Wer von der Beschäftigung mit der griechischen Mythologie zu der mit der römischen übergeht, dem kann es nicht lange verborgen bleiben, daß er es nicht allein mit einer ganz andern, sondern auch in mehr als einer Hinsicht viel weniger günstigen Aufgabe zu thun hat.

Zunächst kann von einer eigenthümlichen römischen Mythologie d.h. von einer solchen, die auf älteren italischen Traditionen beruhte, überhaupt nur in einem gewissen Sinne die Rede sein, sofern man nehmlich bei diesem Worte auch wohl an die polytheistischen Göttersysteme überhaupt, nicht an einen durch Sage und Dichtung soweit wie die griechische, indische, persische, deutsche und scandinavische Mythologie ausgeführten Complex von Bildern und bildlichen Erzählungen denkt. Die älteste Grundlage dieses römischen und italischen Götterglaubens ist ohne Zweifel dieselbe einfache Naturreligion gewesen, deren Grundzüge wir bei allen Völkern des indogermanischen Sprachstamms wiederfinden: aber so wohl die urspnüngliche Gemüthsrichtung, wie sie die Geschichte eines jeden Volkes bedingt, als die äußern Umstände derselben müssen bei der Bevölkerung des alten Italiens wesentlich andre gewesen sein als namentlich bei ihren nächsten Anverwandten, den Griechen. Bei diesen war eine sehr erregbare Sinnlichkeit und eine eben so lebhafte Einbildungskraft die vorherrschende Anlage, ein natürlicher Zug zum Schönen und zum Bedeutsamen, welcher ihre religiösen Vorstellungen zu einer ebenso reichhaltigen als in ästhetischer Hinsicht vollendeten Mythologie und zu einem entsprechenden Gottesdienste angeleitet hat. Auch sind sie in ihrem vielgestaltigen, recht in die Mitte des Völkerverkehres auf dem mittelländischen Meere hineingeschobenen Lande sehr früh in Verbindungen, Kämpfe und Abenteuer verwickelt worden, die ihrem beweglichen Wesen entsprechend auch ihre Vorstellungen und Erinnerungen mit vielen neuen Bildern und Thatsachen befruchtet haben. Die italischen Altvordern der Römer dagegen sind, so viel wir wissen, von jeher weit weniger beweglich, in ihren Ansiedelungen und Gewöhnungen weit beharrlicher gewesen, offenbar weil sie ernsteren und beharrlicheren Sinnes und von einer Gemüthsart waren, welche sie mehr zur Beobachtung und Bewältigung der realen Lebensverhältnisse als zu einer idealen Auffassung derselben antrieb: daher wir sie auch in allen Sachen des Glaubens weit mehr zum Cultus und zur Religiosität als zur Mythologie und zur Aesthetik aufgelegt finden. Ich verstehe dabei dieses uns von den Römern überlieferte Wort Religion und Religiosität in demselben Sinne, in welchem es auch die alten Schriftsteller gewöhnlich gebrauchen, in dem Sinne einer strengen Gewissenhaftigkeit und peinlich genauen Ausübung heiliger Gebräuche, durch welche man sich der Gunst oder des Rathes der Götter zu versichern glaubte, ohne daß man sich deshalb um das Wesen und die Natur dieser Götter viel mehr als soweit es die praktischen Lebensbedürfnisse mit sich brachten bekümmerte; vielmehr es liegt in der natürlichen Art einer solchen Frömmigkeit, daß man die Namen, das Geschlecht, die persönlichen Eigenschaften der Götter lieber im Unklaren ließ als in deren Bestimmung, also in der Individualisirung der Götter zu weit ging. Dieses mußte von selbst zu einem sehr ins Einzelne ausgebildeten, aber immer streng ritualen Gottesdienste führen, zu vielen genau formulirten Opfern, Gebeten und Sühnungen, vielen Arten der künstlichen Divination, sammt andern Observanzen und Cerimonien des öffentlichen und privaten Lebens. Aber einer mythologischen Entwicklung konnte eine solche Religiosität unmöglich förderlich sein, wie sich der italische Götterglaube denn offenbar in dieser Hinsicht von den einfachen Bildern und Gedanken jener ältesten Nalurreligion, die wir als Gemeingut der Völker des indogermanischen Sprachstamms annehmen dürfen, weit weniger entfernt hatte als der der Griechen. Es kommt hinzu daß auch das Leben der italischen Bevölkerung, soweit wir nach ihrer Religion und nach andern Merkmalen darüber urtheilen können, weil länger ein einfaches, zurückgezogenes und continentales geblieben ist: ein Leben in den innern Bergen und Thälern des mittlern Italiens, wo diese Völker meist mit Viehzucht, Ackerbau und Weinbau beschäftigt waren und mehr in offenen Weilern, Dörfern und einzelnen Gehöften lebten als in Städten. Namentlich können sie weder die Wunder noch die Abenteuer des Meeres gekannt haben, da in dieser Hinsicht selbst das römische Göttersystem bis zur Einführung der griechischen Götter merkwürdig lückenhaft geblieben ist; ebenso wenig aber auch einen lebhafteren Handelsverkehr und so manche Erfindungen und Früchte der Civilisation, welche ihnen erst durch den Verkehr mit Etruskern und Griechen zugeführt worden sind. Auch darf man bei einer solchen religiösen Gemüthsrichtung ein vorzügliches Gewicht des geistlichen und priesterlichen Standes annehmen, welcher dieses Volk in der strengen Zucht vieler gottesdienstlicher Uebungen und Beobachtungen auf den späteren welthistorischen Beruf des römischen Staates und des römischen Rechtes vorbereitet haben wird. Selbst die vielen Kriege, von denen wir hören und welche wir wegen der allgemeinen Verehrung des Mars annehmen müssen, können dieses große Gewicht des priesterlichen Standes nicht gebrochen haben, da wir noch in der geschichtlichen Zeit in verschiedenen Gegenden und namentlich in der sabinischen Vorzeit Roms die deutlichen Merkmale davon wiederfinden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Römische Mythologie