„Leitende Gesichtspunkte zur Behandlung der sozialen Frage“.

Daß er das Problem der sozialen Frage mit dem Normalarbeitstag nicht erschöpft hatte, darüber hat sich Rodbertus nicht getäuscht. Er trug sich noch, wie wir einem am 8. Februar 1872 an R. Meyer gerichteten Brief entnehmen, mit dem Gedanken einer Arbeit über „Leitende Gesichtspunkte für die Behandlung der sozialen Frage“, bezweifelte es allerdings, ob er noch dazu kommen würde. Ausgeführt hat er diesen Gedanken nicht; immerhin wurden in seinem Nachlaß Entwürfe zu einer solchen Schrift vorgefunden, die die Kenntnis der Rodbertus'schen Ansichten ergänzen und erweitern.

Hier unterscheidet er zwei Klassen von Reformen: solche, welche auf dem Boden der heutigen Verhältnisse sich bewegen, und solche, welche den Keim der künftigen Organisation in sich tragen.


Die letzteren bestehen vor allem darin, daß der Staat immer mehr diejenigen Industrien in seiner Hand zu vereinigen suchen solle, die für sich in Anspruch zu nehmen ihm die Umstände ermöglichen; und Rodbertus ist auch der Meinung, daß die Entwickelung dahin tendiert, immer mehr die Leitung der Nationalökonomie dem Staate in die Hände zu spielen. „Der Staat darf keine Industrie treiben, sagt Manchester. Der Staat und nur der Staat muß die Industrie treiben und leiten, sagen die Sozialisten. Der Staat kann und muß unter Umständen Industrie treiben, sagen wir.“ 26) Die Möglichkeit und die Pflicht des Staates, Industrie zu treiben, ist heute schon in drei Fällen offenbar. Einmal, wo die Organisation in Händen des Staats der gesamten Bevölkerung gleichmäßig zugute kommt. Ferner, wo die Staatsindustrie allein die Möglichkeit gewährt, die Monopolisierung und die Ausdehnung des Privatbetriebs in Privathänden auszuschließen. Sodann in den Fällen, wo der Staat selbst als Konsument auftritt.

26) „Entwürfe 14, a. d. lit Nachl. Bd. III S. 251 f.

Steht Rodbertus somit für die Gegenwart in der Mitte zwischen Manchestertum und extremem Sozialismus, so liegt doch wenig Anlaß vor, ihn mit Dietzel zu den Kathedersozialisten zu zählen. Rodbertus selbst würde sich jedenfalls entschieden dagegen verwahren, wie er es zu Lebzeiten oft und derb genug getan hat. Wie weit er sich von den Kathedersozialisten entfernt fühlte, dafür sprechen seine gelegentlichen, etwas unhöflichen Äußerungen deutlich genug. 27) Vor allem aber trifft dasjenige, was Karl Lamprecht der „kulturhistorischen“ Schule, welche ja der kathedersozialistischen nahe steht, als höchste Tugend nachrühmt, daß sie nämlich von keiner bestimmten Weltanschauung ausgehe, 28) für Rodbertus ganz und gar nicht zu. Nicht blindtastend geht er an die Dinge der Vergangenheit wie Gegenwart heran, um sie lediglich zu beschreiben, Tatsachen zu sammeln, um am Ende aller Tage zu einem Schlussresultat zu gelangen; ein Entwickelungsgedanke leiht ihm das Licht, in die Vergangenheit hineinzuleuchten, die wichtigeren Tatsachen von den weniger wichtigen zu unterscheiden; so erkennt er die bestimmenden Faktoren, die im Laufe der Entwickelung einander ablösen, zurücktreten bzw. von neuem erscheinen, so sieht er aus der Vergangenheit in der Zukunft eine neue Ordnung sich vollziehen, die sich in der Gegenwart bereits regt; und als Merkmal dieser neuen Ordnung, daß sie die Gemeinschaftssphäre der menschlichen Gesellschaft erweitert und einem neuen, dem „echten“ Eigentumsprinzip den Sieg bereiten wird. So will er nicht bloß an den „Symptomen kurieren“, sondern die soziale Frage an ihrer Wurzel erfaßt und die Gesellschaft, von der gewonnenen Weltanschauung aus, jenem neuen, von der Geschichte geforderten Zustand entgegengeführt sehen. Er macht daher den Kathedersozialisten zum Vorwurf, „daß ihre Bestrebungen, Vorschläge und Maßnahmen ganz äußerlich an die soziale Frage herantreten, so daß sie über eine immerwährende Experimentalökonomie, bei der die misslungenen Versuche weit überwiegen werden, nicht hinauskommen“, ferner würdigen sie die „welthistorische Bedeutung der sozialen Frage“ nicht „und werden sich daher in ihren Bestrebungen niemals zu der Höhe aufschwingen, die dieser Frage als der Begründerin einer neuen Staatenordnung zukommt.“ 29)

27) „Hoffentlich halten Sie mich für keinen Kathedersozialisten“, schreibt er vor der ersten Eisenacher Versammlung, zu der er die Einladung abgelehnt hatte. Kurz nach derselben äußert er sich, daß nur Ad. Wagner dem Kongreß etwas Salz gegeben habe. „Alles übrige von Gneist, Schmoller usw. ist reiner Zuckerwassersozialismus.“ Später werden seine Äußerungen immer heftiger: „Eisenach ist hochkomisch“, heißt es, und später wieder in einem Briefe an R. Meyer: „Daß die Eisenacher Professoren impotente Perückenstöcke sind, wissen wir ja“. (Vergl. Briefe u. soz.-pol. Aufsätze S. 233, 245 ff., 431.)

28) Vergl. Oncken: Geschichte d. Nat.-Ökon. S. 11 Anm.

29) Briefe u. soz.-pol. Aufsätze S. 325.

Wenn auch in jenen „Leitenden Gesichtspunkten zur Behandlung der sozialen Frage“ alle vorgeschlagenen Maßnahmen wiederum auf die eine Aufgabe beschränkt werden, für das Mitsteigen des den Arbeitern zufallenden Lohnanteils am Nationaleinkommen mit dem Steigen des letzteren zu sorgen, so wird zu diesem Zwecke ein System von Mitteln als erforderlich erkannt, nicht mehr ausschließlich das Eine, der Normalarbeitstag. Wir werden deshalb keinen Widerspruch konstatieren. Bis in die letzten Jahre seines Lebens hatte Rodbertus vor allem das Ziel ins Auge gefaßt. Dem in die Ferne gerichteten Auge mußten die vielfach verästelten und schließlich in einander übergehenden Mittel und Wege als Eine Straße erscheinen, die nach jenem Ziele führte. Nun sieht der Denker zurück; erfüllt von dem großen Ideale der Zukunft, verlangt er doch nicht den „halsbrecherischen Sprung“, sondern eine allmähliche Entwicklung aus den heutigen Verhältnissen heraus. „Ich lege auf einen loyalen Übergang Wert, in den Dingen bin ich radikal“ wiederholt er immer wieder.

An der Spitze der Reformen, die auf dem Boden der heutigen Verhältnisse sich bewegen, steht die Forderung „umfassender und genauer Enqueten“ über den Zustand der Arbeiterbevölkerung, die darüber Aufschluss geben, wie derselbe ist, und wie er sein sollte. Dabei versteht also Rodbertus unter diesen Enqueten, ähnlich wie es die „Questions“ Quesnays im Sinne hatten, 30) nicht eine bloße „Sammlung rohen Tatsachenmaterials“, sondern es soll bei der Einzelfrage ein Gesichtspunkt hervortreten, „der als Maßstab an die Dinge angelegt“ wird, nicht nur das „Sein“, sondern gleichzeitig dessen Verhältnis zum „Seinsollen“ festgestellt werden. So lautet Frage VII des von Rodbertus für den landwirtschaftlichen Kongreß von 1875 ausgearbeiteten und gemeinsam mit Ad. Wagner und Rud. Meyer gestellten Antrages, die allerdings mit anderen Fragen gegen den Willen Rodbertus , aus dem Antrage schließlich fortgelassen wurde, folgendermaßen: „Inwiefern verletzt ein Fallen des verhältnismäßigen Arbeitslohns die Grundsätze der nationalökonomischen Gerechtigkeit gegen den Arbeiterstand; und inwiefern trägt es zur Förderung der dem Kapital und der Arbeit gleich schädlichen Produktionskrisen bei?“ 31)

30) Vergl. Aug. Oncken: Geschichte d. Nat. Ökon. S. 398.

31) Z. Beleuchtg. d. soz. Frage II S. 29. Dieser Frage gehen solche voraus, die eine Feststellung der gegenwärtigen Löhne und ihres Verhältnisses zu den Löhnen der letzten 30 bis 40 Jahre fordern.

Ferner erkennt Rodbertus die Steuern als wichtiges Mittel der Sozialpolitik; er fordert möglichste Beschränkung der indirekten Steuern und ihre Abschaffung auf volkstümliche unentbehrliche Lebensmittel, stärkere Besteuerung des Geldkapitals und Einführung einer starken Erbschaftssteuer ähnlich wie in England. Außerdem fordert Rodbertus die Einführung des Normalarbeitstages, zunächst bloß als Zeitarbeitstag, zwar mit Sonderbestimmungen für einzelne Gewerbszweige, aber noch nicht in dem von ihm im „Normalarbeitstag“ entwickelten Sinne, und legt auch der Einsetzung von Fabrikinspektoren und Errichtung von Arbeitsämtern großes Gewicht bei.

Das Programm, das Rodbertus hinterließ, ist gewiß nicht erschöpfend, aber es deutet doch in einem frühen Zeitpunkte schon die Wege an, zu denen der moderne Sozialismus hinzuneigen beginnt, nachdem die lange geglaubten Dogmen der Marxschen Lehre, an ihrer Spitze die Verelendungstheorie, durch die Erfahrung erschüttert worden sind, und der Gedanke aufgegeben werden muß, jene schönere, höhere, gerechtere Gesellschaftsordnung würde sich eines Tages „von selbst“ einstellen.

Ad. Wagner möchte in jenen Forderungen Rodbertus' einen Widerspruch gegen die von ihm gehegte Ansicht vom „ehernen Lohngesetz“ erblicken. Eine gewisse Unausgeglichenheit wird zugestanden werden müssen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß wir von Gesetzen im sozialen Geschehen doch nur mit gewissen Einschränkungen reden können, da die in Betracht kommenden Faktoren sich im Flusse befinden. Der Begriff des „notwendigen Unterhalts“ ist durchaus kein feststehender, er hat bei verschiedenen Völkern, zu verschiedenen Zeiten einen andern Inhalt. Wenn, wie das heute noch vielfach in unsern Kulturländern der Fall ist, die hygienischen Verhältnisse in einer großen Anzahl von Betrieben solche sind, daß sie die Gesundheit des Arbeiters untergraben, wenn in vielen Gegenden die Länge der Arbeitszeit in gleicher Weise wirken muß, und die Entlohnung dem Arbeiter nicht die Mittel gewährt, in normaler Weise für Gesundheit und Genuß sorgen zu können, so eröffnet sich doch ein recht weites Feld für die Korrektur und die Ausbildung des Existenzminimums, Es wäre daher Wahnsinn, die Bestrebungen, die unter den heute herrschenden Verhältnissen dahin gehen, die Lage des Arbeiters zu verbessern, mit dem Hinweis auf das „eherne Lohngesetz“ abzulehnen. Sie helfen vielmehr eine sehr wichtige höhere Kulturstufe erklimmen, indem sie das Bedürfnisniveau des Arbeiters erhöhen und ihn in die Lage versetzen, dem Kapitale mit höhern Forderungen gegenüberzutreten, als das früher gewohnte Existenzminimum es möglich machte. Das heute den Arbeitern gewährte Existenzminimum ist von demjenigen noch weit entfernt, welches wir für Kulturmenschen zu fordern berechtigt sind. Und die Entwickelung strebt ja auch nicht dahin, aus den Arbeitern Kapitalisten zu machen, sondern sie fordert lediglich ein höheres Einkommen für die sich steigernden und sich steigern sollenden materiellen und Kulturbedürfnisse auch des Arbeiters.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rodbertus Stellung zur sozialen Frage