Die radikale Lösung.

Wir sahen, daß Rodbertus die periodischen Erschütterungen, von denen die Gesellschaft heute heimgesucht wird, und die für ihn das Problem der sozialen Frage bilden, auf die eine Tatsache zurückführte, daß bei stetiger Steigerung der Produktivität der Arbeit, der Anteil der Arbeiter am Nationaleinkommen gleichzeitig ein verhältnismäßig immer geringerer wird. Die Wertlehre, die die Arbeit als die Schöpferin aller wirtschaftlichen Werte erkannte, sollte dann diese nationalökonomische Ungerechtigkeit und zugleich auch das Ziel aufweisen, das die Lösung jenes Problems enthielt. Dieses Ziel sollte die Verwirklichung des durch jene Untersuchung aufgefundenen wahren Eigentumsprinzips darstellen, das in dem heutigen, „sich selbst überlassenen“ Verkehr, dadurch daß der Arbeiter gezwungen ist, von den Grund- und Kapitaleigentümern im „Existenzminimum“ den Anteil am Produkt seiner Arbeit zu empfangen, notwendig verletzt wird.

Eine Überwindung dieses Gegensatzes zwischen Besitz und Arbeit muß unmöglich erscheinen, solange die Leitung der Volkswirtschaft ausschließlich dem Grund- und Kapitaleigentum überlassen bleibt.


Rodbertus schreckte daher auch vor der Konsequenz nicht zurück, die die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln forderte.

Es ist jedoch nicht die soziale Revolution, die er zu Hilfe ruft, daß sie die Expropriation bewirken solle, er ist vielmehr der Ansicht, daß diese auf dem Wege der Ablösung und zwar in einer Weise erfolgen könnte, „die auch nicht auf Augenblicke den Verkehr und den Fortschritt des nationalen Reichtums unterbräche.“ 1)

1) S. Rodbertus: Kapital S. 117 Anm.; Kreditnot II, S. 274 f.

Die Ablösung hatte in der Weise zu erfolgen, daß die Rente der Kapital- und Grundeigentümer in ihrem heutigen Realbetrage fixiert und auf das Gesellschaftsbudget übernommen würde.

Diese friedliche Expropriation hätte zur Folge, daß eine Veränderung in den Einkommen zunächst nicht eintreten würde, und die nunmehr von der Gesellschaft geleitete Produktion vorerst, der gleich gebliebenen Nachfrage entsprechend, den bisherigen Verlauf einhalten könnte.

Da durch die einheitliche Leitung der Produktion der Steigerung der Produktivität kaum mehr eine Grenze gesetzt sein würde, so würde jene Ablösungssumme einen immer kleineren und endlich verschwindenden Teil des Nationaleinkommens ausmachen.

Die Entschädigung könnte, da das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben wäre, natürlich nur in Genussmittelraten geschehen; ob sie transitorisch oder eine ewige Rente sein sollte, darüber hat sich Rodbertus nicht ausgesprochen.

Überhaupt hat Rodbertus diesen Gedanken der „radikalsten Hilfe für die Gesellschaft“, den er nationalökonomisch für sehr wohl ausführbar hielt, doch nicht weiter verfolgt. Er sah ein, daß die herrschenden Überzeugungen und Interessen, die intellektuellen und sittlichen Zustände sowohl der besitzenden wie der arbeitenden Klassen einen radikalen Übergang vom heutigen Zustand zu einer völlig neuen Ordnung zur Unmöglichkeit machen. Die neue Ordnung, die Rodbertus in der Zukunft schaut, sieht einen Zustand vor, in dem das Individuum sich „frei und selbst“ in solchem Maße zur Arbeit vorausbestimmt, daß es, seinem eigenen Vorteil dienend, damit zugleich auch dem der Gesellschaft dient. Aber noch ist eine „Erziehung des Menschengeschlechts“ 2) für jenen idealen Zustand erforderlich, und diese kann sich nur in Kompromissen mit der bisherigen Ordnung vollenden. So sehr sein tiefer Blick die Schäden der heutigen Ordnung in ihrer Wurzel erfaßt, so hat er doch den Mut, sich zu der Devise: „Immer langsam voran“ zu bekennen. Die Geschichte ist von jeher in Kompromissen fortgeschritten; so kann auch die heutige Nationalökonomie nur ein Kompromiss zwischen der Arbeit und der noch tief eingewurzelten Institution des Grund- und Kapitaleigentums als nächste Aufgabe zu erfüllen haben. 3)

2) Vergl. R.'s „Kapital“ S. 227.

3) Ebenda S. 228.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rodbertus Stellung zur sozialen Frage