Aus Leipzig. Postkarte.*) Leipzig, 07. 07. 1916.

Meine liebe kleine Sonja!

Es ist heute eine drückende feuchte Hitze, wie meist in Leipzigs, — ich vertrage so schlecht die Luft hier. Ich saß vormittags 2 Stunden in den Anlagen am Teich und las im „Reichen Mann“.**) Die Sache ist brillant. Ein altes Mütterchen setzte sich neben mich, tat einen Blick auf das Titelblatt und lächelte: „Das muss ein feines Buch sein. Ich lese auch gern Bücher“. Bevor ich mich zum Lesen hinsetzte, prüfte ich natürlich die Anlagen auf Bäume und Sträucher hin, — alles bekannte Gestalten, was ich mit Befriedigung feststellte. Die Berührung mit Menschen befriedigt mich dagegen immer weniger; ich glaube, ich werde mich doch bald ins Anachoretentum zurückziehen, wie der hl. Antonius, aber — Sans tentations mehr. Seien Sie heiter und ruhig.


Herzliche Grüße

Rosa.

Den Kindern viele Grüße.

*) Diese Karte ist die einzige Karte aus der Freiheit. Am 10. 7. 1916 folgte R. L.s Verhaftung.

**) „Der reiche Mann“, von Galsworthy.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rosa Luxemburg - Briefe aus dem Gefängnis