Arbeit und Besitz.

Indem Rodbertus nach dem Grunde jener immer gefahrdrohenderen und folgenschweren Erschütterungen forscht, findet er ihn in der Tatsache des lediglich negierenden Charakters des geltenden Systems der Erwerbsfreiheit. Es begnügt sieh damit, alte Ordnungen umzustürzen, ohne neue ordnende Gewalten an deren Stelle zu setzen. Indem es die ganze Leitung des Verkehrs in die Hände des „rentierenden Eigentums“ legt und den rücksichtslos wirkenden Eigennutz zur allein geltenden Tugend im wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft erhebt, führt es den gewerblichen Naturzustand ein, in dem die Willkür der mit der Macht des Eigentums ausgestatteten Stärkern das Recht der Gesellschaft verwirklichen solle 10). Es läßt die Einen, die Besitzer, die mit der „Quelle aller Güter“, der Erde, eines Teils und allen Vorräten, anderen Teils ausgerüstet sind, die Anderen, die Arbeiter, bloß mit ihren natürlichen Organen in den Kampf treten und folgert eine Naturgesetzlichkeit im Verhältnis zwischen Besitz und Arbeit für einen Zustand, der nichts als die natürliche Wirkung einer bestehenden Ordnung ist, der eine andere vorangegangen ist und der daher auch eine neue folgen kann.

10) Die Forderungen der arbeitenden Klassen. Aus d. lit. Nachl. Bd. III S. 212.


Auf dem Kampfplätze der freien Konkurrenz werden diejenigen, „ denen die Leitung des Verkehrs in die Hände gelegt ist“, den habelosen Arbeitern, obgleich diese allein das Element geben, aus jener Quelle aller Güter zu schöpfen, solche Bedingungen vorschreiben, die der Eigennutz des Besitzes zulässt, d. h. sie werden dem Arbeiter nicht mehr zugestehen, als ihm nötig ist, um seine Arbeitskraft zu erhalten und sich in seinen Kindern zu verjüngen. Übereinstimmend mit Ricardo ist Rodbertus dieser Betrag des Existenzminimums der Gravitationspunkt alles Arbeitslohns, „wenn ihn auch zuweilen nationale Sitten oder der partikuläre Kampf, den in diesem allgemeinen gewerblichen bellum omnium contra omnes die Kapitalisten wieder unter sich zu bestehen haben, unbedeutend erhöht“. 11) Aber es liegt im Begriffe des Eigentums, seine Sache zu gebrauchen wie man will, und sogar, ob man will; daher „kann eine Wendung der Konjunktur die Besitzenden bestimmen, den Arbeitern selbst jenen Anteil zu entziehen, und die Erde, auf die alle angewiesen sind, und die Vorräte, zu denen alle mitgewirkt haben, verschließen sich gerade denen, die nichts haben. Hier führt die Diskretion, auf welche die Arbeiter den Kapitalisten ergeben sein müssen, unmittelbar zum Tode.“ 12)

Rodbertus hat seine Lehre vom Arbeitslohn, der im Existenzminimum mehr oder weniger seine Grenze hat, bei verschiedenen Gelegenheiten verschieden formuliert, doch sind die Unterschiede für die Konsequenzen, die er aus ihr zieht, nicht wesentlich. Die Tatsache der immer fortschreitenden Verelendung der Massen bleibt nicht nur bestehen, wenn nachgewiesen wird, daß infolge des heute herrschenden Verhältnisses zwischen Arbeit und Besitz, das in dem Mangel jeder staatswirtschaftlichen Verbindung im Interesse aller vom Recht als gleich frei anerkannten Gesellschaftsglieder 13) sich charakterisiert, der Arbeitslohn in der Regel noch unter das Existenzminimum herabgedrückt wird, sie würde schon zu verzeichnen sein, wenn festgestellt würde, daß die bestehende Verarmung nicht in demselben Maße abnimmt, als der Nationalreichtum zunimmt. 14) Dieses ist aber der Fall. Tatsächlich steigt die nationale Produktivität fortwährend, der Arbeiter zieht jedoch daraus so gut wie gar keinen Vorteil, da er seine Ernte gleichsam „auf dem Halm“ zu verkaufen gezwungen ist. „Selbst angesichts des größten Segens der Natur schließen diese (die Arbeiter) den Kauf aus dem einzigen Motiv ab, aus dieser augenblicklichen Not herauszukommen, und ihre eigene Preisforderung wie das ihnen gemachte Gebot richten sich nach nichts anderem als dieser Not, d. h. hier nach dem notwendigen Unterhalt.“ 15)

11) Ebenda S. 213.

12) Ebenda S. 213.

13) I. sozialer Brief an v. Kirchmann a. a. 0. S. 98.

14) Es fehlt nicht an Interpreten von Marx, die dessen Verelendungstheorie in diesem letztern Sinne deuten und sie auf solche Weise, angesichts des Nichteintretens einer tatsächlichen Verelendung, noch hoffen aufrecht erhalten zu können (S.E. Bernstein: Vorauss. d. Soz. S. 148, Anmkg. 1 über H. Cunow).

15) Die Handelskrisen u. d. Hypothekennot d. Grundbes. Schriften, S. 224.

Der theoretischen Begründung, daß unter der Herrschaft des Privateigentums an Boden und Kapital der Arbeitslohn in der Regel nicht über den „notwendigen Unterhalt“ hinausgeben kann, reiht Rodbertus auch eine statistische Beweisführung an, die er aus Daten der Einkommensbewegung in England für die Jahre 1812 — 1870 aus den Werken Colquhouns und Baxters schöpft. 16) Ad. Wagner bezweifelt die Verwendbarkeit jener Daten, 17) die er in seiner „Grundlegung“ als „freilich unsicher, aber schwerlich zu ungünstig“ angenommen bezeichnet, 18) und auch die heute vorliegenden Zahlen lassen kein bestimmtes Urteil über die Einkommensbewegung unter den verschiedenen Klassen fällen. Rodbertus gilt jene Annahme als ausgemacht, daß bei steigender Produktivität die Arbeit jedenfalls nicht mehr als immer nur denselben Lohnbetrag und damit verhältnismäßig einen immer kleinern Teil des Nationaleinkommens erhält. 19) Damit wird der materielle Abstand zwischen den besitzenden und nichtbesitzenden Klassen ein immer größerer und führt fortschreitend zu einer immer weiter gähnenden Kluft, die die Gesellschaft zu verschlingen droht. 20) Die heutige Gesellschaft gräbt sich, ihren eigenen Gesetzen folgend, selbst ihr Grab, und innerhalb der geltenden Ordnung ist kein Heilkraut für sie gewachsen. 21)

16) Vergl. Z. Bei. d. soz. Fr. Th. II

17) Aus d. lit. Nachl. III Vorrede S. IX.

18) Grundlegung, 3. Aufl., S. 825.

19) Vergl. auch: Briefe u. soz.-pol. Aufsätze, herausgegeben v. R. Mayer S. 251 f.

20) Kl. Schriften, S. 320f ; Z. Bei. d. soz. Fr. Th. II a. a. 0. S. 20.

21) Ebenda S. 18.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rodbertus Stellung zur sozialen Frage