Schwierigkeit und Einseitigkeit der Arbeitstheorie bei Rodbertus und bei Marie.

Die Kosten des Guts sind immer auf Arbeit zu reduzieren. Ist dies aber der Fall, so ist in der Zeit ein Maß gegeben, um die Kosten eines Guts auszudrücken und um verschiedene Güter miteinander zu vergleichen. Um solche Berechnungen zu vollziehen, ist nur die Fiktion einer allgemeinen „gesellschaftlich notwendigen“ Arbeit anzunehmen. Rodbertus gebraucht diesen Ausdruck nicht, aber er konstruiert doch bereits den Begriff mit aller Deutlichkeit, 18) — jedoch mit anderem Inhalt als später Marx — , indem er die Verschiedenheit der Arbeiten wie der Arbeiter durch einen Durchschnitt sich aus* geglichen denkt.

18) Besonders in seinem „Normalarbeitstag“, der später zu behandeln sein wird.


Rodbertus macht sich dieses Geschäft allerdings sehr leicht, weil er den Begriff Arbeit äußerst eng faßt. Er versucht es gar nicht, die wirkliche Mannigfaltigkeit der in der Gesellschaft sich vollziehenden Arbeiten ins Auge zu fassen, geistige wie mechanische Arbeit auf einen Bruchstrich zu setzen, um für die Gesamtheit der Arbeiten, was allerdings wohl kaum denkbar ist, wodurch allein aber die Arbeitswerttheorie Interesse verdienen würde, den einen gemeinsamen Generalnenner zu finden. Es fällt ihm nicht bei, einen Arbeitsbegriff zu suchen, der für Muskelarbeit wie geistige Arbeit gleichmäßig gilt, er reduziert nicht, um einen einheitlichen Ausdruck zu finden, geistige Arbeit auf Muskelarbeit, sondern schließt die erstere einfach aus der Betrachtung aus, weil ihm nur materielle Arbeit als Aufwand in der Produktion in Betracht kommt.

Aus diesem Grunde bleibt ihm auch der Begriff der „komplizierten“ Arbeit, den Marx aufstellte, unbekannt. Für ihn kann es in der wirtschaftlichen Produktion nur mehr oder weniger intensive Arbeiten geben, d. h. solche, die je in einem kürzern oder längern Arbeitstag die Muskelkraft des Menschen verbrauchen, so daß sie wieder durch Ruhe und Nahrung ersetzt werden muß. Damit wäre ein Maß zur Messung verschiedener Muskelarbeiten, aber nicht der Arbeit überhaupt gegeben. Alle nicht materiellen Tätigkeiten fallen bei Rodbertus einfach unberücksichtigt heraus, so daß, was er gibt, gar nicht eine Reduktion aller mannigfaltigen Arbeiten auf „einfache“ Arbeit ist.

Marx vermag den Weg hierzu eher anzudeuten, weil er den Begriff Arbeit, die wertbildend im Arbeitsprozess sich betätigt, nicht in gleicher Weise eng faßt wie Rodbertus. Für ihn ist Arbeit „produktive Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.“ 19) Diese Definition erkennt also zunächst eine Mannigfaltigkeit möglicher produktiver Arbeitstätigkeiten, geistiger und mechanischer, an. Diese sucht Marx dann auf einen gemeinsamen Ausdruck zu bringen, auf die Verausgabung einfacher Arbeitskraft zu reduzieren, d. h. auf solche, „die im Durchschnitt ein jeder gewöhnliche Mensch ohne besondere Entwicklung in seinem leiblichen Organismus besitzt“. 20) Auf solche Weise kann auch der Begriff der komplizierten Arbeit eingeführt werden, sie ist „multiplizierte einfache Arbeit.“ Marx läßt also im Gegensatz zu Rodbertus die wirtschaftlichen Güter nicht aus den materiellen Tätigkeiten allein hervorgehen, sondern reduziert bloß alle Arbeiten auf „einfache“. Während also Rodbertus seinen Satz, daß alle wirtschaftlichen Güter Arbeitsprodukt sind, so versteht, „daß die Güter wirtschaftlich genommen nur das Produkt derjenigen Arbeit sind, welche die materiellen Arbeiten, die dazu nötig waren, verrichtet hat“, sieht Marx ein, daß mit dem kooperativen Charakter des Arbeitsprozesses der Begriff der produktiven, wertbildenden Arbeit und ihres Trägers, des produktiven Arbeiters, sich notwendig erweitert, so daß, um produktiv zu sein, es nicht nötig ist, „selbst Hand anzulegen; es genügt, Organ dös Gesamtarbeiters zu sein, irgend eine seiner Unterfunktionen zu vollziehen“. 21)

19) Marx' Kapital Bd. I 5. Aufl. S. 10.

20) Ebenda S. 11.

21) Rodbertus: 3. soz. Brief S. 27. Marx' Kapital I 5. Aufl. S. 473.

Auch auf solcher breitern Basis, wenn auch jene zweifelhafte Möglichkeit der Reduktion als wirklich angenommen wird, erweist sich in der praktischen Wirklichkeit, nicht nur der heutigen, sondern auch einer etwaigen spätem, auf sozialistischer Grundlage produzierenden Gesellschaft, die Arbeitstheorie als unfähig, das Wertproblem zu lösen, da sie nur die sozialen Kosten, nicht aber den örtlich, zeitlich und sachlich wechselnden Nutzwert berücksichtigt. Auf der engen Basis, auf der Rodbertus sie aufbaut, muß sie um so mehr versagen.

Rodbertus bezeichnet zwar die materiellen Arbeiter als „die Schöpfer des Reichtums“ 22), aber nicht so, daß er ihnen das Recht auf den vollen Arbeitsertrag zusprechen könnte, denn in seinen Arbeitsbegriff gehen eine Reihe gesellschaftlich notwendiger Arbeiten nicht ein, von denen er nicht leugnen kann, daß sie zur Fertigstellung des wirtschaftlichen Produkts auch „beitragen“, 23) Ein Maß für deren Leistungen gibt ihm jedoch 'seine Arbeitstheorie nicht, also auch kein Wertmaß der Güter, wenn sie auch ein solches zu geben behauptet.

22) I. soz. Brief S. 173.

23) Z. Erklärg. u. Abb. d. Kred. Not d. Grundbesitzes 1. Aufl. S. 112.

Obwohl in ihren Einzelheiten interessant, gibt sie im ganzen doch nicht mehr, als eine Anregung zur Auffindung des Normalarbeitswerktages, worauf Rodbertus sehr viel Gewicht legte. Er erklärte es auch als das Hauptziel seiner Untersuchungen, „den Anteil der arbeitenden Klassen am Nationaleinkommen zu erhöhen und zwar auf einer soliden, den Einwirkungen der Wechselfälle des Verkehrs entzogenen Grundlage“. 24)

24) Z. Erkenntnis, S. 28.

In diesem Moment der Geschichte ist für ihn das Entscheidende: „Was fordern die arbeitenden Klassen?“ Es ist, ohne daß er sich dessen ganz bewußt ist, nicht der Gesichtspunkt der Gesellschaft, der seine Arbeitstheorie bestimmt, sondern derjenige „des durch die Revolution von 1789 seiner Fesseln entledigten Individuums“, und zwar des Individuums derjenigen Klasse, der jetzt die entscheidende Rolle in der sozialen Geschichte der Völker zufällt. Wie der moderne Arbeiter doch auch zunächst nicht vom Gesichtspunkt der Gesellschaft, sondern vorerst von seinem bzw. seiner Klasse Interesse ausgeht und allerdings überzeugt ist, daß die Gesellschaft durch die Gewährung seiner Forderungen sich am besten befinden wird, so geht auch Rodbertus in der Aufstellung seines sozialen Ideales bzw. seines Reformplanes, der auf seiner Arbeitstheorie fußt, in Widerspruch zu seiner organischen Auffassung der Gesellschaft oder, wie wir anzunehmen berechtigt sind, sie korrigierend, von den Forderungen und den Rechten des Individuums aus und verlangt mit St. Simon: „à chacun selon sa capacité et à chaque capacité selon ses oeuvres“; 25) Er lehnt aber das „arbitrium der Obern“ der St. Simonistischen Ordnung ab und will das Gütereigentum nur durch „das eigene Recht des Individuums begründet wissen“; 26) „der Staatswille soll sich brechen an dem „„rechtlichen rocher des Verdiensteigentums.“ 27) „Leben, Talent und Fähigkeit bleiben das Eigentum von Jedermann.“ 28) „Ich will dadurch“, heißt es an anderer Stelle, „daß ich den Arbeitern ein größeres Los am Nationaleinkommen sichere, zugleich die periodischen furchtbaren Krisen beseitigen.“ 29) Nur wenn den Individuen ihr Recht werden wird, wird die Gesellschaft vor Erschütterungen bewahrt werden.

25) H. Dietzel: K. Rodbertus, Darstellg. s. Sozialphilos., S. 67.

26) Rodbertus: Die Ford. d. arb. Klassen, S. 210.

27) H. Dietzel: a. a. O. S. 67; Briefe u. soz.-pol. Aufsätze v. R.-M. S. 413.

28) Rodbertus: „Kapital“ S. 213.

29) Z. Erkenntnis, S. 29.

Es ist unverkennbar, daß die Rodbertus'sche Wertlehre nicht nur insofern einen individualistischen Charakter hat, als sie, sowohl was Leistung als auch Anspruch der materiellen Arbeit betrifft, an das Individuum anknüpft, sondern mehr noch durch die Tatsache, daß sie die unendliche Zahl aller nicht materiellen Tätigkeiten nicht in die Betrachtung mit einbezieht und dadurch einräumt, daß die aus den mannigfaltigen individuellen Talenten und Fähigkeiten resultierenden Tätigkeiten gar nicht unter einen einheitlichen Begriff sich subsummieren lassen, vielmehr jede einzelne Tätigkeit ihre besondere Berücksichtigung und Bewertung verlangt.

Es ist Rodbertus' Ziel, die Arbeiter an der steigenden Produktivität der Volkswirtschaft teilnehmen zu lassen. Wir haben gesehen, daß bei ihm der Begriff der Arbeit nicht derart herausgebildet ist, daß er ihr ein ungekürztes Anrecht auf das ganze Produkt zusprechen könnte, da er von der Arbeit produktive „Tätigkeiten“ unterscheidet, die auch zum Produkt beitragen. Es ist somit mit seiner Arbeitstheorie ein Maß und eine Grenze für die Anteilberechtigungen der Arbeiter eigentlich nicht gegeben. Die Lücke überspringt Rodbertus, indem er in seiner Theorie der „Rente“, um ein Anrecht des Arbeiters auf Steigerung seines Produktanteils zu statuieren, den Arbeiter lediglich dem Besitzer „rentierenden Eigentums“, d. h. demjenigen, der ohne zu arbeiten auch Produktanteil bezieht, gegenüberstellt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rodbertus Stellung zur sozialen Frage