Wronke, den 01. 06. 1917

.... die Orchideen überhaupt kenne ich gut; in dem wundervollen Gewächshaus in Frankfurt a. M., wo eine ganze Abteilung mit ihnen angefüllt ist, habe ich sie damals nach meinem Prozess, wo ich das Jahr gekriegt habe, mehrere Tage fleißig studiert. Ich finde, sie haben in ihrer leichten Grazie und den phantastischen, unnatürlichen Formen etwas so raffiniertes, dekadentes. Sie wirken auf mich, wie die zierlichen, gepuderten Marquisen des Rokoko. Ich bewundere sie mit einem inneren Widerstreben und einer gewissen Unruhe, wie meiner Natur überhaupt alles Dekadente und Perverse zuwider ist. Viel mehr Freude habe ich z. B. an dem einfachen Löwenzahn, der so viel Sonne in seiner Farbe hat und so ganz wie ich dem Sonnenschein sich voll und dankbar öffnet, beim geringsten Schatten aber wieder scheu verschließt.

Was für Abende jetzt und was für Nächte! Gestern lag ein unbeschreiblicher Zauber auf allem. Der Himmel war spät nach Sonnenuntergang von leuchtender Opalfarbe mit Streifen von unbestimmter Farbe verschmiert, ganz wie eine große Palette, auf der der Maler nach fleißiger Tagesarbeit seine Pinsel mit breiter Geste abgewischt hat, um zur Ruhe zu gehen, in der Luft lag ein bisschen Gewitterschwüle, eine leichte, herzbeklemmende Spannung; die Sträucher standen völlig regungslos, die Nachtigall ließ sich nicht hören, aber der unermüdliche „Gartenspötter“ mit dem schwarzen Köpfchen hupfte noch in den Ästen herum und rief schrill. Alles schien auf etwas zu warten. Ich stand am Fenster und wartete gleichfalls, weiß Gott auf was. Nach „Einschluss“ um sechs habe ich ja zwischen Himmel und Erde auf nichts mehr zu warten . . .



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rosa Luxemburg - Briefe aus dem Gefängnis