Breslau, den 24. 03. 1918

Meine geliebte Sonitschka, wie lange habe ich Ihnen nicht mehr geschrieben und wie oft habe ich in dieser Zeit an Sie gedacht! Die „Zeitläufte“ benehmen sogar mir zeitweilig die Lust zum Schreiben .... Wenn man jetzt Zusammensein und, im Feld schlendernd, de omnibus rebus plaudern könnte, wäre es eine Wohltat, aber darauf ist gar keine Aussicht zur Zeit. Meine Beschwerde ist mit gründlicher Schilderung meiner Schlechtigkeit und Unverbesserlichkeit abgewiesen und ein Antrag, wenigstens auf kurzen Urlaub, desgleichen. Ich muss also wohl warten, bis wir die ganze Welt besiegen.

Sonjuscha, wenn ich längere Zeit von Ihnen keine Nachricht habe, lebe ich in dem Gefühl, daß Sie dort einsam, unruhig, verdrossen und verzweifelt herumflattern, wie ein vom Baume losgelöstes Blatt im Winde, und das tut mir sehr weh. Schauen Sie, jetzt beginnt wieder der Frühling, die Tage werden schon so hell und lang, und im Feld gibt es sicherlich schon viel zu sehen und zu hören! Gehen Sie doch viel hinaus, der Himmel ist jetzt so interessant und mannigfaltig mit den jagenden unruhigen Wolken, die noch nackte Kalkerde muss in dieser wechselnden Beleuchtung schön sein. Sehen Sie sich für mich an alledem satt ... Es ist das Einzige, was man nie im Leben überkriegt, was stets denselben Reiz der Neuheit hat und einem immer treu bleibt. Sie müssen auch unbedingt für mich in den Botanischen Garten gehen, um mir genau über etwas zu berichten. Es geht nämlich in diesem Frühjahr etwas merkwürdiges vor: Die Vögel sind alle um 1 — 1 ½ Monate zu früh angekommen. Die Nachtigall war schon am 10. März hier, der Wendehals, der erst Ende April kommt, lachte schon am 15. und sogar der Pirol, den man den „Pfingstvogel“ nennt und der nie vor Mai kommt, flötet hier schon seit einer Woche vor Sonnenaufgang im Morgengrauen! Ich höre sie alle von weitem aus der Anlage des Irrenhauses. Ich weiß mir diesen verfrühten Heimgang gar nicht zu deuten und möchte wissen, ob dasselbe anderswo zu beobachten ist oder nur auf die Wirkung des hiesigen Irrenhauses zurückzuführen ist. Gehen Sie also in den Botanischen, Sonitschka, aber so in den Mittagsstunden bei sonnigem Tag, und belauschen Sie alles, um mir zu berichten. Das ist mir ja neben dem Ausgang der Schlacht bei Cambrai, das Wichtigste auf Erden, eine wahre Herzensangelegenheit.


Wie schön sind die Bilder, die Sie mir schickten! Von Rembrandt braucht man ja kein Wort zu sagen. Bei Tizian war ich von dem Pferd noch mehr überwältigt als von dem Reiter; so viel wahrhaft königliche Macht und Vornehmheit in einem Tier ausgedrückt, hätte ich nicht für möglich gehalten. Aber das aller-, allerschönste ist das Frauenbildnis von Bartolomeo da Venezia (den ich übrigens gar nicht kannte). Welcher Rausch in den Farben, welche Feinheit der Zeichnung, welcher geheimnisvolle Zauber des Ausdrucks! Sie erinnert mich darin in irgend einer unbestimmten Weise an die Mona Lisa. Sie haben mir mit diesen Bildern eine Fülle der Freude und des Lichts in die Zelle gebracht.

Das Buch von Hänschen (Hans Dieffenbach. D. H.) müssen Sie natürlich behalten; es schmerzt mich, daß alle seine Bücher nicht in unsere Hände kommen. Ich hätte sie Ihnen lieber als sonst wem gegeben. Haben Sie den Shakespeare einigermaßen zur Zeit erhalten? Was schreibt Karl, wann sehen Sie ihn wieder? Grüßen Sie ihn tausendmal von mir und sagen Sie ihm von mir: Ça ira [wir werden es schaffen (bezeichnet den Beginn eines bekannten Kampfliedes aus der Zeit der Französischen Revolution, das während des Föderationsfestes vom 14. Juli 1790 entstand. Es rief zum Kampf gegen Aristokratie, Klerus und Adel auf.)] - trotz alledem. Und seien Sie frisch und munter, freuen Sie sich über den Frühling: den nächsten werden wir schon zusammen verleben. Ich umarme Sie, Liebste. Fröhliche Ostern! Auch den Kindern viele Grüße!

Ihre Rosa.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rosa Luxemburg - Briefe aus dem Gefängnis