Breslau, den 24. 11. 1917

. . . Sie irren sich, daß ich von vornherein gegen die modernen Dichter bin. Vor etwa 15 Jahren habe ich Dehmel mit Begeisterung gelesen — irgendeine Prosasache von ihm — am Sterbelager einer geliebten Frau — ich habe eine dunkle Erinnerung — hat mich entzückt. Arno Holz' Phantasus kann ich jetzt noch auswendig. Johann Schlafs „Frühling“ hat mich damals hingerissen. Dann bin ich abgekommen und zu Goethe und Mörike zurückgekehrt. Hoffmansthal verstehe ich nicht, George kenn ich nicht. Es ist wahr: ich fürchte bei ihnen allen ein wenig die meisterhafte vollendete Beherrschung der Form, des poetischen Ausdrucksmittels und das Fehlen einer großen, edlen Weltanschauung dabei. Dieser Zwiespalt klingt mir so hohl in der Seele, daß mir dadurch die schöne Form zur Fratze wird. Sie geben gewöhnlich wunderbare Stimmungen wieder. Aber Stimmungen machen noch keinen Menschen.

Sonitschka, es sind so zauberhafte Abende jetzt, wie im Frühling. Ich gehe um 4 Uhr herunter in den Hof, es dämmert schon, dann sehe ich die scheußliche Umgebung in geheimnisvolle Schleier der Dunkelheit gehüllt, dafür leuchtet in heller Bläue der Himmel und ein silberner, klarer Mond schwimmt darauf. Um diese Stunde ziehen jeden Tag quer über dem Hof hoch oben Hunderte von Krähen im lockeren, weiten Band nach den Feldern hinaus, zu ihrem „Schlafbaum“, wo sie zur Nacht rasten. Sie ziehen mit gemächlichem Flügelschlag und tauschen merkwürdige Rufe aus — ganz anders als das scharfe „kräh“, mit dem sie bei Tag raubgierig nach Beute jagen. Jetzt klingt das gedämpft und weich, ein tiefer Kehllaut, der auf mich wirkt wie eine kleine Metallkugel. Und wenn mehrere abwechselnd dieses „kau — kau“ gurgelnd ausstoßen, ist mir, als ob sie spielend einander Metallkügelchen zuwerfen, die in der Luft im Bogen schweben. Es ist ein richtiges Geplauder von dem Erleben „vom Tage, vom heute gewesenen Tage“ . . . Sie kommen mir so ernst und wichtig vor, wie sie so jeden Abend ihrer Sitte und vorgezeichneten Bahn folgen, ich empfinde wie Ehrfurcht für diese großen Vögel, denen ich mit gehobenem Kopf nachschaue, bis zum letzten. Dann wandle ich in der Dunkelheit hin und her, und sehe die Gefangenen, die eilig ihre Arbeiten noch im Hofe verrichten, wie undeutliche Schatten herumhuschen und freue mich, daß ich selbst unsichtbar bin — so allein, so frei mit meinen Träumereien und den verstohlenen Grüßen zwischen mir und dem Krähenzug droben — mir ist so wohl bei dem linden, frühlingsmäßigen Luftzug. Dann gehen die Gefangenen mit den schweren Kesseln (Abendsuppe!) durch den Hof ins Haus, zwei und zwei, marschmäßig, zehn Paar hintereinander; ich folge als letzte; im Hof, in den Wirtschaftsgebäuden verlöschen allmählich die Lichter, ich trete ins Haus und die Türen werden zweimal verschlossen und zugeriegelt, — der Tag ist aus. Ich fühle mich so wohl, trotz des Schmerzes um Hans (Dr. Hans Dieffenbach, einer der besten Freunde R. L., ist im Krieg gefallen. D. Herausgeber). Ich lebe nämlich in einer Traumwelt, in der er gar nicht gestorben ist. Für mich lebt er weiter und ich lächle ihm oft zu, wenn ich an ihn denke.


Sonitschka, leben Sie wohl. Ich freue mich so auf Ihr Kommen. Schreiben Sie bald wieder — vorläufig offiziell — das geht ja auch — und dann durch Gelegenheit.

Ich umarme Sie.

Ihre Rosa.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rosa Luxemburg - Briefe aus dem Gefängnis