Die Handelskrisen.

Das Gesetz vom relativen Sinken des Arbeitslohnes verdichtet sich so für Rodbertus zum Anfang und Ende der sozialen Frage. Es ist ihm die erschöpfende Erklärung aller derjenigen Vorgänge im wirtschaftlichen Leben der heutigen Gesellschaft, die in grausamster Weise die Vernichtungsarbeit der heutigen Ordnung vollziehen.

Jene verheerendste Erscheinung, von der die Volkswirtschaft periodisch, nach Rodbertus in immer kürzeren Zwischenräumen, heimgesucht wird, ist die der Handelskrisen.


Mit Handels- und Warenkrisen bezeichnet Rodbertus diejenigen, für die wir heute genauer den Namen Produktionskrisen haben. Die Geld-, Kredit- und Kapitalkrisen, solange sie „rein“ auftreten, können auch niemals von so tief einschneidender Wirkung sein, wie jene, die meist in Verbindung mit ersteren auftreten. Tatsächlich waren, wie Schmoller 22) ausführt, die großen Krisen des letzten Jahrhunderts solche Produktionskrisen, was allerdings nicht ganz aufrecht zu erhalten sein wird, besonders wenn die Veranlassung der Krisis ihren Namen bestimmen soll. Das ist es gerade, was Rodbertus übersieht und was ihn zu seiner einseitigen Auffassung führt. Für ihn gibt es lediglich Produktionskrisen und erst im Gefolge dieser, infolge des engen Zusammenhanges der produktiven Unternehmungen mit dem Geld- und Kreditwesen der betreffenden Volkswirtschaft, auch Geld- und Kreditkrisen, nicht auch umgekehrt. So sagt er: „Deshalb treten alle folgenden Krisen (nach 1826) mehr äußerlich als Geldkrisen oder Börsenkrisen auf, während man daran festhalten muß, daß auch sie nichts sind, als Warenkrisen 23) . . . Seine Verherrlichung des Kredits läßt ihn übersehen, daß dessen Übertreibung sehr oft den primären Grund der Krisis und die Produktionskrisis erst die Folgeerscheinung bildete.

22) „Grundriß“ II 948.

23) I. Soz. Brief an v. Kirchmann, aus d. lit. Nachlaß III S. 128.


Alle Krisen seit 1815, „seitdem der allgemeine Friede den Nationen ihre ungeteilte Kraft den Schöpfungen der Industrie zuzuwenden gestattete“, sind von Umständen begleitet, deren Gleichartigkeit Rodbertus veranlaßt, auf eine und dieselbe tiefliegende Ursache zu schließen. Die wirtschaftlichen Katastrophen treten erst ein, „seitdem der Reichtum aller zivilisierten Nationen einen raschern und von fremdartigen Einflüssen ungehinderten Aufschwung genommen hat“. Das Charakteristische an ihnen ist, daß jeder derselben „eine hervorstechende Periode industrieller Blüte“ vorangeht. Die produktiven Unternehmungen mehren sich, neue Erfindungen erhöhen die allgemeine Produktivität, die Kapitalansammlungen gehen in steigendem Maße vor sich, der Zinsfuß sinkt, die Banken fließen von Barschaften und Depositen über; der Kredit gewinnt größere Leichtigkeit, der Arbeitslohn steigt. Die vorhandenen Bedingungen und die vorläufigen Wirkungen lassen darauf schließen, daß der Volkswirtschaft die Mittel gegeben sind, um in immer steigendem Maße ihr materielles Wohlsein zu erhöhen.

Aber dieser glänzenden Höhe folgt bald auch die furchtbarste Reaktion. „Zuweilen hob der Verfall mit einem Anstoß des Kredits an, zuweilen mit bedeutendem Kapitalverlust, zuweilen mit einer Missernte, am häufigsten mit dem allgemeinsten und durchgreifendsten in allen Krisen sich wiederfindenden Symptom, mit dem Sinken der Warenpreise.“ 24) Die durch die erhöhte Produktivität angehäuften Massen von Waren finden den Weg zu den Konsumenten nicht, denen ihre Bestimmung gilt. Der Absatz stockt, nicht weil die Bedürfnisse der Gesellschaft erfüllt sind, sondern lediglich, weil den angehäuften Warenmassen nicht die Kaufkraft gegenübersteht, die ihren Abfluss ermöglichen würde. Es tritt eine Entwertung der wirtschaftlichen Güter ein, zum Nachteil der Besitzer und zu Niemandes Vorteil. „Mit dieser Absatzstockung beginnen dann die niederschlagenden Rückwirkungen durch jene ganze Kette von Wohlstandsbedingungen und Reichtumsbeweisen hindurch.“ Mit größter Schwere aber fallen diese Katastrophen auf den Arbeiter, der zur Zeit der Blüte den Lohn im „notwendigen Unterhalt“ erhielt und nun sogar mit diesem die Gesellschaft entwürdigenden Lohne an dem Risiko der Unternehmer teilnehmen muß. Auch das Existenzminimum bleibt ihm jetzt versagt, bis durch Aushungerung und Tod jene berühmte „Harmonie“ sich wieder herstellt. „Wenn dann am Ende solcher Vernichtungsszenen die Nationalökonomie ihre Toten zählt, so rechnet sie den Ruin der Kapitalisten nach Millionen Werten, und den der Arbeiter nach tausend und über tausend Familien, die sich niemals wieder in ihren Kellern und unter ihren Dächern aus ihrem Elend aufzuraffen vermögen.“ 25)

24) Ebenda S. 109.

25) Ebenda S. 110.

Rodbertus faßt hauptsächlich die Verhältnisse Englands im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Auge, dessen unerhörter industrieller Aufschwung von immer verheerenderen und während dieses Zeitraums in immer kürzeren Intervallen hereinbrechenden Krisen unterbrochen wurde. Er gibt eine lebhafte Schilderung der Krisen von 1818/19, 1825/26, 1836/37, 1839/40 und 1846/47; auch über diejenige von 1857 hat er sich in der im gleichen Jahre herausgegebenen Schrift „Die Handelskrisen und die Hypothekennot der Grundbesitzer“ geäußert. Die Ereignisse dieses halben Jahrhunderts haben nicht nur Rodbertus, sondern noch andere Kritiker der heutigen gesellschaftlichen Ordnung dazu verleitet, ein „Gesetz“ der in regelmäßigen Zeitfolgen wiederkehrenden Krisen anzunehmen. Dieses Gesetz hat sich aber seither nicht bestätigt, denn die Jahre seit 1875 weisen geringere Schwankungen der Konjunktur auf als die vorhergehenden.

In jenen Jahren fortwährend steigender Produktivität hat England dadurch sich Absatz für seine Produkte zu schaffen gewußt, daß es seine eigenen Mittel in Gestalt von Anleihen in andere Länder verlegte, deren Beträge zum größten Teil für englische Fabrikate wieder zurückkehrten. 26) Diese Beobachtung hält Rodbertus für sehr wichtig, denn sie ist ein Hinweis für die Notwendigkeit des Gleichgewichts der Kaufkräfte. Die Absatzstockungen treten nicht ein, weil zu viel produziert wurde, von einer Zuvielproduktion kann nicht die Rede sein, solange die Mehrzahl der Gesellschaft noch Mangel leidet, sondern sie treten ein, weil die Kaufkraft versagt. Während auf der einen Seite die Produktivität der Nation zunimmt, bleibt andererseits die Kaufkraft der arbeitenden Klasse infolge des herrschenden Lohngesetzes ungefähr die gleiche wie die frühere, und der heute nicht mögliche Abfluss der „Vollsäftigkeit in das verkümmernde Glied“ der Gesellschaft einzig und allein führt die periodischen Zusammenbrüche herbei, von denen am grausamsten die arbeitenden Klassen betroffen werden. Nicht, daß die Arbeiter überhaupt nur einen geringen Anteil am „Nationalprodukt“ haben, sondern daß ihr Anteil eine mit steigender Produktivität immer geringere Quote des gesamten Nationalprodukts ist, ist die alleinige Ursache der Erschütterungen der Volkswirtschaft.

Vergleichen wir die Rodbertus'sche Krisentheorie mit der von Marx, so finden wir, daß sich auch hier, wie bei anderen Gelegenheiten, sowohl übereinstimmende als auch gegensätzliche Äußerungen des letzteren anführen lassen. So heißt es einmal bei Marx: „Der letzte Grund aller wirtschaftlichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Triebe der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde“. Dagegen an anderer Stelle (ebenfalls im 3. Bde. d. „Kapital“): „Es ist eine reine Tautologie, zu sagen, daß die Krisen aus Mangel an zahlungsfähigen Konsumenten hervorgehen“, da „die Krisen gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse realiter größeren Anteil an dem fitt Konsumtion bestimmten Teile des jährlichen Produkte erhält“. 27)

26) Ebenda S. 115.
27) Vergl. E. Bernstein: Die Voraussetzungen d. Soz. S. 67.

So sehr Rodbertus sich gegen die Theorie der „Absatzwege“ von Say und dessen Nachfolgern wendet, so zeigt doch sein Gedankengang mit jenen Lehren, die entgegen den deutlichsten Tatsachen dazu gelangen, das Vorhandensein von Krisen infolge eintretender Überproduktion zu leugnen, große Ähnlichkeit, nur daß seine Antwort weniger konsequent ausfällt. Jene Theorie leugnet bekanntlich die Möglichkeit einer allgemeinen Überproduktion, da man letzten Endes ja doch stets Produkte mit Produkten kaufe, das Plus an einer Ware daher stets einen Gegenwert in einer anderen finden müsse, wie schon Ricardo ausgeführt hatte. Sie schließt daraus, daß nur eine zeitweilige partielle Unterproduktion, veranlaßt durch Krieg oder Missernte oder andere äußere Ereignisse, Absatzstörungen herbeifuhren kann, die natürliche Ordnung aber rasch wieder das notwendige Gleichgewicht herstellt. Auch Rodbertus gibt die Möglichkeit einer Überproduktion nicht zu, nur die den Arbeitern fehlende Kaufkraft rufe den Schein einer solchen hervor. Wenn aber eine Überproduktion nicht angenommen wird, so fällt auch damit, das hat jene Theorie richtig gefolgert, die Annahme einer mangelnden Kaufkraft fort. Denn wenn diese auch bei den arbeitenden Klassen hinter der steigenden Produktivität zurückbleibt, so wird sie ja bei den besitzenden Klassen entsprechend größer, und die Produktion könnte sich um so besser darnach einrichten, um so stabiler die Kaufkraft und somit die Bedürfnisse des größten Teils der Bevölkerung bleiben, wenn auch allerdings der Luxus, der dann Platz greifen muß, naturgemäß der Nationalproduktion nicht die solide Grundlage geben, wie es der Bedarf der großen Masse tun würde. Wenn also von Rodbertus dem Einflüsse des Kredits und dessen größten Übertreibungen, ebenso der „Spekulation“, worunter er die Regellosigkeit der Produktion als auch die schwindelhaften Unternehmungen versteht, durchaus keine wesentliche Bedeutung für die ungesunde Gestaltung der Produktionsverhältnisse beigemessen wird 28), auch die psychologischen Ursachen, die die Krisen mit herbeiführen, außer acht gelassen werden und andererseits die sehr wichtige Tatsache übersehen wird, daß heute nicht so sehr allein für den inneren Markt, sondern zum großen Teil für den Weltmarkt produziert wird, und daß dessen, bei noch so ausgebildetem Nachrichtenwesen und vollendeter Statistik, unübersehbarer Bedarf die großen Stockungen in der Bewegung der Güter herbeiführen muß, so hätte er konsequenterweise zu jener Idee der Harmonie aller Interessen gelangen müssen, über die er der Freihandelsschule so bittere Vorwürfe macht.

28) Vergl. Die Handelskr. u. d. Hypothekennot d. Grundbes. Kl. Schriften 226 ff; I. soz. Brief S. 184 ff.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rodbertus Stellung zur sozialen Frage