in diesen schlichten zwei Schlussworten liegt.

Jetzt, während ich das schreibe, ist eine große Hummel ins Zimmer geflogen und füllt es mit tiefem Brummen. Wie schön das ist, welche tiefe Lebensfreude liegt in diesem satten Ton, der von Fleiß und Sommerhitze und Blumenduft vibriert.

Sonitschka, seien Sie heiter und schreiben Sie bald, bald, ich habe Sehnsucht.

Ihre Rosa.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rosa Luxemburg - Briefe aus dem Gefängnis