Wronke, den 18. 02. 1917

.... Seit langem hat mich nichts so erschüttert, wie der kurze Bericht Marthas über Ihren Besuch bei Karl, wie Sie ihn hinter dem Gitter fanden und wie das auf Sie wirkte. Weshalb haben Sie mir das verschwiegen? Ich habe ein Anrecht, an allem, was Ihnen weh tut, teilzunehmen, und lasse meine Besitzrechte nicht kürzen! Die Sache hat mich übrigens lebhaft an mein erstes Wiedersehen mit den Geschwistern vor 10 Jahren in der Warschauer Zitadelle erinnert. Dort wird man in einem förmlichen Doppelkäfig aus Drahtgeflecht vorgeführt, d. h. ein kleinerer Käfig steht frei in einem größeren und durch das flimmernde Geflecht der beiden muss man sich unterhalten. Da es dazu just nach einem 6tägigen Hungerstreik war, war ich so schwach, daß mich der Rittmeister (unser Festungskommandant) ins Sprechzimmer fast tragen mußte und ich mich im Käfig mit beiden Händen am Draht festhielt, was wohl den Eindruck eines wilden Tieres im Zoo verstärkte. Der Käfig stand in einem ziemlich dunklen Winkel des Zimmers und mein Bruder drückte sein Gesicht ziemlich dicht an den Draht. „Wo bist Du?“ frug er immer und wischte sich vom Zwicker die Tränen, die ihn am Sehen hinderten. — Wie gern und freudig würde ich jetzt dort im Luckauer Käfig sitzen, um es Karl abzunehmen!

Richten Sie an Pfemfert meinen herzl. Dank für den Galsworthy aus. Ich habe ihn gestern zu Ende gelesen und freue mich sehr darüber. Dieser Roman hat mir freilich viel weniger gefallen als „Der Reiche Mann“, nicht trotzdem, sondern weil die soziale Tendenz dort mehr überwiegt. Im Roman schaue ich nicht nach der Tendenz, sondern nach künstlerischem Wert. Und in dieser Beziehung stört mich in den „Weltbrüdern“, daß Galsworthy zu geistreich ist. Das wird Sie wundern. Aber es ist derselbe Typ wie Bernhard Shaw und auch wie Oskar Wilde, ein jetzt in der englischen Intelligenz wohl stark verbreiteter Typus: eines sehr gescheiten, verfeinerten, aber blasierten Menschen, der alles in der Welt mit lächelnder Skepsis betrachtet. Die feinen ironischen Bemerkungen, die Galsworthy über seine eigenen personae dramatis mit dem ernstesten Gesicht macht, lassen mich oft laut auflachen. Aber wie wirklich wohlerzogene und vornehme Menschen nie oder selten über ihre Umgebung spötteln, wenn sie auch alles Lächerliche bemerken, so ironisiert ein wirklicher Künstler nie über seine eigenen Geschöpfe. Wohlverstanden, Sonitschka, das schließt die Satyre großen Stils nicht aus! Zum Beispiel „Emanuel Quint“ von Gerhart Hauptmann ist die blutigste Satyre auf die moderne Gesellschaft, die seit hundert Jahren geschrieben worden ist. Aber Hauptmann selbst grinst dabei nicht; er steht zum Schluss mit bebenden Lippen und weit offenen Augen, in denen Tränen schimmern. Galsworthy dagegen wirkt auf mich mit seinen geistreichen Zwischenbemerkungen, wie ein Tischnachbar, der mir auf einer Soiree beim Eintreten jedes neuen Gastes in den Salon eine Malice über ihn ins Ohr flüstert


. . . Heute ist wieder Sonntag, der tödlichste Tag für Gefangene und Einsame. Ich bin traurig, wünsche aber sehnlichst, daß Sie es nicht sind und Karl auch nicht. Schreiben Sie bald, wann und wohin Sie endlich zur Erholung gehen.

Ich umarme Sie herzlichst und grüße die Kinder,

Ihre Rosa.

Kann Pf. mir nicht noch etwas Gutes schicken? Vielleicht etwas von Th. Mann? Ich kenne noch nichts von ihm. Noch eine Bitte: die Sonne fängt an, mich im Freien zu blenden; vielleicht schicken Sie mir im Briefcouvert 1 Meter dünnen schwarzen Schleier mit zerstreuten schwarzen Pünktchen! Vielen Dank im Voraus.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rosa Luxemburg - Briefe aus dem Gefängnis