Das Sozialprinzip und das Individualprinzip in der sozialen Frage.

Der leitende Gesichtspunkt Rodbertus' bleibt aber immer, daß der Staat die „soziale Providenz“ sei, derjenige, der von bestimmten Ideen getragen, die Lösung der sozialen Frage in Angriff nehmen und zur Durchführung bringen solle. 32) Das scheidet ihn deutlich von denjenigen, die, wie er sich ausdrückt, mit „Kamillentee“ und „weißen Pflästerchen“ die soziale Frage glauben lösen zu können (damit sind die Kathedersozialisten gemeint), in gleicher Weise auch von denjenigen, die alles sich selbst überlassen, wie auch von denen, die heute schon den „halsbrecherischen Sprung“ in die neue, sich erst vorbereitende Staatsordnung tun wollen.

32) R. hing dem bestehenden Staate im engern Sinne durchaus nicht mit konservativer Gläubigkeit an, wie das angenommen wird. „Ich meine natürlich den Staat, wie er sein soll, nicht diesen oder jenen Lumpenstaat“, schreibt er im August 1872. Er erkannte einen Gegensatz zwischen dem heutigen Staat (i. e. S.) und der Gesellschaft und hielt nicht mit der Meinung zurück: „Also immerhin vorwärts in den kranken Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft . . . und fort mit Schaden“. Ihm blieb auch „die Frage offen, ob die Monarchie früher sozialistisch vorgehen wird, ehe es die Republik ihr vorgemacht hat“, wenn er auch glaubt, „es erkannt zu haben, daß in künftigen sozialen Gestaltungen Monarchie und Sozialismus zusammengehören.“ „. . . Die heute aus geheimnisvoller Tiefe oder Höhe die soziale Frage lenken, haben alles Vertrauen bei mir verloren und ich glaube einstweilen nicht, daß es zu jenem Zusammengehen (zwischen Monarchie und Sozialismus) kommt“, äußert er sich Ende 1872. (Vergl. Br. u. soz.-pol. Aufsätze S. 236, 309 f, 311 u. 265.)


Ist nun für unsern Denker der Staat (i. w. S.) der absolute Lenker der Geschicke der Menschen und die Individuen nichts als dienende Glieder, bloß Mittel, oder ist es vielmehr eine Synthese zwischen dem Sozialprinzip und dem Individualprinzip, welche Rodbertus fordert bzw. welche er in der Entwickelung sich durchsetzen sieht? Hat auch das Individuum unveräußerliche Rechte, oder gibt es solche nur für die Gattung?

Schon ein oberflächlicher Blick auf die Stellung sowohl wie auf die Beantwortung der sozialen Frage durch den Jagetzower Denker zeigt mit vieler Deutlichkeit, welche Bedeutung Rodbertus dem Individuum beimisst, zeigt, daß er ihm sowohl als Forderndem wie als Berechtigtem eine, wenn auch nicht entscheidende, so doch sehr wichtige Stellung einräumt; und der Versuch, Rodbertus als extremen Vertreter des Sozialprinzips erscheinen zu lassen, müsste von vornherein als verfehlt betrachtet werden, wenn nicht sehr deutliche Äußerungen auch für diese Meinung sprächen.

Diesen aber eine so entscheidende Stellung für die Beurteilung unseres Autors einzuräumen und ihn danach, wie dies Dietzel tut, als extremen Antiindividualisten hinzustellen, würde wiederum von einer nicht genügenden Beachtung alles dessen, was Rodbertus sonst geschrieben und gesprochen, zeugen. Solche Übertreibungen, die darauf hinausgehen, einen Autor in einem Extrem festzunageln und alle Aussprüche desselben, die diesem extrem gefassten Standpunkt widerstreiten, als zufällige Widersprüche beiseite zu lassen, sind durch das mehr oder weniger bewusste Bestreben hervorgerufen, entweder für einen Standpunkt, den man selbst vertritt, die Bestätigung zu finden, oder aber um durch die Darstellung eines Extrems um so wirkungsvoller in der Kritik vorgehen zu können. 33) Auf solche Weise geschieht es, daß sowohl das Eine aus der Lehre eines Theoretikers herausgelesen und mit Zitaten belegt, wie auch das Entgegengesetzte nicht minder beweiskräftig dargelegt wird. Es heißt den unvermeidlichen Konflikt in dem geistigen Leben und Wirken eines Gelehrten gänzlich übersehen, wenn man nur das Eine von ihm Ausgesprochene als seine eigentliche Ansicht hinstellt, aber Anderes, jenem Widersprechendes als für die Lehre unwesentlich streichen zu können glaubt. Eine erschöpfende Darstellung hat aber gerade die Aufgabe, das Mannigfaltige der geistigen Erlebnisse des Darzustellenden zu erfassen, das Widersprechende nicht als Widerspruch, sondern als Ergänzung zu jener erst gefundenen Auffassung anzusehen. Und nur eine Synthese des Einen und des Andern wird uns die wirkliche Ansicht (oder sagen wir den wirklichen Konflikt) des Dargestellten wiedergeben.

33) Darauf beruht z. B. auch die Ad. Smith-Kritik durch die „histor. Schule“. Vergl. Aug. Oncken: „Das Ad. Smith Problem“ (Zeitschr. f. Soz. W. 1898), das jene einseitige Behandlung beleuchtet, und überzeugend zurückweist.

Wenn das Sozialprinzip fordert, daß die Individuen ausschließlich „dienende Organe des Sozialkörpers u seien, wie es „die Gliedmaßen im Leben des physischen Körpers“ sind, und das Individualprinzip dagegen ausschließlich das Individuum als obersten Zweck gelten lassen will, so hat, in dieser Schroffheit einander gegenübergestellt, Rodbertus weder dem einen noch dem zweiten Prinzip gehuldigt; weder war ihm das Individuum oberster Zweck, noch war er Sozialist in jenem das Individuum gänzlich negierenden Sinne.

Dem Staate in der Bedeutung des Zentralpunktes einer obersten, ordnenden Lebenstätigkeit steht die Gesellschaft gegenüber, die der „personifizierte Inbegriff der peripherischen Lebenstätigkeiten ist, die von unten, von den individualen Vielheiten aus . . . sich äußern.“ 34)

34) Z. Bei. d. soz. Fr. II a. d. lit. Nachl. III S. 6.

Den Staat faßt Rodbertus als einen Organismus auf, jedoch nicht in dem Sinne eines physischen, sondern in dem wesentlich davon unterschiedenen eines sozialen Organismus. Die Vergleichung der Verbindung von Menschen miteinander zu einer Gesellschaft mit dem Zellengewebe des tierischen Organismus bildet bei ihm ein Hilfsmittel des Denkens, aber er läßt sich nicht davon verführen, sie einander gleichzusetzen. Die Analogie hier wie überhaupt ist ihm „die Erkenntnis des Ähnlichen im Unähnlichen“. Bei der Vergleichung des sozialen mit einem natürlichen Organismus, so sägt er, bleibt so viel des Unähnlichen übrig, daß die Freiheit des individualen Menschen nicht in Gefahr kommt, verlören zu gehen. Nicht die Schöpfung hat jenen sozialen Organismus hervorgebracht, er ist vielmehr ein Werk der Geschichte. Seine Atome sind nicht tote physikalische Einheiten, sondern „lebendige Individuen, selbstbewusste Menschenseelen“. 35)

35) Vergl. Briefe u. soz.-pol. Aufsätze S. 518.

Das bedeutet aber, daß die den Staat bildenden Atome; wenn man bei dieser Bezeichnung bleiben will, nicht, wie jene in der Natur, gebunden, daß sie vielmehr innerhalb der menschlichen Gesellschaft frei sind und frei sein müssen. Das Individuum ist hier niemals bloß Mittel, sondern jederzeit zugleich Zweck; Recht und Pflicht des Individuums stehen gleichberechtigt einander gegenüber.

„Der Staat ist ein Werk der Geschichte“ sein Inhalt ist also nicht von vorneherein gegeben, für dessen Verwirklichung die Individuen nur unbefragte Mittel darstellen sollen. Die Ideen (also auch die des Staates), das erkennt auch Rodbertus, sind keine „Urbilder“, „sondern vielmehr Vorbilder, die sich erst aus den positiven Verhältnissen loslösen, um diese sich nachzubilden“. 36) Die Individuen einerseits und das soziale Gänze andererseits schaffen den Inhalt des Staates und sollen ihn in ferner Zukunft vollenden, „denn von individueller Basis geht ja die ganze Entwickelung aus“. 37)

36) Rodbertus: Z. Geschichte d. röm. Tributsteuern seit Augustus, Hildebrands Jahrbuch. VIII S. 441.

37) Briefe v. Rodbertus an Ad. Wagner, abgedruckt i. d. Tüb. Ztschr. Bd. 34 S. 223.

Die Individuen sind die vorwärtsdrängenden, fördernden, morsch gewordene Zustände oft mit wilder Gewalt hinwegfegenden Elemente der Entwickelung; der Staat soll das aufbauende, versöhnende Element bilden, er steht jenen somit nicht nur als Gebietender, sondern auch als Befragender gegenüber. Das Recht in seiner objektiven, gebietenden Natur ist an den Staat, in seiner fordernden, subjektiven Natur an das Individuum gebunden. Nur dadurch, daß sich beide gleichsam als zwei entgegengesetzte Pole gegenüberstehen, ist ein allseitiges Maßhalten und ein allseitiger Fortschritt gesichert. 38)

38) Rodbertus: Z. Gesch. d. röm. Trib.-St. a. a. O. S. 438.

„Die tiefen Wurzeln auch seiner (Rodbertus`) Lehre liegen im antiken Staatsbegriff“, meint Dietzel. In Wahrheit stellt sich Rodbertus geradezu in Gegensatz zu demselben, indem er daran aussetzt, daß das antike Recht nur erst den einseitigen, gebietenden, von der Staatsgewalt ausgehenden Charakter hätte, und wir die fordernde, subjektive, sich an das Individuum knüpfende Natur des Rechts in demselben vergebens suchen. Das antike Recht, sagt er, kennt nur Rechtsgebote, „aber nicht entfernt an die modernen „Menschenrechte“ erinnernde Forderungen“, das Individuum läßt es noch rechtlos, 39) „Weil noch im sozialen Rechtsbewusstsein das Gefühl eines subjektiven Rechts dem Staate gegenüber fehlte, stand auch gleichsam der einen Kraft noch keine entgegengesetzte gegenüber, und fehlte also auch auf dem Rechtsgebiet noch ein Gleichgewicht der Kräfte.“ 40)

39) Ebenda S. 441.

40) Ebenda S. 442.

Erst der christlich-germanische Staat bildete jenen anderen Pol des Rechts, „seine fordernde, subjektive, an das Individuum geknüpfte Natur“ aus und brachte das Gefühl des eigenen Rechts dem Individuum „unauslöschlich“ zu Bewußtsein. Rodbertus erklärt dies mit dem individualistischen Selbstgefühl, „das Erdbeschaffenheit und Klima bei den Okzidentalen überhaupt stärker ausprägen, als bei den Orientalen“. Erst dieses an das Individuum sich knüpfende Recht hat im Laufe der Entwickelung jene Schranken (gegen eine Omnipotenz des Staates) und Impulse gebildet, „durchweiche allein unsere Unverletzlichkeit der Person und des Eigentums, kurz der ganze grundrechtliche Inhalt des heutigen Rechts mit allen seinen wichtigen Konsequenzen ins Leben geführt ward“. 41)

41) Ebenda S. 443.

Es kommt uns hier nicht darauf an, zu untersuchen, inwieweit die von Rodbertus gemachte, uns etwas willkürlich erscheinende Unterscheidung des Charakteristischen in der heidnisch -antiken und in der christlich -germanischen Staatenordnung der Wirklichkeit entspricht.

Das Bedürfnis, solchermaßen die heidnisch-antike Welt durch das Vorherrschen der einen Seite des Rechts, die das Individuum nicht kennt, die christlich-germanische durch das Vorherrschen der anderen, die Entwicklung weiter vervollkommnenden Seite des Rechts, welche an das Individuum anknüpft, zu charakterisieren, hängt bei Rodbertus mit der Auffassung der ununterbrochenen Kontinuität einer aufsteigenden Entwickelung im Nacheinander der Völker zusammen; wenn auch ihm, wie allen Vertretern dieses Standpunktes, die Unterbringung der Völkerwanderungsperiode einige Schwierigkeiten bereitet. Verzichtet man aber auf diesen verführerisch schönen Gedanken eines ununterbrochenen Aufstiegs nach oben, und erkennt man, daß vielmehr im Laufe der Geschichte der Entwickelung auch zeitweise ein Halt! zugerufen wurde, und junge Völker von altern Völkern bereits durchlebte Phasen von neuem durchzumachen hatten, so wird man nicht mehr versucht sein, die eine der großen Epochen ausschließlich durch das eine, die andere durch das zweite Prinzip charakterisieren zu wollen. Vielmehr haben, dem sonstigen „Parallelismus“ der antiken und der germanischromanischen Epoche der Geschichte entsprechend, 42) da und dort, neben- und nacheinander jene beiden Prinzipien, wenn auch nicht immer in gleicher Weise wirksam, sich geltend gemacht. Auch schon im Altertum sehen wir sowohl in der Wissenschaft wie in der Politik beide Prinzipien um die Herrschaft ringen. Dem Antiindividualismus Platos und dem mehr synthetischen Standpunkte der Stoiker steht der Individualismus der Sophisten und der Epikuräer gegenüber. Im politischen Leben ringen das antiindividualische aristokratische Prinzip mit dem entgegengesetzten demokratischen miteinander. Jedenfalls läßt auch die Vielheit der kleinen Staaten ein starkes Sichgeltendmachen des Individualprinzips erkennen. Auch das Mittelalter läßt sich nicht durch das Vorherrschen Eines Prinzips charakterisieren; erst ist es das Christentum, welches die Gleichheit aller Individuen proklamiert, dann wieder ist es die Kirche, die die Individuen mit ehernem Ringe umspannt hält, selbst und allein Zweck sein will. Der Kampf gegen die Kirche im Zeitalter der Renaissance und der Reformation wird geführt im Namen des Individuums, endet aber im absolutistischen Staat. Als dieser seine Zügel allzu straff spannt, erhebt sich das bis dahin gefesselte Individuum und ringt um den Sieg in der großen Revolution. Die Menschenrechte werden proklamiert. Gegen den übertriebenen Individualismus beginnt heute das Sozialprinzip sich immer stärker geltend zu machen, im Bestreben, die notwendige Synthese zwischen beiden herzustellen.

42) Vergl. Aug. Oncken: Geschichte d. Nat.-Ökon. S. 15 ff.

Trotz jener allzu generalisierenden Charakteristik der „heidnisch antiken“ Epoche einer- und der „christlichgermanischen“ andererseits, zieht aber Rodbertus doch das richtige Fazit, daß beide Prinzipien berechtigte und notwendige Faktoren der Entwickelung sind. Die Geschichte, sagt er, bedurfte zu ihrer Vollendung unumgänglich der Impulse der subjektiven, fordernden Natur des Rechts, der Impulse des Individualismus; denn „die Hauptakte der Entwickelung wurden durch Revolutionen ausgeführt, und zwar durch Revolutionen von unten, in denen sich gerade die fordernde Natur des Rechts auf das Ungestümste ausspricht . . . „ 43)

43) Rodbertus: Zur Geschichte d. röm. Tributsteuer seit Augustus a. a. O. S. 443.

Auch in der heutigen sozialen Frage, die eine neue Staatenordnung herbeizuführen berufen ist, gibt sich jenes subjektive, fordernde Moment der Entwicklung kund. „Was fordern die arbeitenden Klassen?“ ist der Ruf, der die Gegenwart beherrscht, und der den Weg zu einer neuen sozialen Ordnung bestimmt. „Die arbeitenden Klassen“, heißt es, „haben von den Wohltaten der heutigen Gesellschaft die persönliche Freiheit und eine gleiche formelle Gerechtigkeit, wie alle übrigen; weiter nichts! . . . Die persönliche Freiheit ist allerdings ein Gut, aber zunächst nur ein negatives, nur das Glück, nicht von der Willkür eines Individuums abzuhängen. Sie ist der unumgängliche Anfang, die Basis von allem, was eines Menschen würdig ist, aber an sich nur eine leere Sphäre, die sich nach ihrem Inhalt sehnt. ... In der Tat, die persönliche Freiheit ist die Anweisung auf alle Tugenden, welche die Moral schmücken, und alle Schätze, welche die Natur und der Geist birgt. Aber sie ist damit auch eine Berechtigung dazu.“ „Ihr habt uns bisher“, so sprechen die arbeitenden Klassen, „mit der persönlichen Freiheit nur die Sorgen derselben geschenkt, laßt uns jetzt auch an ihren Freuden teilnehmen!“ „Und in diesen Gefühlen“, heißt es weiter, „ist insoweit kein Verbrechen, sondern Würde. Und die Würde eben des Freien“. 44)

44) Vergl. Die Forderungen d. arb. Klassen a. d. lit. Nachlaß III S. 198 f.

In diesem Sinne sahen wir bereits oben 45) das Problem von Rodbertus aufgegeben. Diese Sprache, deren Grundton ist, daß in dem heutigen gesellschaftlichen Leben „alle gleich berechtigt und doch so wenig gleich beteiligt sind“ 46) ist weit von jenem Antiindividualismus entfernt, den Dietzel seinem Rodbertus zu vindizieren sich bestrebt 47), sie ist weit davon entfernt, den Individuen dem Staate gegenüber alle „selbstständigen Rechte“ abzusprechen und sie zu „bloßen Mitteln seiner Herrlichkeit“ herabdrücken zu wollen. Dietzel gibt auch zu, daß der Aufsatz von 1837, dem jene oben zitierten Äußerungen entnommen sind, „dem individualistischen Gedankenkreise“ angehören, aber, so meint er, jene Auslegung des Freiheitsbegriffs widerspricht der Grundanschauung Rodbertus' und er hat sie später aufgegeben. 48) Dies entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit. Jene aus dem Jahre 1867 stammenden, weiter oben zitierten Stellen haben dies zur Genüge dargetan. Aber wir hören auch Rodbertus selbst in späterer Zeit über seinen Aufsatz von 1837, den er damals einige 30 Jahre nicht gesehen hatte und nun wieder las, sich äußern und uneingeschränkt alles darin Gesagte von neuem bestätigen. „Sie sehen“, schreibt er an Rud. Meyer am 8. Februar 1872, „ich habe keinen einzigen Gedanken darin zu desavouieren“. „Sie finden in diesem Aufsatz dieselben Gedanken, ja dieselben Wendungen und Ausdrücke, wie in meinem Normalarbeitstag, überhaupt das ganze System darin wieder . . . .“ „Genug, als ich den Aufsatz, dessen genauer Inhalt mir natürlich entgangen war, wieder las, kam ich mir wie ein Doppelgänger vor, der sich selber sieht“. 49)

45) Kap. I.

46) Die Ford. d. arb. Kl. S. 199.

47) H. Dietzel: Karl Rodbertus: Sein Leben u. s. Lehre II S.238.

48) Ebenda I S. 6. Merkwürdigerweise behauptet Dietzel an anderer Stelle: „Im Zentrum des Artikels von 1837 steht die antike Staatsidee“. (II 237.)

49) Briefe u. soz. pol. Aufsätze S. 168 f.

Wie nun Rodbertus die gesamte Entwicklung und ebenso die heutige soziale Frage unter dem doppelten Gesichtspunkt des immer mitwirkenden, gebietenden oder gewährenden Moments von oben (des Staats) und des fordernden subjektiven Moments von unten (des Individuums) betrachtete, so müssen auch konsequent seine Gedanken einer Lösung des modernen sozialen Problems nicht in einer Besiegung des einen durch den andern, sondern in einer möglichsten Versöhnung beider Gegenpole gipfeln.

So stellt auch seine Arbeitstheorie, wie sein darauf ußender mehr an die bestehenden Verhältnisse anknüpfen wollender Normalarbeitstag eine solche Synthese dar, indem sie einerseits eine sämtliche Glieder der Gesellschaft umfassende neue Organisation der „Staats Wirtschaft“ fordern, andererseits mit möglichster Genauigkeit an die besonderen Fähigkeiten und Ansprüche des Individuums 50) anzuknüpfen bestrebt sind und die Garantie gewähren wollen, „daß jedem nur die Frucht eigener Arbeit zukommt“. Beide gipfeln darin, daß sie einen Zustand, in dem das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufgehoben ist, sei es voraussetzen, sei es anbahnen wollen. Eigentümlicherweise vertritt auch Dietzel einmal 51) die Ansicht, daß die Forderung der Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln zumeist auf individualistischer Grundlage beruht, weil angenommen wird, daß durch solche Aufhebung erst die völlige Entfaltung des Individuums möglich würde. So will auch Rodbertus jene Forderung aufgefasst wissen, denn er sagt: „Das Wort Stirners: ,Ich muß soviel haben, als ich mir anzueignen vermögend bin ' „, würde gerade in diesem Zustande (des aufgehobenen Privateigentums an den Produktionsmitteln) verwirklicht werden“. 52)

50) Vergl. auch „Kapital“ S. 143.

51) S. Art. Individualismus i. Hdw. d. Staats w.

52) S. Rodbertus' Kapital S. 136; vergl. auch S. 115.

Die Ungleichheit der Fähigkeiten und Leistungen sollen in dem ungleichen Lohn ihren Ausdruck finden, und jeder soll soviel arbeiten, als ihm zu arbeiten beliebt. Den Satz St. Simons: „Jedem nach seiner Fähigkeit und jeder Fähigkeit nach ihren Werken“ akzeptiert auch Rodbertus. Es ist der gleiche Satz, gegen den sich Proudhon in „Qu'est ce que la propriété“ mit soviel Emphase wendet, den er „falsch, absurd und freiheitsgefährlich“ nennt. Den weitherzigen Individualismus Proudhons, der weder die Ungleichheit der Arbeiter noch die der Arbeiten als Grund der Ungleichheit der Löhne anerkennen will, teilt Rodbertus allerdings nicht. Proudhon ist die Ungleichheit de Fähigkeiten gerade unerlässliche Bedingung der Gleichheit der Ansprüche. Es ist aber durchaus unwahr, solange wir unserer Art zu denken, zu unterscheiden und zu werten nicht Gewalt antun, daß jede gesellschaftliche Tätigkeit an Wert der andern gleich ist. Auch ohne jedes Vorurteil stellen wir eine Stufenreihe der Tätigkeiten auf, und es ist geradezu unerlässliche Bedingung des Fortschreitens der Menschheit, daß den Leistungen der Tätigkeiten höherer Stufe auch höhere Ansprüche entsprechen sollen.

So wird Rodbertus dem Individuum gerechter, indem er erstens nur die rein materiellen Arbeiten unter seinen Arbeitsbegriff subsummiert und hier zwar jede Arbeit der andern gleich sein läßt, aber doch den geschickteren und fleißigen Arbeiter nach seinen Mehrleistungen berücksichtigt, und indem er zweitens die ganze mannigfaltige Reihe aller übrigen, gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten nicht in jenen Arbeitsbegriff einbezieht, weil hier eine gleiche Wertschätzung das Ende alles Individuellen zur Voraussetzung haben müsste. Der Individualismus, den Proudhon vertritt, widerspricht also allerdings der Grundauffassung Rodbertus', weil jener zwar das Glück aller Einzelnen im Auge hat, dafür aber das Individuum ebenso sehr wie das Interesse des sozialen Ganzen aus dem Auge verliert. 53)

53) Rodbertus neigte sogar auch zu dieser Richtung des Individualismus, die die „Rechtsdoktrin“ genannt wird, hin, ohne aber deren Übertreibungen zu akzeptieren; gelegentlich erklärt er, daß Fichtes „geschlossener Handeisstaat“ auf dem kommunistischen Grundsatz, den er akzeptiert, beruht, daß, „da der Eine nicht weniger Mensch ist, als der Andere,“ alle Menschen zur Gleichheit der Genüsse berufen sind. (S. „Kapital“ S. 223 Anm.) — In diesem Sinne sagt auch J. Zeller (Z. Erkenntnis uns. staatsw. Zustände, Berlin 1885, S. 43): „Kommunistisches, staatlich organisiertes Zusammenwirken der Gesellschaft zur Erhaltung und Förderung der Wohlfahrt aller ihrer Angehörigen nach Maßgabe wirtschaftlicher Gerechtigkeit ist Prinzip und Zweck der Rodbertus'schen Soziallehre.“ Hier ist allerdings das Wohlergehen der einzelnen Individuen zu einseitig betont und drückt den Rodbertus'schen Standpunkt nur unvollkommen aus. Bei Rodbertus ist das Schwergewicht nicht bloß auf das gegenwärtige Wohlergehen der Individuen gelegt. Diese sollen vielmehr auch Mittel sein zur Verwirklichung der großen Ziele der Geschichte, wenn auch niemals bloß Mittel. — Weininger bemerkt einmal in seinem sonst so verschrobenen Buche (S. 416) sehr treffend: „Den Kommunismus als Tendenz zur Gemeinschaft sollte man stets unterscheiden vom Sozialismus als Bestrebung zur gesellschaftlichen Kooperation und zur Anerkennung der Menschheit in jedem Gliede derselben.“

Das Individuum soll weder in der Summe der Individuen ausgeglichen, aufgehoben, ausgelöscht, noch soll es von einem über allen Individuen thronenden Gesamtwillen ignoriert werden. Hören wir, was Rodbertus von der heute sich bereits in ihren Anfängen regenden höhern Staatenordnung der Zukunft erwartet und fordert: Die Pflicht des passiven Gehorsams des Einzelnen soll nicht weiter gehen, „als der durch die individuellen Willen gebildete Volkswille“54) verlangt. Also nicht ein vor der Gesamtheit der Individuen existierender allmächtiger Wille, dem letztere nur Mittel sein sollen, sondern jene selbst entscheidet über die Grenzen der Freiheit der Einzelnen. „Leben, Talent und Fähigkeiten bleiben das Eigentum von jedermann.“ Jener Zustand soll weder „die Ausbeutung des Schwachen durch den Starken, noch des Starken durch den Schwachen, sondern nur die alleinige freie Ausbeutung seiner selbst“ ermöglichen. Er soll „nicht auf Unterdrückung und Knechtschaft beruhen, sondern auf freier Pflichterfüllung, freier Erfüllung derjenigen Pflichten, auf deren Erfüllung ein freier Staat überhaupt beruht“. „Der Einzelne wird nur soweit verhindert, was, wann und wie er will zu arbeiten, als natürliche Umstände dies Belieben überhaupt beschränken.“ 55) In jener neuen Ordnung wird „jeder sich selbst und damit eben der ganzen Gesellschaft“ 56) dienen. Jeder soll sowohl von anderem „individuellem wie gesellschaftlichem Despotismus“ befreit sein. 56) „Einer für alle und alle für einen . . .“ heißt es anderer Stelle. 57) Nicht Gleichheit, sondern die an das einzelne Individuum anknüpfende Gleichberechtigung soll herrschen. „Was ist Gleichberechtigung?“ fragt Rodbertus. Und er gibt zur Antwort: Gleichberechtigung ist „der gleiche Anspruch auf diejenigen äußern gesellschaftlichen Vorbedingungen, die dem Individuum nötig sind, um nach Maßgabe seines Beitrages an den Früchten des sozialen Lebens teilzunehmen. 58) Ferner heißt es: „Freizügigkeit und freie Wahl der Beschäftigung sind so selbstverständliche, unveräußerliche Rechte des Individuums, daß über sie nicht mehr diskutiert zu werden braucht.

54) S. Kapital S. 212 f.

55) S. Kapital S. 212 f.

56) Ebenda S. 220 f.

57) Ebenda S. 80.

58) Kapital S. 217.

Diese kernigen, so deutlich die Rechte der Individuen betonenden Aussprüche entfernen sich doch sehr von den Theorien Platons, als deren „konsequentesten Vertreter“ Dietzel Rodbertus hinstellt. 59)

59) Der Dietzelschen Auffassung entgegen charakterisiert auch J. Zeller (Z. Erkenntnis uns. staatsw. Zustände S. 42) im Anschluss an Rodbertussche Äußerungen dessen System folgendermaßen: „Der Mensch lebt nicht um zu erwerben, sondern hat zu arbeiten, um zu leben. Das Einzelleben will und muß erhalten werden; das Mittel dazu ist die Herstellung der Genussgüter durch Arbeit. Diese Arbeit ist aber nur fruchtbar in der auf Teilung der Operationen gegründeten gesellschaftlichen Vereinigung in einem Staatswesen. Der Zweck der ineinander wirkenden, gesellschaftlichen Gesamttätigkeit kann nur der sein, dem Einzelnen auf Grund seiner Arbeit die Existenz zu sichern, und es darf demgemäss dem Staate nicht gleichgültig sein, wie sich das Einkommen unter den scheinbar gleichen Bedingungen natürlicher Tauschfreiheit verteilt, vielmehr muß seine erste und wichtigste Aufgabe die Prüfung sein, ob nicht unter bestimmten staatlichen Rechtseinrichtungen die Anteilnahme der Einzelnen am Gesamteinkommen eine ungleiche wird, und so Einer auf Kosten des Andern ein nicht auf Arbeit gegründetes Mehreinkommen bezieht. Bejahenden Falles hat der Staat organisatorisch eine gerechte Verteilung des Nationaleinkommens herbeizuführen, um das Leben des Einzelnen den Zufallen des wirtschaftlichen Wettkampfes . . . nicht ferner preiszugeben . . . Die Volkswirtschaft hat sich als Staatswirtschaft zu konstituieren und sich die Erhaltung und Förderung des Lebens aller Staatsglieder . . zum Ziel zu setzen.“

Aber nicht nur in der Zukunft, die, wie er einmal sagt, im Sozialismus dem Individualismus die höchste Weihe erteilen soll, 60) will Rodbertus die Rechte des Individuums gewahrt wissen, sondern auch für die heute im Anschluss an das Bestehende zu ergreifenden Reformen zeigt sich unser Autor ängstlich bemüht, die aus den heutigen Verhältnissen resultierenden individualen Rechte unverletzt zu sehen. Wobei, da hier nicht in Betracht kommend, die Schwierigkeit nicht untersucht werden soll, wie nun schließlich auf solche Weise der Übergang der heutigen Ordnung in die sozialistische der Zukunft stattfinden soll. „Die Gesetze und Institute“, heißt es in den „Fragmenten“, „dürfen nicht auf Maßnahmen hinauslaufen, welche die aus der Freiheit der Person und des Eigentums hervorgehenden individualen Rechte . . . beeinträchtigen würden“. 61) Aber die noch nicht Wirklichkeit gewordenen individualen Berechtigungen sollen sich wieder nicht auf ein Gewähren von „Oben“ verlassen, fordernd nur werden sie ihr Recht erlangen. „Ihr allein nur werdet und könnt es vollenden, kein anderer übernimmt es für Euch“, ruft er den im Jahre 1862 in London versammelten Arbeitern zu. 62) „Ihr müsst Euch menschlich ruhen und freuen, Ihr müsst Zeit und Mittel für eure geistige und sittliche Bildung finden können.“ „Ruft die Macht der öffentlichen Meinung, die Macht der Gesellschaft zu Hilfe ...“ Eure Forderungen müssen von der doppelten Erwägung ausgehen, sowohl dessen „was Euch als freien Arbeitern, als Staatsbürgern gebührt, als auch dessen, was die Kultur der Gesellschaft von Euch zu fordern berechtigt ist“. 63) Die Gerechtigkeit, d. h. das was jedes freie Individuum zu fordern berechtigt ist, und der Vorteil der Gesellschaft sollen entscheiden. Hier wie überall sucht Rodbertus gleich dem großen Schotten den „Punkt der Angemessenheit.“

60) Vergl. „Kapital 41 S. 221.

61) Aus d. lit Nachl. Bd. HI S. 260.

62) „Sendschreiben“ ebenda S. 242.

63) Ebenda S. 230 ff.

Nicht der alles ehern umklammernde Staat, nicht die Staatsidee als eine absolute, der Individuen sich nur als Mittel bedienende Verwirklicherin der Ziele der Geschichte, noch auch die uneingeschränkte Freiheit des Individuums ist der Ausgangspunkt Rodbertus'. Das Individuum hat gewisse erste unveräußerliche Rechte, und die Entwickelung der Zukunft muß dadurch sich bestimmt sein lassen, ebenso sehr wie die Ziele der Geschichte nicht der absoluten Willkür der Individuen ausgesetzt sein sollen. Unser Denker entfernt sich ebenso sehr von Platos Kommunismus 64) wie von dem „laisser faire“ der extremen Individualisten. Nur in diesem Sinne akzeptiert er den Ausspruch des Stagyriten: daß der Staat seiner Natur nach Assoziationen und Individuen vorgehe. 65)

64) Bei Plato, so bemerkt, in seiner „Ethik d. reinen Willens“ dieses Problem streifend, Hermann Cohen, „läßt sich in seiner Ethik selbst, obschon er der wissenschaftliche Begründer der Ethik ist und bleibt, darin ein Bruch erkennen, daß er zwar das Ich auf den Staat hin orientiert, zugleich aber in demselben auflöst, daß er nicht die beiden Pole des Ich und der Allheit gegen einander aufrecht erhält“ (I. Aufl. S. 552).

65) Vergl. Briefe u. soz.-pol. Aufsätze S. 668.

Die Meinung, daß, von den beiden schroff einander gegenüberstehenden Prinzipien, dem Individualprinzip, dem das Individuum oberster Zweck ist, und dem Sozialprinzip, welches verlangt, daß die Individuen nur dienende Organe des Sozialkörpers seien, wie die Gliedmaßen im Leben des physischen Körpers, wir uns entweder für das Eine oder für das Andere entscheiden müssen 66) und ein Drittes ausgeschlossen ist, wird sich auch unmöglich aufrecht erhalten lassen. Es trifft auch durchaus nicht zu, daß die Vernunft uns zwingt, in dem Einen oder in dem Anderen den „letzten Schluß sozialer Weisheit“ zu sehen. Die einseitige Vertretung jenes eben charakterisierten Sozialprinzips wäre nur denkbar, wenn uns nicht nur das letzte Ziel der menschlichen Gattung, sondern auch die zu diesem führenden Wege offenbar vor Augen lägen, auf daß wir darnach ermessen könnten, welche Rolle dem einzelnen Individuum zufällt, um als bloßes Mittel der Entwickelung die menschliche Gattung den höchsten Gipfel derselben hinaufzuführen. Allein jenes Endziel als Urbild und Wesenheit für sich, ist uns durchaus nicht gegeben. Die Entwickelung vermag nur „Vorbildern“ zuzustreben, die sich immer erst aus den positiven Verhältnissen loslösen, um diese sich dann nachzubilden. Ins Leben gerufen durch die lebendige Wirklichkeit, so erst entsteht jene unendliche Reihe der Stufen der Entwickelung, deren letzte, wie Rodbertus einmal begeistert ausruft, „bis zu Gott hinaufreicht“.

66) S. Dietzel Art. Individualismus i. Hdw. d. Staatsw.

Das Sozialprinzip kann nicht unser alleiniger Führer sein, es ist wesenlos, solange es in seiner Beziehungslosigkeit zu den Einzelnen verharrt. Es bliebe farblos, blutlos, inhaltslos, Schall und Rauch, versänke es sich nicht immer wieder in die tiefen und reichen Gründe des individuellen Seins und holte sich daraus Farbe, Blut und Leben. Das so begriffene Sozialprinzip schließt das eben dadurch auch in seinen Grenzen bestimmte Individualprinzip nicht nur nicht aus, sondern bedingt es vielmehr. Es ist die Gemeinschaft, die Gattung, die sich Ziele in der Zukunft setzt, die Individuen sind aber nicht bloß Mörtel und Kalk für jenes zu errichtende Gebäude kommender Zeiten, sondern wie Quellpunkt jedes Zukunftsbildes so zugleich auch Zweck der Entwickelung.

Das Individualprinzip in seiner einseitigen Fassung kann ebensowenig unser alleiniger Führer sein, denn es setzt ein von der Gemeinschaft isoliertes Leben der Individuen voraus, das ebensowenig Wirklichkeit ist, wie das soziale Ganze vor den Individuen. „Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten — eine Einheit, die sich aber nur auf der Realität des Unterschiedes von Ich und Du stützt“ (Feuerbach), eine Einheit, die die Realität der Einzelnen zur Voraussetzung hat.

In diesem Sinne nennt Rodbertus die Geschichte einen Vereinigungsprozess. „Letzterer verläuft als eine Entwickelung zu jener allseitigen Lebensgemeinschaft des ganzen Menschengeschlechts, die man die Gesellschaft nennt. Nach der dreieinigen Natur des Menschen — Wille, Geist und Kraft — vollzieht sich diese Entwicklung ebenfalls dreifach: als Gemeinschaft des Willens, als Gemeinschaft des Geistes und als Gemeinschaft der Kraft“, in Sitte, Wissenschaft und Wirtschaft.

Einen Vereinigungsprozess nennt Rodbertus die Geschichte. Der Prozess, die ewige Entwickelung, das rastlose Werden ist Ziel, nicht die vollendete Vereinigung.

Für Rodbertus kann der Individualismus nicht Ziel, sondern nur Phase, aber immer wieder notwendige Phase der Entwickelung sein. Er ist zugleich Voraussetzung für die in unendlicher Ferne sich vollendende Idee der Gemeinschaft. Der Gegensatz ist notwendig, damit Einheit erzeugt wird. Das Individuum soll zwar auf den Staat hin orientiert werden, aber die beiden Pole des Ich und der Allheit sollen gegeneinander aufrecht erhalten bleiben (Cohen). Jener Prozess soll und kann auch niemals zu einem Ende gelangen, weil die erzeugte immer weitere Gebiete umfassende Gemeinschaft immer wieder auch die Grenzen der Differenzierungsmöglichkeiten erweitert. Gerade mit dem Reichtum der Ideen und Gefühle, die immer übereinstimmender Gemeingut aller werden, erweitert sich auch der Horizont der Individuen, und die Übereinstimmung, d. h. die Tatsache, daß immer mehr Individuen übereinstimmend die Gefühlsund Gedankenarbeit der Vergangenheit sich zu eigen machen, wird zur um so reicheren Quelle von neuen Widersprüchen und Unausgeglichenheiten, denn sie schafft differenzierungsfähigere Individuen. Damit ist zugleich die Gewähr für ewiges Fortschreiten gegeben, indem doch immer wieder nach Übereinstimmung gestrebt wird.

Steht somit der immer mehr sich erweiternden Gemeinschaft auch eine immer zunehmende Differenzierung gegenüber, so darf doch an die jetzt erreichte Stufe der Entwickelung die Hoffnung geknüpft werden, daß die brutalen Kampfmittel der Gewalt immer mehr den geistigen Waffen des Friedens weichen werden.

Rodbertus hegte diese Hoffnung, wenn sie auch häufig erschüttert wurde, und schließlich wagt er sie doch nur im Wege der Frage zu äußern. Darf man, so fragt er, an die jetzt erklommene Stufe der Entwickelung, auf der das Recht „nach oben und nach unten, nach Seiten des Staats wie des Individuums Maß und Grenze gewonnen, darf man daran die Hoffnung knüpfen, daß die weitere Entwickelung maßvoller verlaufen wird, als dies bisher . . . geschehen? Wird vor allem die Lösung der modernen sozialen Frage die heute erreichte vollendetere Stufe der Entwickelung bezeugen, wird sie mittels positiver organischer Maßnahmen erfolgen oder wieder nur im Wege bloßer Negationen sich durchsetzen?“ 67)

67) Vergl. Rodbertus: Z. Geschichte d. röm. Tributsteuern seit Augustus a. a. O. 443 f.

Eine entschiedene Antwort auf diese Frage ist auch heute noch nicht zu geben. Jedenfalls aber dringt die Erkenntnis immer mehr durch, daß es sich im Kampfe der Individuen um ihr Recht, wie ihn der heutige Emanzipationskampf des vierten Standes darstellt, „um eine ganz legitime Bewegung“ handelt, „die nur dann eine Gefahr in sich schließt, wenn durch illegitimen Widerstand dagegen an Stelle der Reform die Revolution tritt, beziehungsweise treten muß“. 68)

68) S. Oncken: Geschichte d. Nat.-Ök. S. 15.


Meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. August Ricken, unter dessen Anleitung diese Arbeit verfasst wurde, ' an dieser Stelle für seine mannigfachen Anregungen d freundliche Förderung herzlichst gedankt.

Der Verfasser.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rodbertus Stellung zur sozialen Frage