Breslau, den 02. 05. 1918

... Ich habe den Candide und die Gräfin Ulfeldt gelesen und mich über beides gefreut. Candide ist eine so köstliche Ausgabe, daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, das Buch aufzuschneiden und es so gelesen habe; da es in halben Bogen gefasst ist, ging das sehr gut. Diese boshafte Zusammenstellung aller menschlichen Erbärmlichkeiten hätte auf mich vor dem Kriege wahrscheinlich den Eindruck eines Zerrbildes gemacht, jetzt wirkt sie durchaus realistisch . . . Zum Schluss erfuhr ich endlich, woher die Redensart stammt: „mais il faut cultiver notre jardin“[Voltaire, Candide „Wir müssen unseren Garten kultivieren“,] die ich selbst schon gelegentlich gebrauchte. Die Gräfin Ulfeldt ist ein interessantes Kulturdokument, eine Ergänzung Grimmelhausens . . . Was machen Sie? Genießen Sie nicht den herrlichen Frühling?

Stets Ihre


Rosa.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rosa Luxemburg - Briefe aus dem Gefängnis