Folgerungen.

Tatsächlich ist Rodbertus ein zu gründlicher Beobachter der Wirklichkeit, um alle die mannigfaltigen Faktoren bei der Gestaltung der Produktionsverhältnisse wirklich zu übersehen. Daß er sie alle kennt, ist deutlich genug aus seiner Schilderung der Krisen von 1818 bis 1847 zu ersehen. 29) Aber er hat bereits in den 30er Jahren, 30) also zu einer Zeit, wo ihm nur ein sehr geringes Maß von Erfahrungen zur Seite gestanden haben kann, wo ihn höchstens die französische und englische sozialistische Literatur, aber keineswegs die wirklichen sozialen Verhältnisse Deutschlands, das sich damals noch in den Anfangsstadien der industriellen Entwicklung befand, angeregt haben konnten, zu dieser Zeit also schon hat Rodbertus seinen Plan zur Lösung der sozialen Frage gefaßt, von dem er dann, vielleicht zum Schaden seiner eigenen Entwicklung, wie von einer Offenbarung sich hat beherrschen lassen. Die Gesellschaft ist nur „aus einem Punkte“ und dann auf einmal und vollständig zu kurieren; so eifert er gegen alle die „kläglichen Palliativmittel“ , die im Laufe des 19. Jahrhunderts die Versuche darstellen, der sozialen Frage auf den Grund zu kommen. Rodbertus ist schon allzu früh überzeugt, jenen einzigen wunden Punkt der Gesellschaft gefunden zu haben. Das „Gesetz der fallenden Lohnquote“, das er uns in jeder seiner zahlreichen Schriften in endlosen Wiederholungen, immer fast in gleichem Wortlaut, ohne jemals etwas wesentlich Neues hinzuzufügen, ausführlich auseinandersetzt, bleibt das Dogma, dem alle andern Erkenntnisse über die Mannigfaltigkeit der wirkenden Ursachen in Staat und Gesellschaft sich beugen müssen. Erst in spätem Jahren hat er Forderungen formuliert, die der Vielfältigkeit der vorliegenden sozialen Verhältnisse in ausgedehnterem Maße Rechnung zu tragen sich bestreben.

29) Vergl. auch „Kapital“ S. 50 ff.
30) In seinem Aufsatz „Die Ford. d. arb. Kl. u (1837).


Es kann aber nicht bezweifelt werden, daß das von Rodbertus vorgeschlagene Heilmittel einer staatlichen Lohnregulierung durch Einführung des „Normalarbeitstages“ nicht insofern den wesentlichen Teil seiner Lehre ausmacht, daß die Einsicht in dessen Nichtverwendbarkeit in der von ihm gedachten Weise zugleich das Urteil über sein ganzes System in sich schlösse. Den Kernpunkt und das Bedeutsamste seiner Lehre bildet vielmehr die Problemfassung, die Fragestellung, die Erkenntnis des bestehenden und immer komplizierter werdenden Widerstreites zwischen Arbeit und Besitz und damit auch die Wegweisung für die soziale Gestaltung der Zukunft. Und in der Art, wie das Problem von Rodbertus gefaßt wird, ist zunächst auch noch das Suchen nach einer Lösung, noch nicht diese selbst enthalten, obwohl das Ziel bereits feststeht. Wenn wir uns aber nicht um den besonderen Inhalt des „Normalarbeitstages“ kümmern, sondern nur die Idee desselben festhalten, so finden wir doch wieder darin den Kernpunkt des Rodbertus'schen Systems: die immer wiederkehrende Forderung des „loyalen“ Überganges. Sein „Normalarbeitstag“ ist weit davon entfernt ein ins einzelne ausgearbeitetes Programm zu enthalten, sondern bildet vielmehr den festen Punkt, den Rodbertus nötig hatte, um sich der Zweifel, die sich ihm an jene Forderung knüpften, zu erwehren. Den „loyalen“ Übergang der heutigen Gesellschaftsordnung in die höhere zukünftige durch ein verständnisvolles Eingreifen des Staats fordert Rodbertus, weil er aus Liebe zu den Kulturerrungenschaften der Menschheit sie vor heftigen Erschütterungen bewahrt sehen möchte. Die Erfüllung jener Forderung ist eine Hoffnung, die er hegt, die er theoretisch mit den durch die Staatsidee selbst gegebenen Aufgaben und Pflichten des Staates in sich zu festigen bestrebt ist, die praktisch noch ihre Stützpunkte einerseits beim Staat andererseits bei den Individuen sucht.

Der Glaube an einen wirksam sich äußernden und zum Wohl des Ganzen sich durchzusetzen vermögenden, die Notwendigkeiten und Möglichkeiten weise überschauenden Gesamtwillen ist nicht so stark in ihm, als daß er nicht zuzeiten weit mehr und weit schnellere Verwirklichung eines gerechtern Zustandes durch die treibenden Kräfte von „Unten“, durch den Willen der Teile, durch die Einzelwillen erwartete. Er, der „sämtlichen Sozialisten, Marx nicht ausgenommen“, den Vorwurf macht, daß sie noch „die individualistische Eierschale“ 31) nachschleppen, hat sie weislich selbst auch nicht ganz abgelegt. Sie findet sich auch bei ihm wieder und sein Gedankengang ist hier demjenigen der sogenannten Smithschen Schule, sosehr er sich auch gegen ihn wendet, nicht ganz unähnlich. Bei jener soll das freie Walten des Grund- und Kapitaleigentums, bei Rodbertus das Wohl des Arbeiters zugleich das Wohl der ganzen Gesellschaft herbeiführen.

Ein Blick in die Geschichte überzeugt ihn auch darin, daß der Anstoß zur Verwirklichung neuer umwälzender Ideen nicht vom Staatsganzen, sondern von einem Teile der Gesellschaft, der sich dem Ganzen entgegenstellte, von „Unten“, von sehen der Individuen ausgegangen ist Und eine Synthese ist es, die er mit Rücksicht auf die heute erklommene Kulturhöhe von der Gesellschaft fordert, wenn er einerseits den Arbeitern zuruft, sich international zusammenzuschließen und sich auf niemand anders zu verlassen, als auf sich selbst: „Ihr allein nur, so sagt er, werdet und könnt es vollenden, kein Anderer übernimmt es für Euch“ 32), und wenn er andererseits dem Staate zuruft, daß er den andringenden Sturm nicht hoffen dürfe mit Bajonetten und Kanonen abwehren zu können, daß er ihm durch ein neues, alle Glieder der Gesellschaft umfassende System der „Vorsicht“ entgegenzukommen habe.

31) Briefe u. soz.-pol. Aufsätze v. Rodbertus, herausgeg. v. Rud. Meyer, S. 31.

32) Sendschreiben a. d. Londoner Arbeiterkongreß (1862). Aus d. lit. Nachlaß III S. 242.

So ist ihm denn zunächst das Entscheidende: „Was fordern die arbeitenden Klassen?“ Sie fordern politische Freiheit, und dahinter verbirgt sich der eigentliche Ruf: „Mehr Besitz“, d. h. „mehr Teilnahme an der Bildungsstufe der Zeit, mehr Teilnahme an den Wohltaten der heutigen Kultur“.33) „Die arbeitenden Klassen besitzen heute die volle persönliche Freiheit und sind zu gleichen Rechten und Pflichten in den Staatsverband aufgenommen.“34) Die Gesellschaft stellt heute das „weite, unterschiedslose Bild gleichberechtigter Staatsbürger“ dar. Konnte es auch in früheren Perioden der Geschichte ein Recht des Staates geben, im „Interesse der Geschichte“ die Rechte Einzelner zu verkürzen, so gilt dieses Recht heute nicht mehr, wo die Gesellschaft aus gleichberechtigten Individuen sich zusammensetzt. „Es hat der Zustand aufgehört, in welchem, wie im Altertum, der größte Teil der Gesellschaft als Fremde oder Sklaven außerhalb des Staates standen.“35)

33) Die Forder. d. arb. Klassen (1837), a. a. O. Vergl. S. 197.

34) I. soz. Brief a. v. Kirchmann a. a. 0. S. 177.

35) Ebenda.

Während nun die rechtliche Entwicklung diesen Verlauf genommen, nimmt die wirtschaftliche einen entgegengesetzten. Der Anteil der Arbeiter an dem nationalen Produkt wird bei fortschreitender Produktivität der Volkswirtschaft ein immer geringerer. Ausgerüstet mit dem ihnen von der Gesellschaft verliehenen Recht, unterstützt von der Wissenschaft, die sie lehrt, daß Arbeit allein produktiv ist, treten nun die arbeitenden Klassen mit dem entschiedenen Willen auf, diesen Widerspruch zwischen der rechtlichen und wirtschaftlichen Entwickelung aufzuheben. Und die zweite Frage, die Rodbertus stellt, ist die: „Werden die arbeitenden Klassen das, was sie wollen, mit Ernst wollen?“ Und er zweifelt nicht daran, daß sie das tun werden, daß sie von keinerlei Beweisen, daß die Erhaltung der Gesellschaft es nötig mache, den Arbeiter auf das Maß des notwendigen Unterhalts zu beschränken, in ihren Forderungen sich werden beirren lassen. 36) Der, welcher nach Brot verlangt und es vor Augen hat, wird sich nicht mit dem Beweis begnügen, daß für ihn keins da sei. „Die arbeitenden Klassen, die bisher so willig in dem Joch einer unbelohnenden Arbeit einhergingen, bäumen sich heute nicht bloß vor der Unerträglichkeit ihrer Leiden und der Peinlichkeit unzulänglicher Heilversuche auf, sondern sind im Gefühl ihres Rechts im Begriff, die ganze Last von ihrem Rücken zu werfen.“ 37) Weiter ist er dessen sicher, daß die Gesellschaft das, was die arbeitenden Klassen fordern, ihnen nicht wird vorenthalten können. Denn die Entwickelungsgesetze der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse drängen dahin, ihnen ihre Forderungen zu erfüllen. Die bestehenden Produktionsverhältnisse werden zu Fesseln der vorhandenen Produktivkräfte. Die kapitalistische Produktionsweise führt natur notwendig zu einer immer weitergehenden Einzelaufhäufung der Vermögen und einer immer engern Konzentration der Großbetriebe bis zu dem Punkte, wo „in der bestehenden Verteilung und der durch sie bedingten Lebendigkeit des Austausches kein hinlänglicher Reiz mehr gegeben ist, um die produktiven Kräfte der Nation in vollem Maße anzuspornen“. 38)

Andererseits aber sucht er daran festzuhalten, daß, wenn auch die Wirkungen bestehender Verhältnisse nach bestimmten Gesetzen sich vollziehen, jene Verhältnisse selbst doch nicht mit Naturnotwendigkeit bestehen, sondern das Resultat des selbstschöpferischen geschichtlichen Organismus der Völker sind. Die Gesellschaft ist nicht Naturgesetzen unterworfen, sie gibt sich vielmehr selbst ihre Gesetze. 39) Und wenn auch an diese bestimmte Ursach- und Wirkungsverläufe sich knüpfen, so bleibt sie doch nicht jener ersten selbst gesetzten Ursache unabwendbar unterworfen, sie behält vielmehr die Freiheit, jenes von bestimmten geschichtlichen Verhältnissen geforderte Gesetz, dessen vernichtenden Wirkungsverlauf sie infolge neu eingetretener geschichtlicher Faktoren voraussieht, vorbeugend durch neue Gesellschafts-, Staatsgesetze zu ersetzen.

36) Die Forderungen d. arb. Kl. a. a. O. S. 200.

37) A. a. O. S. 181.

38) Kozak, Rodbertus' soz.-ökonom. Ansichten. S. 160.

39) Vergl. Z. Bei. d. soz. Fr. Th. II a. d. lit. Nachl. III S. 77 ff.

Das ist der Punkt, wo die Rodbertus'sche und die marxistische, mechanischmaterialistische Geschichtsauffassung sich gegenüberstehen. Doch ist dieser Gegensatz naturgemäß nur ein bedingter. Denn wenn Rodbertus auch in die Kausalbetrachtung des gesellschaftlichen Geschehens die Staatsidee als bestimmend was sozial sein sollte, einführt, so fehlt ihm doch zu Zeiten die Überzeugung, daß der bestehende Staat seine Aufgabe wird durchführen wollen und können, während er andererseits nicht daran zweifelt, daß Ursache und Wirkung der heutigen gesellschaftlichen Zusammenhänge mit Notwendigkeit, wenn auch mit gewaltigen Gefahren für die Kultur, jenes Ziel, die Lösung der heutigen sozialen Frage, vollenden werden. So schreibt er am 6. November 1872 an R. Meyer: „Sollte wirklich Lassalle recht gehabt haben, als er den Weg zu dem künftigen Sozialstaat, über dessen Endgestalt wir beide völlig übereinstimmten, auf 200 Jahre schätzte, während ich auf 500 — ,daß er meinte, der Unsinn der Regierungen würde die Zeit um so viel beschleunigen? Die heute aus geheimnisvoller Tiefe die soziale Frage lenken, haben alles Vertrauen bei mir verloren.“ 40) „Zweifle Keiner“, heißt es weiter in seinem Aufsatz „Die Forderungen, der arbeitenden Klassen“, „sie (die arbeitenden Klassen) werden es mit dem Ernst wollen, den die Weltgeschichte braucht, wenn sie ihre großen Pläne ausführt!“ 41) Und an anderer Stelle: „Die Gesellschaft zieht sich in die Extreme auseinander. Eine immer zunehmende besitzlose Masse nach unten! Eine von immer aufgehäufterem Reichtume strotzende, sich mindernde Relativzahl nach oben! Die diese Extreme vermittelnden, verbindenden, versöhnenden Klassen der Zahl und dem Einkommen nach in zunehmendem Schwinden begriffen. Als ob schon das Feld klar zum fürchterlichen sozialen Kampfe gemacht würde! Als ob man jeden Augenblick schon die Schlachtdrommeten hören könnte!“ 42) Demgegenüber aber wird doch wieder betont: „Nun wollen wir zum Genius der modernen Geschichte und ihres Hauptträgers, des deutschen Volkes, hoffen, daß die neue, die heutige soziale Frage austilgende soziale Grundlegung bewußt durch den Staat und nicht blind durch geschichtliche Naturkräfte, wie sie in der Völkerwanderung expandierten, geschehen wird, denn in dem ersteren Falle würden wir nur das soziale Kleid wechseln, unser nationales Leben aber erhalten bleiben, in dem letzteren wurde es, wie einst die allgewaltige römische Nationalität, mit durch die neuen sozialen Völkerstürme ausgelöscht werden.43)

40) Vergl. Briefe u. soz.-pol. Aufsätze, S. 265.

41) Aus d. lit. Nachl. Bd. III S. 197.

42) Z. Bei. d. soz. Fr. Th. II, ebenda S. 88.

43) Ebenda S. 19.

Daher geht Rodbertus in seinen positiven Vorschlägen, die er zur Lösung der sozialen Frage macht, von der Grundüberzeugung aus, daß dem Staate allein, zwar nicht „diesem oder jenem Lumpenstaat“, sondern dem „Staate wie er sein soll“, die Aufgabe, sie durchzuführen, zufällt.

Aber dieser Staat ist für Rodbertus nicht jener Vernichter der Individualrechte und -willen, wie Dietzel in seiner Rodbertus-Monographie den Rodbertus'schen Standpunkt übertreibend charakterisiert. Vielmehr sehen wir Rodbertus den Staatswillen durch das, was das Individuum zu fordern berechtigt ist, ebenso wie umgekehrt die Individualwillen scharf genug begrenzen.

Auch seine Werttheorie, der wir uns nunmehr zuwenden, die die Grundlage der Rodbertus'schen Lehre und Vorschläge bildet und die einen eminent individualistischen Kern enthält, bestätigt diese Auffassung.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rodbertus Stellung zur sozialen Frage