Aus Breslau. Breslau, den 02. 08. 1917

Meine liebe Sonitschka, Ihr Brief, den ich am 28. erhielt, war die erste Nachricht, die mich hier von der Außenwelt erreichte, und Sie können sich leicht denken, wie sehr ich mich darüber freute. Meine Übersiedlung nehmen Sie, in Ihrer liebevollen Sorge um mich, entschieden zu tragisch ... Ich nehme, wie Sie wissen, alle Wendungen des Schicksals mit dem nötigten heiteren Gleichmut hin. Ich habe mich schon hier gut eingelebt, heute sind meine Kisten mit Büchern aus Wronke angekommen, bald werden also meine zwei Zellen hier mit den Büchern und Bildchen und dem bescheidenen Zierrat, den ich sonst mit herumschleppe, wieder so anheimelnd und behaglich aussehen, wie in Wronke, und ich werde mit doppelter Lust an die Arbeit gehen. Was mir hier fehlt, ist natürlich die relative Bewegungsfreiheit, die ich dort hatte, wo die Festung den ganzen Tag offen stand, während ich hier einfach eingesperrt bin, dann die herrliche Luft, der Garten und vor allem die Vögel! Sie haben keine Ahnung, wie ich an dieser kleinen Gesellschaft hänge. Aber das alles kann man natürlich entbehren, und bald werde ich vergessen, daß ich es je besser hatte als hier. Die ganze Situation hier ist so ziemlich genau wie in der Barnimstraße, nur der hübsche grüne Lazaretthof fehlt, in dem ich doch jeden Tag irgendeine kleine botanische oder zoologische Entdeckung machen konnte. Hier gibt es auf dem großen gepflasterten Wirtschaftshof, der mir zum Spaziergang dient, nichts zu „entdecken“. Und ich hefte krampfhaft meine Blicke beim Wandeln auf die grauen Pflastersteine, um dem Anblick der im Hofe beschäftigten Gefangenen zu entgehen, die mir stets in ihrer diffamierenden Tracht eine Pein sind und unter denen sich immer ein paar finden, bei denen Alter, Geschlecht, individuelle Züge unter dem Stempel der tiefsten menschlichen Degradation verwischt sind, ja aber gerade durch einen schmerzlichen Magnetismus immer wieder meine Blicke anziehen. Freilich gibt es auch überall einzelne Gestalten, denen sogar die Gefängnistracht nichts anhaben kann und die ein Malerauge erfreuen würden. So entdeckte ich schon hier eine junge Arbeiterin im Hof, deren schlanke knappe Formen, sowie der tuchumwundene Kopf mit dem strengen Profil direkt eine Millet-Gestalt abgäbe; es ist ein Genuss zu sehen, mit welchem Adel der Bewegungen sie Lasten schleppt, und das magere Gesicht mit der straff anliegenden Haut und dem gleichmäßig kreideweißen Teint erinnert an eine tragische Pierrotmaske. Aber gewitzigt durch traurige Erfahrungen suche ich solchen vielversprechenden Erscheinungen weit aus dem Wege zu gehen. In der Barnimstraße hatte ich nämlich auch eine Gefangene entdeckt von wahrhaft königlicher Gestalt und Haltung und dachte mir ein entsprechendes „Interieur“ dazu. Dann kam sie als Kalfaktrice auf meine Station, und es zeigte sich nach zwei Tagen, daß unter dieser schönen Maske ein solches Maß von Dummheit und niedriger Gesinnung steckte, daß ich fortan die Blicke immer abwendete, wenn sie mir in den Weg lief. Ich dachte mir damals, daß die Venus von Milo am Ende nur deshalb ihre Reputation als schönste der Frauen durch Jahrhunderte hat bewahren können, weil sie schweigt. Würde sie den Mund auftun, wäre vielleicht der ganze Charme zum Teufel.

Mein vis-à-vis ist das Männergefängnis, der übliche düstere rote Backsteinbau. Aber quer über die Mauer sehe ich die grünen Baumwipfel irgendeiner Anlage; eine große Schwarzpappel, die bei stärkerem Luftzug vernehmlich rauscht und eine Reihe viel hellerer Edeleschen, die mit gelben Schotenbündeln behängt sind. Die Fenster geben auf Nordwest Aussicht, so daß ich manchmal schöne Abendwolken sehe, und Sie wissen, daß mich eine solche rosige Wolke allein entzücken und für alles entschädigen kann. In diesem Augenblicke, 8 Uhr abends (in Wirklichkeit also 7), ist die Sonne kaum hinter den Giebeln des Männergefängnisses gesunken, sie scheint noch grell durch die Glasbodenluken im Dache und der ganze Himmel leuchtet goldig. Ich fühle mich sehr wohl und muss - ich weiß selbst nicht warum das Ave Maria von Gounod leise vor mich hinsinken (Sie kennen es wohl).


Vielen Dank für die abgeschriebenen Goethesachen, „Die berechtigten Männer“ sind in der Tat schön, obschon sie mir von selbst nicht aufgefallen wären; man lässt sich ja auch manchmal die Schönheit eines Dinges suggerieren. Ich möchte Sie noch bitten, mir gelegentlich „Anakreons Grab“ abzuschreiben. Kennen Sie es gut? Ich habe es natürlich erst durch Hugo Wolffsche Musik richtig verstanden; im Lied macht es geradezu einen architektonischen Eindruck; man meint einen griechischen Tempel vor sich zu sehen.

Jetzt eben — ich habe eine kleine Pause gemacht, um den Himmel zu beobachten — ist die Sonne schon viel tiefer hinter dem Gebäude versunken und hoch oben schweben — weiß Gott woher — lautlos zusammengelaufene Myriaden kleiner Wölkchen, die am Rande silbrig leuchten, in der Mitte zart grau sind und alle ihre zerfetzten Umrisse nach dem Norden steuern. Es liegt so viel Unbekümmertheit und kühles Lächeln in diesem Wolkenflug, daß ich mitlächeln muss, wie ich immer den Rhythmus des umgebenden Lebens mitmachen muss. Wie könnte man bei solchem Himmel „bös“ oder kleinlich sein? Vergessen Sie bloß nie, um sich zu blicken, dann werden Sie immer wieder „gut“ sein.

Dass Karl ein Buch speziell über den Vogelsang will, wundert mich ein wenig. Für mich ist die Stimme der Vögel untrennbar von ihrem ganzen Habitus und ihrem Leben, nur das Ganze interessiert mich, nicht irgendein losgerissenes Detail. Geben Sie ihm ein gutes Buch über Tiergeographie, das wird ihm sicher viel Anregung geben. Hoffentlich kommen Sie bald zu Besuch zu mir. Sobald Sie Erlaubnis haben, telegraphieren Sie mir.

Ich umarme Sie vielmals

Ihre Rosa.

Gott, Gnade mir. 8 Seiten sind’s geworden, nun, für diesmal mags hingehen. Dank für die Bücher.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rosa Luxemburg - Briefe aus dem Gefängnis