Allgemeiner Standpunkt

„Die soziale Frage bezieht sich lediglich auf die arbeitenden Klassen“ 1 ), so lesen wir in Rodbertus' nachgelassenen Fragmenten. Diese Fassung des Problems scheint seinen früheren Fassungen der modernen sozialen Frage, als einer Frage der Gesellschaft, zu widersprechen. Doch ist dieser Widerspruch zunächst mehr wörtlich, als dem Sinne nach. Denn wenn auch die soziale Frage sich lediglich auf das wirtschaftliche Lebensgebiet der arbeitenden Klassen erstreckt, so hat sie doch ihre Wurzel „bis in die Tiefe unserer sozialen Grundlagen getrieben“, so daß sie nur noch in dieser Tiefe an ihrer Wurzel operiert sein will und geheilt werden kann. 2)

1)Rodbertus-Jagetzow: Fragmente, aus d. lit. Nachlaß Bd. III. S. 268. Berlin 1885. Herausgeg. v. Ad. Wagner.


2) Ebenda S. 279.

Immerhin bleibt unleugbar eine Differenz übrig, die für die Erfassung des Rodbertus'schen Standpunktes einen Fingerzeig bietet. Denn jene verschiedenen Formulierungen der sozialen Frage enthalten zweifellos in sich als ihre notwendigen Folgen auch zwei grundverschiedene Wege der Lösung. Wenn die soziale Frage als eine solche der Gesellschaft bezeichnet wird, so ist damit zum Ausdruck gebracht, daß vor allem die Interessen der Gesellschaft in Betracht kommen, daß daher die Lösung nur von ihr, resp. der Leitung, von „Oben“ her, nach Maßgabe des für das Fortgedeihen der Gesellschaft als notwendig Erachteten, zu geschehen hat; wenn sie dagegen als die Frage der arbeitenden Klassen bezeichnet wird, so liegt darin der Sinn, daß vor allem deren Interessen, diejenigen der einzelnen Individuen, das Bestimmende für die notwendig kommende Entwicklung ist, daß der Weg zur Lösung von „Unten“ her seinen Ausgang und Fortgang nimmt. Wenn auch stets nicht geradeunzutreffend das Rodbertus'sche System durch den ersteren Gesichtspunkt charakterisiert wurde, so ist dabei doch der entgegengesetzte übersehen oder nicht genügend berücksichtigt worden, der während seines ganzen Lebens und Wirkens mehr oder weniger deutlich sich äußert und in seinen letzten Lebensjahren fast vorzuherrschen beginnt. Die Entschiedenheit und Klarheit, mit denen Rodbertus sowohl dem einen wie dem anderen Standpunkt Ausdruck verleiht, verbietet uns anzunehmen, daß der eine für ihn der feststehende ist, der andere nur ein gelegentliches unbewusstes Ausgleiten darstellt.

Und dann werden wir nicht einfach einen Widerspruch verzeichnen, sondern darin den Konflikt, in dem sich der Denker bewußt befand, erkennen. Rodbertus sieht einerseits aus den Tatsachen alles bisherigen gesellschaftlichen Geschehens, wie hier die individuellen Kräfte, der egoistische Trieb der vorwärtsdrängende und zukunftsbestimmende Faktor gewesen sind; die furchtbaren Blutungen aber, denen die Völker eben dadurch immer wieder ausgesetzt waren, heißen ihn die Forderung stellen, es sollen in Zukunft nicht ausschließlich die Einzelwillen sich ihr Recht erkämpfen, es solle vielmehr ein starker Gesamtwille weise vorausschauend den Teilen zur rechten Zeit ihr Recht gewähren. Das heißt aber auch, daß Rodbertus nicht, wie behauptet wird, an eine Besiegung der Einzel- durch den Gesamtwillen glauben, sondern daß er nur ihre Versöhnung erwarten und anstreben kann.

Rodbertus ist einerseits ein zu guter Kenner der Geschichte, um sich verhehlen zu können, daß alle soziale Entwicklung im Gesamtprozess derselben nicht gefördert wurde durch „das Recht in seiner gebenden und gewährenden Natur“, sondern stets seinen Hauptanstoß erhielt durch den entgegengesetzten egoistischen Bestandteil des Rechts, durch „das Recht in seiner fordernden, subjektiven Natur“. Denn die Hauptakte, der Entwicklung, so heißt es in seinen „Untersuchungen auf dem Gebiete der Nationalökonomie des klassischen Altertums“ 3), „wurden durch Revolutionen durchgeführt und zwar durch Revolutionen von unten, in denen sich gerade die fordernde Natur des Rechts auf das Ungestümste ausspricht“. Und diese Revolutionen von unten hatten stets einen negierenden, zerstörenden Charakter, mit alten Unfreiheiten fegten sie auch alte Kulturen hinweg, auf deren Trümmer erst die Gesellschaft eine Stufe höher hinaufklimmen durfte. Rodbertus hegt nun den Glauben, daß die Entwicklung des Rechts in unseren Tagen so weit gediehen ist, daß es nach oben und unten, nach Seiten des Staats und des Individuums, so weit Maß und Grenze gewonnen, daß die Hoffnung sich ihm in die Forderung wandelt, es solle die nunmehrige Entwicklung nicht mehr im Wege bloßer Negationen, sondern durch positive organische Maßnahmen sich vollziehen. Aber der Zweifel knüpft sich sofort an diese Forderung, und die Frage stellt sich immer wieder ein, ob schon der nächst bevorstehende soziale Entwicklungsakt, die Lösung der sozialen Frage, den vollendeten Geist des Rechts beweisen, oder ob sie nicht vielmehr wiederum erst das Resultat einer Revolution von unten sein wird 4), für die Rodbertus die Vorboten mit immer erschreckenderer Gewißheit eintreffen sieht. Und wenn ihm zuzeiten jener Glaube abhanden kommt, so ist er selbst bereit, diese Kräfte von „Unten“ anzurufen, und er bemüht sich nur, ihnen ihre Schärfe zu nehmen, indem er auch ihnen Pflichten gegen die Gesellschaft entgegenhält.

3) Hildebrands Jahrb. 1867 Bd. VIII S. 443.
4) Vergl. Rodbertus: Z. Geschichte d. röm. Tributsteuern seit Augustus a. a. 0. 443 f.

Diese beiden gegensätzlichen Ausgangspunkte bergen jenen Gegensatz in sich, den man, nicht ganz deutlich, mit Individualismus einer- und Sozialismus andererseits bezeichnet. Der eine sieht die Gesamtheit versagen und die Individuen, ihr Recht verlangend, auf dem Kampfplatze erscheinen, der andere geht umgekehrt von der Gesamtheit aus und will das Recht des Einzelnen durch das Interesse des Ganzen bestimmt und begrenzt sehen.

„Die soziale Frage ist eine Auseinandersetzungs-, keine Hunger-, keine Almosenfrage.“ 5) Solche Auseinandersetzungsfragen haben stets und aufeinanderfolgend, wenn auch nicht immer empfunden, die Gesellschaft begleitet. Sie sind nicht eine Art sozialer Erbsünde, sondern die Stufen, die zu einer höheren Entwickelung hinaufführen. Sie tritt jedesmal fordernd auf, und man kann sich ihrer Beantwortung nicht entziehen, wenn sie nicht zerstörend wirken soll. Die moderne soziale Frage ist die Auseinandersetzungsfrage zwischen Arbeit und Besitz, wie die ihr vorangehende eine solche zwischen Grund- und Kapitalbesitz war. Diese letztere hält Rodbertus bekanntlich noch nicht für ausgetragen, jedenfalls aber deren Lösung auf dem Boden des positiven Rechts für gesichert, weil sie die Grundlagen der Gesellschaft nicht berührt 6). Dagegen reicht der Gegensatz von Arbeit und Besitz „in die tiefsten Tiefen von Staat und Gesellschaft, bis mitten in die sozialen Grundlagen hinab und droht diese unsere Grundfesten wie ein Erdbeben zu erschüttern“. Es handelt sich heute um „die Auseinandersetzungsfrage der freigewordenen arbeitenden Klassen mit den freigemachten Grund- und Kapitaleigentümern“ 7). Die solange in Schranken gehaltene Arbeit erscheint, ihrer Fesseln ledig, auf dem Plane und fordert den ihr gebührenden Hauptanteil an den von ihr produzierten wirtschaftlichen Gütern. Sie geht über die Grenzen des positiven Rechts hinaus und will das Gesetzgebungsgebiet weiter als je zuvor abgesteckt wissen, oder sie besteht „auf den blutigen Ausgang eines Gottesgerichts“.

5) Vergl. Aus d. lit. Nachlaß III S. 272.

6) Wie bekannt, sieht Rodbertus eine Anomalie darin, daß der Grund und Boden als Kapital behandelt wird, während er nur die Eigenschaft hat Rentenfonds zu sein; die Kapitalisation der Grundrente begründe eine überaus schädliche Herrschaft des Kapitals über den Gründbesitz. Er fordert die Einführung des „Rentenprinzips“, welches den landwirtschaftlichen Grundbesitz bei allen ihn betreffenden Rechtsgeschäften, welche zu einer Verschuldung Anlaß geben, als das, was er in Wirklichkeit ist, als immerwährenden Rentenfonds, zu behandeln hat. (Vergl. „Zur Erkl. u. Abhilfe d. Kreditnot d. Grundbesitzer“.)

7)Aus d. lit. Nachlaß III S. 277.

Ob nun eine solche Fassung des heutigen sozialen Problems als ausgeprägt antiindividualistisch bezeichnet werden kann, möchte wohl mit Recht bezweifelt werden. Das Eine steht allerdings unzweifelhaft fest, daß die Rodbertus'sche Lehre mit unter diejenigen Systeme einzureihen ist, die in erklärtem Gegensatze zu den Theorien des sog. „Liberalismus und Individualismus“ entstanden sind. Dem falschen, Individualismus, der zwar die Unabhängigkeit des Individualwillens vom gesellschaftlichen Willen fordert, dafür aber tatsächlich eine Abhängigkeit der individuellen Willen von andern individuellen Willen herbeiführt, diesem falschen Individualismus stellt Rodbertus die „Freiheit“ gegenüber, die sowohl den Individual-, wie den gesellschaftlichen Willen mitzubilden hat 8). Die Erscheinungen der Wirklichkeit, die fortschreitend immer mehr sich komplizierten und gefahrdrohender wurden, standen in zu offenbarem Widerspruche mit den Versprechungen einer allgemeinen Harmonie der wirtschaftlichen Interessen, mit welchen die Theorie des Systems der freien Konkurrenz aufgetreten war, als daß sie nicht eine Revision jener Lehren hätte zur Folge haben müssen. Was nur für eine bestimmte Phase der Entwicklung, unter bestimmten Bedingungen Geltung beanspruchen durfte, das hatte begonnen mit dem Titel der Naturgesetzlichkeit sich zu brüsten. Diese Übertreibungen der Lehren der Meister der Nationalökonomie durch die Schüler, hatten zwar das Verdienst gehabt, daß sie schneller und gründlicher mit alten Unfreiheiten aufräumen halfen und einer neuen Entwickelung freie Bahn schufen; aber die gänzlich unhistorische, rein mechanische Auffassung des Gesellschafts- und Wirtschaftslebens, erzeugte ins wirkliche Leben übersetzt, Widersprüche, die eine Kritik herausforderten. In der Theorie mochten die Gedankenkonstruktionen über die „Natürlichkeit“ des Privateigentums, die ausgleichende Gerechtigkeit der freien Konkurrenz und das Überflüssigwerden des Staates infolge der sich „von selbst“ herstellenden Harmonie friedlich nebeneinander lagern, aber in der Praxis stießen die Dinge aufeinander und erzeugten so gewaltige Erschütterungen des Gesellschaftslebens, daß auf einen organischen Fehler innerhalb der Volkswirtschaft geschlossen werden mußte.9)

8 ) Rodbertus' vierter sozialer Brief an Kirchmann („Das Kapital“); aus dem liter. Nachlaß Bd. II S. 215, herausgeg. v. Ad. Wagner, Berlin, 1884.

9) I. soz. Brief S. 186 f.; d. Handelskrisen u. d. Hypothekennot d. Grundbes., Kl. Schriften, herausgeg. v. M. Wirth S. 232.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rodbertus Stellung zur sozialen Frage