Achtzehntes Kapitel - Die Trennung von Fräulein Vernon schmerzte mich tief, allein nicht so sehr, ...

Die Trennung von Fräulein Vernon schmerzte mich tief, allein nicht so sehr, daß nicht auch das Mißgeschick, welches meinem Vater drohte, meine Aufmerksamkeit beschäftigt hätte, und andrerseits bedrückten mich die erhaltenen Nachrichten weniger, weil sie nicht allein meine Seele erfüllten. Ich war weder ein treuloser Liebhaber noch ein gefühlloser Sohn, aber der Schmerz kann unsre Empfindung nur bis zu einem gewissen Grade erregen, und wenn zwei Veranlassungen denselben zugleich in Anspruch nehmen, wird der Anteil unter ihnen geteilt, wie die Summen bei dem Bankerott.

Sorgfältig dachte ich über den Inhalt des Briefes nach. Er war recht unklar gehalten, und ich wurde in mehreren Punkten an Owen verwiesen, den ich sobald als möglich in Glasgow aufsuchen sollte, wo ich ihn bei den Herren Macvittie, Macfin und Compagnie, Kaufleuten in dieser Stadt, erfragen könne. Es war Bezug genommen auf mehrere Briefe, die verloren oder unterschlagen sein mußten, und wurde über mein hartnäckiges Schweigen Klage geführt, was doch höchst ungerecht gewesen wäre, wenn meine Briefe ihr Ziel erreicht hätten. Ich war äußerst bestürzt. Nicht einen Augenblick konnte ich zweifeln, daß Rashleighs Geist mich umspukte und die Zweifel und Gefahren beschwor, die mich umringten; dennoch erwog ich mit Entsetzen, wieviel Büberei und Macht er zur Ausführung seiner Entwürfe aufgewendet haben müsse. In einer Hinsicht kann ich mir Gerechtigkeit widerfahren lassen; die Trennung von Fräulein Vernon, so sehr sie mich in andrer Beziehung und zu einer andern Zeit bekümmert hätte, trat in den Hintergrund, wenn ich der Gefahren dachte, die meinem Vater drohten.


Der Erfolg meiner Erwägungen war ein fester Entschluß, am nächsten Tage das Schloß zu verlassen und ohne Verzug Owen in Glasgow aufzusuchen. Ich hielt es nicht für ratsam, meinem Oheim diesen Vorsatz anders mitzuteilen, als durch einen Brief, worin ich ihm für seine Gastfreundschaft dankte, und ihm versicherte, daß eine dringende und wichtige Angelegenheit mich abhalte, persönlich meine Erkenntlichkeit zu bezeugen. Ich wußte, der schlichte alte Ritter werde mich leicht entschuldigen, und ich glaubte so fest an Rashleighs weit verbreitete, entschiedene Ränke, daß ich besorgte, wenn ich meine Abreise öffentlich bekannt machte, werde er Mittel finden, ein Unternehmen zu verhindern, das auf die Störung seiner Anschläge berechnet war.

Ich beschloß deshalb, mit Tagesanbruch mich zu entfernen, um das nahe Königreich Schottland zu erreichen, ehe ich im Schlosse vermißt wurde. Aber ein Umstand hätte mir leicht einen Strich durch die Rechnung machen können: ich kannte nämlich gar nicht den Weg nach Glasgow, und da in meinem Falle Beschleunigung von höchster Wichtigkeit war, so beschloß ich den Gärtner zu befragen, der mir die nächste und sicherste Auskunft geben konnte. So spät es war, machte ich mich wegen des wichtigen Punktes auf den Weg, und erreichte nach wenigen Minuten des Gärtners Wohnung.

Andreas' Behausung, nicht weit von der äußern Mauer des Gartens gelegen, war eine gemächliche northumbrische Hütte, von rauhen Steinen erbaut, und an Fenstern und Türen mit schweren steinernen Einfassungen geziert. Ein Birnbaum an der einen Seite, ein Bächlein an der andern, das Blumenbeet und der Küchengarten, der umzäunte Platz für eine Kuh, und das kleine Feld für den Hausbedarf, bezeichneten die Annehmlichkeiten, welche Alt-England, selbst an der nördlichsten Grenze, seinen geringsten Bewohnern zu teil werden ließ.

Ich fragte den alten Andreas, ob er mir den nächsten Weg nach der Stadt Glasgow in Schottland angeben könnte.

„Glasgow!“ wiederholte er. „Den Weg nach Glasgow wollt Ihr wissen? Warum sollt' ich ihn nicht kennen? – 's ist nicht weit von meinem eignen Kirchspiel Dreepdaily, das liegt ein bißchen mehr nach Abend. Aber was wollt Ihr in Glasgow?“

„Besondre Geschäfte.“

„Das heißt so viel, als: Fragt nicht, und ich lüg Euch nichts vor. – Nach Glasgow?“ er schwieg ein wenig – „Ich dächte, Ihr nähmet lieber einen Führer.“

„Freilich, wenn ich nur jemand dazu finden könnte.“

„Und Ihr gebt ohne Zweifel etwas für Versäumnis und Mühe?“

„Unstreitig. – Mein Geschäft ist dringend, und wenn Ihr einen Burschen schaffen könnt, der mich begleitet, so will ich ihn gut bezahlen.“

„Heut ist kein Tag, von weltlichen Sachen zu sprechen,“ sagte der Gärtner, die Augen zum Himmel hebend; „aber wenn es nicht Sonntagabend wär, möcht' ich Euch fragen, was Ihr der Person geben wollt, die Euch angenehme Gesellschaft leistet auf der Straße, und Euch die Namen der Schlösser und die Sitze der Herren und Edelleute nennt, und ihre Sippschaft Euch herrechnet?“

„Ich sag Euch, ich brauche nichts als den Weg zu wissen. Ich will den Menschen zu seiner Zufriedenheit bezahlen – ich geb' ihm alles, was billig ist.“

„Alles ist nichts,“ entgegnete er; „und dieser Bursche, von dem ich spreche, kennet die kürzesten Pfade und Nebenwege durch die Gebirge –“

„Ich habe keine Zeit, deshalb zu sprechen; macht den Handel für mich, wie Ihr wollt.“

„Aha! Das ist ein Wort zur Sache,“ versetzte Andreas.

„Ich denke, da es so ist, will ich selbst der Bursche sein, der Euch den Weg zeigen soll.“ „Ihr, Andreas? Wie könnt Ihr Euren Dienst verlassen?“

„Ich hab' Euch schon gesagt, Herr, daß ich lange habe abgehen wollen, wohl seit dem ersten Jahre, da ich hier bin, und nun soll's Ernst werden.“

„Ihr verlaßt also Euern Dienst? – werdet Ihr da nicht Euern Lohn verlieren?“

„Etwas wird freilich verloren gehen; aber da ich das Geld für die Aepfel im alten Baumgarten und dann das Geld für die Sämereien in Händen habe, so wird der Lohn wohl geziemend ausgeglichen sein – und wann wollt Ihr fort?“

„Mit Tagesanbruch.“

„Das ist etwas plötzlich – wo werd ich ein Pferd finden? – Halt, ich weiß gerade ein Tier, wie ichs brauche.“

„Also um fünf Uhr morgens treffen wir uns vor dem Hause.“

„Wenn ich raten sollte,“ erwiderte der Gärtner, „so brächen wir zwei Stunden früher auf. Ich kenne den Weg bei Tag und Nacht, so gut wie der blinde Ralph Ronaldson, der über jeden Sumpf im Lande wandert.“

Ich war mit seiner Abänderung sehr zufrieden, und wir wollten uns um drei Uhr an dem bestimmten Orte treffen. Auf einmal durchkreuzte ein Gedanke den Kopf meines künftigen Reisegefährten. „Was Gespenst! das Gespenst!“ rief er; „wenn das über uns käme? Ich mag nicht zweimal in vierundzwanzig Stunden mit solchen Dingen zusammenkommen.“

„Pah! Pah!“ rief ich und machte mich von ihm los; „fürchtet nichts von Wesen der nächsten Welt, – die Erde besitzt lebende Feinde genug, die ohne Beistand besser fertig werden können, als wenn Lucifer und all seine gefallenen Engel ihnen zu Hilfe kämen.“

Mit diesen Worten, die meine eigne Lage mir eingegeben hatte, verließ ich des Gärtners Wohnung und kehrte nach dem Schlosse zurück.

Ich traf die wenigen nötigen Vorbereitungen zur Reise, untersuchte und lud meine Pistolen und warf mich dann aufs Bett, um womöglich vor einer langen und unruhigen Reise eines kurzen Schlummers zu genießen. Erschöpft von den heftigen Bewegungen des Tages war die Natur gütiger gegen mich, als ich erwartete, und ich sank in einen tiefen Schlaf, aus welchem ich indes emporfuhr, als die Glocke auf dem Turme, nahe an meinem Zimmer, zwei schlug. Ich stand sogleich auf, schlug Licht an, schrieb den Brief, den ich meinem Oheim zurücklassen wollte, packte die nötigsten Sachen in meinen Mantelsack, ging die Treppen hinab und erreichte ohne Hindernis den Stall. Ohne im geringsten in Stallknechtsarbeiten so bewandert zu sein wie meine Vettern, hatte ich doch im Schlosse gelernt, mein eignes Pferd zu satteln und zu zäumen, und in wenig Minuten war ich zur Abreise bereit.

Als ich den alten Eingang, worauf das Licht des abnehmenden Mondes einen bleichen Schimmer warf, hinabritt, blickte ich mit einem tiefen Seufzer nach den Mauern zurück, wo Diana wohnte, und empfand aufs schmerzlichste, daß wir uns wahrscheinlich für immer getrennt hatten. Unter den langen und unregelmäßigen Reihen der gotischen Fenster, die jetzt geisterbleich im Mondschein blinkten, war es unmöglich, die des Zimmers zu entdecken, das sie bewohnte. Sie ist bereits für mich verloren, ehe ich den Ort ihres Aufenthalts verlassen habe. Wie könnte ich hoffen, eine Verbindung mit ihr zu unterhalten, wenn Meilen zwischen uns liegen?

Während ich in einer Träumerei von nicht sehr angenehmer Art verweilte, kündete die eiserne Zunge der Zeit dem trägen Ohre der Nacht an, daß es drei Uhr war, und erinnerte mich an die Notwendigkeit, mein Versprechen einem weniger anziehenden Wesen zu halten – dem Gärtner.

Beim Tore des Eingangs fand ich im Schatten der Mauer einen Reiter aufgestellt, aber erst nachdem ich zweimal gehustet, und dann „Andreas!“ gerufen hatte, erwiderte der Gartenbauer: „Ja, es ist Andreas!“

„Voran denn!“ sprach ich, „und schweigt, wenn Ihr könnt, bis wir durch das Dorf im Tale sind.“

Der Gärtner ritt demgemäß voran, und weit schneller, als ich es empfohlen hätte, und gehorchte auch meinem Gebot, zu schweigen, so genau, daß er auf die wiederholten Fragen nach dem Grunde dieser unnötigen Eile keine Antwort gab. Nachdem wir uns durch kürzere Pfade, die Andreas wußte, aus den vielen steinigen Wegen in der Nähe des Schlosses herausgefunden hatten, ritten wir rasch über eine offne Heide und kamen zu den nackten Hügeln, welche Schottland von England teilen und „die Mittelgrenzen“ genannt werden. Andreas verminderte nicht seine Eile, sondern trabte mannhaft fort. Ich war erstaunt und entrüstet über des Menschen Halsstarrigkeit; denn wir ritten hinab und hinauf über einen Boden von sehr halsbrechender Natur und kamen an Abgründen vorbei, wo ein Ausgleiten des Pferdes dem Reiter unfehlbar den Tod gebracht hätte. Der Mond gewährte nur ein flaches und unsichres Licht, und an einigen Stellen befanden wir uns unter dem Schatten der Gebirge in so gänzlicher Finsternis, daß nur der Hufschlag des Pferdes und die Funken, die es aus dem Felsen schlug, mir die Spur meines Begleiters verriet. Diese rasche Bewegung und die Aufmerksamkeit, welche ich, meiner eignen Sicherheit wegen, der Lenkung meines Pferdes zuwenden mußte, dienten anfangs, meine Seele gewaltsam von so vielen schmerzlichen Erwägungen abzulenken, die mich sonst erfüllt haben möchten. Endlich aber, nachdem ich dem Gärtner wiederholt zugerufen hatte, langsamer zu reiten, ward ich ernstlich aufgebracht über seine unverschämte Beharrlichkeit, mir weder zu gehorchen, noch zu antworten. Mein Zorn war indes ganz ohnmächtig. Ich versuchte es einige Male, ihn einzuholen, um ihn mit meiner Peitsche vom Pferde zu schlagen, allein er war besser beritten als ich, und entweder der Geist seines Rosses oder, wahrscheinlicher, einige Ahnung von meiner gütigen Absicht trieb ihn an, noch schneller zu reiten, so oft ich ihn einzuholen versuchte. Auf der andern Seite war ich genötigt, meine Sporen anzuwenden, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren; denn ohne seine Leitung konnte ich, wie ich nur zu gut einsah, nie den Weg durch die Wildnis finden, die wir jetzt in so ungewöhnlichem Trabe durchstrichen. Endlich war ich so aufgebracht, daß ich drohte, nach meinen Pistolen zu greifen, um diesem Heißsporn eine Kugel nachzuschicken. Diese Drohung machte sichtlich einigen Eindruck auf das Trommelfell seines Ohres, so taub er bei allen meinen mildern Vorstellungen gewesen war; denn er ritt langsamer und bemerkte, als ich ihm nahe war: „Man ist nicht recht klug, auf einem solchen verdammten Wege zu reiten.“

„Und warum bist Du so schnell geritten, Du Schurke?“ erwiderte ich in heftiger Aufregung.

„Was wollt Ihr, mein Herr?“ fragte Andreas mit unerschütterter Ernsthaftigkeit.

„Was ich will, Du Schelm? – Ich habe seit einer Stünde Dir zugerufen, langsamer zu reiten, und Du hast mir nicht einmal geantwortet. Bist Du trunken oder wahnsinnig?“

„Ich höre etwas schwer und will nicht leugnen, daß ich einen Schluck getan habe, ehe ich die alte Hütte verließ, wo ich so lange wohnte; und da ich niemand hatte, der mir zutrank, mußt' ich mir selber Bescheid tun oder den Rest des Branntweins den Papisten zurücklassen.“ Dies konnte wahr sein, aber da ich bei meiner Lage darauf angewiesen war, mich mit meinem Wegweiser auf gutem Fuße zu halten, so begnügte ich mich, ihm anzudeuten, künftig nach meinen Vorschriften die Art und Weise der Reise einzurichten. Dreister gemacht durch meinen milden Ton, stimmte er den seinigen hinauf, pedantisch und eingebildet, wie er sich meistens zeigte.

„Niemand wird mich überreden, daß es gesund und klug ist, in der Nachtluft über ein Moor zu gehen, ohne eine Herzstärkung von Nelkenwasser oder dergleichen vorher zu nehmen. Ich bin hundertmal über Otterscope-Rigg, bei Tag und bei Nacht, gewandert, und habe meinen Weg immer am besten gefunden, wenn ich meinen Morgenschluck im Magen und außerdem noch zwei Fäßchen Branntwein an jeder Seite hatte.“ –

„Mit andern Worten, Andreas, Ihr waret ein Schleichhändler.“

Daß ich mit dieser Vermutung recht hatte, stellte sich bei näherer Nachfrage heraus. Mir war dies deshalb wichtig, weil es mir seine Brauchbarkeit als Führer bewies. Selbst jetzt, obwohl gemäßigter trabend, schien doch der Frühtrank, oder was sonst auf des Gärtners Bewegungen wirkte, nicht ganz seinen Einfluß verloren zu haben. Er warf oft einen starren, ängstlichen Blick hinter sich, und so oft der Weg ebener schien, zeigte er Spuren des Verlangens, schneller zu reiten, als wenn er Verfolgung befürchte. Dieser Anschein von Besorgnis verminderte sich allmählich, als wir auf den Rücken einer Hügelreihe kamen, welche östlich und westlich weit fortlief, und auf beiden Seiten sich steil hinabsenkte. Die bleichen Strahlen des Mondes erleuchteten jetzt den Rand des Himmels, und als Andreas, rückwärts blickend, keine Gestalt eines menschlichen Wesens auf dem Moore sah, das wir hinter uns zurückgelassen hatten, erheiterten sich nach und nach seine rauhen Züge, er fing an zu pfeifen, klopfte den Hals des Pferdes, das ihn so wacker getragen, und als ich dadurch auf das Tier aufmerksam wurde, erkannte ich sogleich Thorncliffs Lieblingsroß. „Was ist das?“ sprach ich streng; „diese Stute gehört Junker Thorncliff!“

„Ich will nicht leugnen, daß sie dem Junker zu ihrer Zeit gehört hat, aber jetzt ist sie mein.“

„Du hast sie gestohlen, Schurke!“

„Nein, nein, Herr! Niemand kann mich des Diebstahls beschuldigen. Die Sache steht so, seht Ihr – Junker Thorncliff borgte mir zehn Pfund ab, als er zum Pferderennen nach York ging, und da ich mein Eigentum wieder verlangte, wollt' er mir nichts geben und sagte bloß, er wollte mir alle Knochen im Leibe zerschlagen. Nun habe ich mich an seinem Pferde schadlos gehalten. Wenn er mich nicht auf Heller und Pfennig bezahlt, kriegt er nie wieder ein Haar von seinem Schwanze zu sehen. Ich kenne einen Schreiber in Lochmaben, der mir zu einem Vergleich mit ihm helfen wird.“

Ich war höchst entrüstet über Andreas' Tat, beschloß indes, ihm das, Pferd, sobald wir das Ende unsrer Reise erreicht hätten, abzukaufen und es Thorncliff zurückzuschicken, was ich vorläufig meinem Oheim vom nächsten Postorte bekannt machen wollte. Mit Andreas unterdessen länger zu zanken, hielt ich für überflüssig.