Einleitung.

So unklar und verworren uns die ersten Gedanken jener geistvollen und hochherzigen Männer erscheinen mögen, die zuerst die soziale Frage einer Untersuchung unterzogen haben, so gaben sie doch schon die Basis, auf der die Späteren das Wesen dieses Problems zu erfassen vermochten; als so unbrauchbar die Lösungsvorschläge, die jene machten, sich erwiesen, so legten manche von ihnen doch den Grund zu Institutionen, die eine Erstarkung der Arbeiterklasse herbeizuführen und mindestens zu verhindern berufen waren, daß die sie von der übrigen Gesellschaft trennende Kluft sich noch drohender erweitere.

Hatte die traurige Lage der Arbeiterklasse es zunächst unmöglich gemacht, daß aus ihrer eigenen Mitte der Anklageruf gegen die Gesellschaft erscholl, so verfehlte doch nicht der stetige, ungeahnte Aufschwung in der Industrie auch ihre Daseinsbedingungen, wenn auch nicht ohne immer wieder eintretende Reaktionen, doch so zu verbessern, daß sie den Kampf mit der ihr entgegenstehenden Klasse aufzunehmen befähigt wurde. Nicht die verelendende, sondern die erstarkende Klasse erhob sich zum Kampfe, denn nur eine solche vermag in sich den Gedanken zu erzeugen, daß sie dazu berufen sei, eine neue, höhere Ordnung der Gesellschaft herbeizuführen, der Gesellschaft der Zukunft neue Grundlagen zu geben.


Waren es zunächst hauptsächlich auch wieder Angehörige des dritten Standes, die die Arbeiterbewegung ins Leben riefen, so gingen diese doch ausschließlich von den Interessen der Arbeiter aus und sprachen und schrieben in deren Namen. Die Größe und Kühnheit des neuen Gedankens, der sich der Arbeiterklasse bemächtigte, sucht in der Vergangenheit vergebens ihresgleichen. Aber zugleich gab ihm die Verbitterung, in die eine entrechtete und ausgebeutete Klasse verfallen mußte, eine unendliche Dumpfheit und Schwere; er wollte nicht die Aufforderung an die Gesellschaft zu lebendigem Tun sein, sondern er war die Verkündigung eines unabwendbaren Schicksals.

Der Marxismus, der nicht forderte, sondern konstatierte, l ) wurde die Lehre des Proletariats, während die gleichzeitig entstandenen Lehren eines Lassalle und eines Rodbertus, die insofern zusammengehören, als sie forderten, wo jeher erwartete, zunächst weder in der Arbeiterklasse noch in der übrigen Gesellschaft auf sehr fruchtbaren Boden fielen.

1) Vergl. Stammler: Wirtsch. u. Recht S. 54.

Vielleicht war dieser Entwicklungsgang notwendig, um die Arbeiterklasse mit derjenigen Glaubenssicherheit auszurüsten, deren sie nicht entraten konnte, wenn sie ihrer Aufgabe gewachsen sein sollte. Aber was zunächst diesen Dienst leistete, konnte schließlich zur Bewegungshemmung werden, wenn es die Geister festhielt, ihnen nur das Ziel zeigte, sie nicht aber die Bewegung lehrte. In der Praxis allerdings konnte die auf dem Marxismus basierende Sozialdemokratie jener fatalistischen Theorie nicht treu bleiben, und wo sie es tat, geschah es zu ihrem eigenen Schaden.

Dagegen tritt der Sozialismus des den größten Teil seines Lebens in tiefer Zurückgezogenheit lebenden und daher lange nicht genug beachteten Rodbertus von vorne herein, wenn auch allerdings nicht durchgehend, lebendiger, fordernder und daher zukunftsfroher vor uns. Auch Rodbertus sieht mit Notwendigkeit eine auf neuen Grundlagen aufgebaute neue Staatenordnung sich vorbereiten. Und wenn sogar Marx eingeräumt hatte, daß die Gesellschaft, wenn sie dem „Naturgesetz" ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist, die „Geburtswehen" der neuen Ordnung „abkürzen und mildern" 2) könne, so ist es Rodbertus' Grundüberzeugung, daß im gesellschaftlichen Geschehen nicht Naturgesetze walten, daß vielmehr fortschreitend in immer höherem Maße die Ideen der Menschen die soziale Entwicklung mit bestimmen. Nicht der brutale Anprall der Gegensätze soll die neue, höhere Epoche herbeiführen, ein bewusstes Eingreifen zum Zwecke einer Neugestaltung der gesellschaftlichen Ordnung kann gefordert werden. Nur ein solcher Standpunkt sichert auch die Möglichkeit jener, das eigentliche Problem der sozialen Frage bildenden notwendigen Aussöhnung zwischen Individual- und Gemeinschaftsprinzip, die der Marxismus nicht eröffnet, wenn er sie auch nicht ausdrücklich verneint.

2) S. Marx 7 Kapital I 5. Aufl. S. VIII.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rodbertus Stellung zur sozialen Frage