Wronke, den 15. 01. 1917

. . . Ach, heute gab es einen Augenblick, da Ichs bitter spurte. Der Pfiff der Lokomotive um 3,19 sagte mir, daß Mathilde abdampft, und ich lief gerade wie ein Tier im Käfig den gewohnten „Spaziergang“ an meiner Mauer entlang hin und zurück und mein Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz, daß ich nicht auch fort von hier kann, o, nur fort von hier! Aber das macht nichts, mein Herz kriegte gleich darauf einen Klaps und mußte kuschen; es ist schon gewöhnt, zu parieren wie ein gut dressierter Hund. Reden wir nicht von mir.

Sonitschka, wissen Sie noch, was wir uns vorgenommen haben, wenn der Krieg vorbei ist? Eine Reise zusammen nach dem Süden. Und wir tun das! Ich weiß, Sie träumen davon, mit mir nach Italien zu gehen, das Ihnen das Höchste ist. Ich plane hingegen, Sie nach Korsika zu schleppen. Das ist noch mehr als Italien. Dort vergisst man Europa, wenigstens das moderne Europa. Denken Sie sich eine breite heroische Landschaft mit strengen Konturen der Berge und Täler, oben nichts als kahle Felsklumpen von edlem Grau, unten üppige Oliven, Lorbeerkirschen und uralte Kastanienbäume. Und über allem eine vorweltliche Stille, — keine Menschenstimme, kein Vogelruf, nur ein Flüsschen schlickert irgendwo zwischen Steinen oder in der Höhe raunt zwischen Felsklippen der Wind, — noch derselbe, der Odysseus' Segel schwellte. Und was Sie an Menschen treffen, stimmt genau zur Landschaft. Plötzlich erscheint z. B. hinter einer Biegung des Bergpfades eine Karawane — die Korsen gehen immer hintereinander in gestreckter Karawane, nicht im Haufen wie unsere Bauern. Vorne läuft gewöhnlich ein Hund, dann schreitet langsam etwa eine Ziege, oder ein mit Säcken voller Kastanien beladenes Eselchen, dann folgt ein großes Maultier auf dem eine Frau im Profil zum Tiere mit gerade herabhängenden Beinen sitzt, ein Kind in den Armen. Sie sitzt hoch aufgerichtet schlank wie eine Zypresse, unbeweglich; daneben schreitet ein bärtiger Mann in ruhiger fester Haltung, beide schweigen. Sie würden schworen: es ist die heilige Familie. Und solche Szenen treffen Sie dort auf jeden Schritt. Ich war jedesmal so ergriffen, daß ich unwillkürlich in die Knie sinken wollte, wie ich’s immer vor vollendeter Schönheit muss. Dort ist noch die Bibel lebendig und die Antike. Wir müssen hin und so wie ichs getan: zu Fuß die ganze Insel durchqueren, jede Nacht an einem anderen Ort ruhen, jeden Sonnenaufgang schon im Wandern begrüßen. Lockt Sie das? Ich wäre glücklich, Ihnen diese Welt vorzuführen . . . Lesen Sie viel, Sie müssen auch geistig vorwärts kommen und Sie können das — Sie sind noch frisch und biegsam. Und nun muss ich schließen. Seien Sie heiter und ruhig an diesem Tage.


Ihre Rosa.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rosa Luxemburg - Briefe aus dem Gefängnis