Die Schwierigkeiten des „Normalarbeitstages“.

Wie diese Gedanken ihre Verwirklichung finden sollten, darüber ist Rodbertus selbst wohl nicht zu genügender Klarheit gelangt. Die Wege, die er zur praktischen Durchführung des Normalarbeitstages angibt, werden von ihm, wenn auch in sehr häufigen Wiederholungen, eben doch nur angedeutet; auch dies nicht einmal immer ohne Widersprüche. Wenn es heißt, der Staat hätte zum Zwecke der Durchführung des Lohnsystems ein Lohngeld auszugeben, in dem er den Arbeitgebern nach Maßgabe der Arbeit, die sie in ihrem Unternehmen beschäftigen, billige Darlehen gewährt, welche in nach Normalarbeit bemessenem Produktwert zurückzuzählen ist, zu welchem Zweck staatliche Magazine angelegt werden sollen, welche wieder die durch die Arbeitgeber an die Arbeiter gezahlten Lohnzettel gegen Produkte nach konstituiertem Wert anzunehmen hätten, so haben solche Forderungen Bedingungen zur Voraussetzung, die sie erst herbeifuhren sollen; sie nehmen die Möglichkeit an, daß schon heute Güterwerte nach ihrer „Kostenarbeit“, nach „Normalarbeit“ konstituiert werden könnten“. Er verwahrt sich zwar dagegen, er könnte meinen, „es ginge überhaupt mit den Mitteln des heutigen geldwirtschaftlichen Verkehrs,“ aber er gesteht gleichzeitig zu: „Wie das gemacht wird, habe ich eben noch nicht gesagt“. 23)

23) a. a. O, S. 250.


Rodbertus hatte die Genugtuung, daß ein Praktiker, der. Architekt H. Peters, angeregt durch die im Normalarbeitstag aufgestellten Prinzipien, es unternahm, auf Grundlage derselben: zunächst für gewisse Arbeiten Akkordtarife auszuarbeiten. Rodbertus erklärte dies in seiner oft etwas überschwänglicher Weise als die „Vorarbeit zur Lösung der sozialen ' Frage „. Dabei zeigte sich jedoch, daß der von Rodbertus gedachte Weg nicht eingehalten werden konnte. Es stellten sich Schwierigkeiten heraus, die in einem kurzen Briefwechsel (April und Mai 1873) zwischen Rodbertus und Peters zur. Erörterung kämen, ohne daß sie jedoch gelöst zu werden, vermochten. Man gelangte nicht einmal über die Tragweite der Schwierigkeiten zu gegenseitig verständlicher Klarheit. Mit dem dritten Briefe Peters' an Rodbertus bricht die Korrespondenz ab. Ad. Wagner, der diese Briefe in der Tübinger Zeitschrift B. 34 mitteilt, gibt als Grund die eingetretene Erkrankung Rodbertus' an. Rodbertus hat jedoch von dieser Zeit ab, trotz seines kranken Zustandes, noch einen recht lebhaften Briefwechsel geführt, und es ist zu verwundern, daß er gerade auf die Erörterung seines Lieblingsgedankens verzichtete. Man wird annehmen dürfen, daß Rodbertus von dem Bilde, das sein Normalarbeitstag in der Praxis erhielt, enttäuscht war. Hier zeigte es sich wieder einmal, daß zwar die Gedanken friedlich beieinander wohnen können, die Sachen aber sich hart im Räume stoßen.

Peters hat in seiner 1884 erschienenen Schrift 24) das Resultat seiner Arbeiten zusammengefasst, das, wenn verwirklicht, gegen die heute herrschenden Lohn Verhältnisse möglicherweise ein Fortschritt, aber doch nicht von jener Tragweite sein würde, die Rodbertus seinem Normalarbeitstage beimaß.

24) Ein Beitrag z. Lohnreform unter Zugrundelegung der soz.ökon. Ansichten von Rodbertus-Jagetzow, Tübingen 1884.

Zunächst mußte es Peters aufgeben, das „normale Arbeitswerk“, d. h. das an einem normalen Zeitarbeitstage von einem mittleren Arbeiter hergestellte Werk aufzufinden. Für einen großen Teil von Gegenständen der Arbeit ist dieser deshalb nicht zu bestimmen, weil die auf den normalen Zeitarbeitstag fallende Teilgröße des Gegenstandes sich nicht mechanisch messen läßt. Außerdem gibt es noch sehr viele „ihrer eigentümlichen Form wegen konkret immensurable Produkte“, für die der Arbeitsaufwand sich nur in abstrakten Quotienten, aber nicht in wirklichen Teilen des Produkts ausdrücken läßt. Es gibt eine ganze Reihe (auch materieller) Arbeiten, die gar nicht in einem sichtbaren Produkt in Erscheinung treten. Hatte man aber das „normale Arbeitswerk“ nicht, so scheiterte auch der Begriff der „ Werkzeit“ und man erhielt nicht mehr die „Normalarbeit“, die als Wertmaß der Produkte und als Einkommensmaß der anteilberechtigten Klassen dienen sollte.

Infolge jener Schwierigkeiten ergibt sich, daß die Normierung der verschiedenen Arbeiten nur nach Zeitkosten vorgenommen werden kann, also zunächst ohne Berücksichtigung der verschiedenen Intensität der verschiedenen Arbeiten. Um diese nachträglich zum Ausdruck zu bringen, wurde gerade das Metallgeld, das Rodbertus mit Hilfe des Normalarbeitstages in Zukunft durch „Arbeitsgeld“ ersetzen wollte, unentbehrlich, durch das Metallgeld erst konnte Peters der Verschiedenheit der Intensität der Arbeit dadurch Rechnung tragen, daß er den Lohnsatz in Bezug auf eine Stunde je nach dem Grade der Intensität in den verschiedenen Gewerken resp. auf 25, 30, 35, 45, 50 usw. Pfennige festzusetzen für nötig hielt. 25) Wenn diese Sätze durch den Staat gesetzlich festgelegt würden, so würde zwar dadurch erreicht, daß die gesteigerte individuelle Produktivkraft des Arbeiters nicht wie das heutige Akkordlohnsystem zu einer neuen Quelle der Ausbeutung der Arbeiter wird, aber die wichtigste Folge, die die Rodbertussche Theorie beabsichtigt, bliebe unerfüllt. Der Lohn wäre nicht, wie Rodbertus wollte, als Quote des Produkts festgehalten und könnte demgemäss auch nicht der gestiegenen nationalen Produktivität entsprechend mitsteigen. Wenn schon nicht ersichtlich ist, wie der Normalarbeitstag, auch wenn dessen Durchführung in der Rodbertusschen Fassung im Bereiche der Möglichkeit läge, jene neue Staatenordnung herbeiführen soll, in dem es nur Verdiensteigentum geben, und das Grund- und Kapitaleigentum aufgehoben sein soll, da doch mit steigender Produktivität auch die Quote des Grund- und Kapitaleigentums mitsteigen würde; so bleibt auf jeden Fall in der Fassung, die die Praxis dem Normalarbeitstag zu geben vermochte, das „Gesetz der fallenden Lohnquote“, also nach Rodbertus der ganze Inhalt der sozialen Frage, nach wie vor bestehen. Aber auch schon nach der reinen Theorie Rodbertus' ist es ziemlich rätselhaft geblieben, in welcher Weise — die Richtigkeit der Arbeitstheorie sogar vorausgesetzt — er sich die Durchführung des Normalarbeitstages im herrschenden Zustand des Privatbetriebs dachte, da ja, was er einsah, die Quote nicht vom Produkt des Einzelbetriebs, sondern von dem ganzen Nationalprodukt berechnet werden mußte, wodurch sich auch sein Normalarbeitstag wesentlich von der Thünenschen Formel ? ap unterschied. Rodbertus hat trotz mehrfacher Aufforderungen seitens Lassalles und anderer den „mystischen Schleier“ seiner Lohntheorie nicht gehoben.

25) a. a. O. S. 49 f.

So ist Rodbertus auch zu einem bis ins Einzelne durchgebildeten Programm für die Gegenwart nicht gekommen. Die Erörterung des Normalarbeitstages hat uns gezeigt, daß zwar dessen Durchführung Rodbertus die Lösung der sozialen Frage bedeutete, daß er aber dessen Schwierigkeiten nicht vollends übersah, daß er also zunächst eine Reihe von erst durchzuführenden Maßnahmen, um jenen zu ermöglichen, für notwendig hielt. An eine sofortige Einführung seines Normalarbeitstages hat er weder geglaubt, noch hat er sie verlangt. „Oft verfehlt etwas seine ganze Wirkung, weil es zu früh kommt“, äußert er sich einmal einem Freunde gegenüber.

Die Einsicht in die Unbrauchbarkeit des Normalarbeitstages in der ihm von unserem Denker gegebenen Form ist noch kein Todesurteil für die wissenschaftliche Bedeutung Rodbertus', wie es Engels in seiner Vorrede zu Marx' „Elend der Philosophie“ ihm zu sprechen unternimmt. Die soziale Frage macht gar nicht Anspruch darauf, im Handumdrehen gelöst zu werden. Noch wird die Entwicklung manche Strecke zurücklegen, und die besten Geister werden sich noch abmühen müssen, um in fortwährendem Ringen allmählich der heutigen sozialen Sphinx beizukommen. Die Forderung aber gestellt zu haben, ist vor allem das große Verdienst Rodbertus'. Damit eben steht er über dem materialistischen Sozialismus, daß er gegen jenen Fatalismus sich wendet, dem zufolge wir im sozialen Geschehen nur Tatsachen zu konstatieren, uns aber im übrigen ihnen zu fügen, Naturgesetzen gleich uns ihnen zu unterwerfen, und jenem „Zusammenbruch“ entgegenzusehen hätten, der uns, nachdem erst das soziale Leben auf seiner tiefsten Stufe angelangt sein würde, die neue, gerechtere Ordnung verwirklichen soll. Im sozialen Geschehen ist Rodbertus nicht allein das Sein das Entscheidende, sondern auch das daraus abgeleitete Seinsollen das die Zukunft bestimmende.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rodbertus Stellung zur sozialen Frage