Abschnitt 5

Robin Hood


In atemloser Spannung folgten die Augen der Zuschauer dem schwirrenden Geschoß. Es traf genau in den Mittelpunkt, schwankte einen Augenblick hin und her und stand wie ein stolzer Sieger.


Der Mitbewerber wußte, daß damit seine Aussicht, ins Ziel zu treffen, dahin war. „Man hätte einen hergelaufenen Bettler nicht zum Wettkampf ehrenhafter Männer zulassen sollen“, knurrte er verächtlich und trat beiseite. Ringsum wurden höhnische Stimmen laut, Jubelschreie für den Sieger. Nur mit Unwillen erklärte der Herold den Bettler zum Sieger. „Du sollst vor der Laube erscheinen“, sagte er unfreundlich. „Prinz Johann selber will dich kennenlernen.“

Für Robin Hood war es niemals zweifelhaft gewesen, wer den Siegespreis davontragen werde. Trotzdem schwoll ihm das Herz vor Freude; denn nicht nur der Erfolg, auch das Abenteuerglück wog alles auf.

Während er, von der Menge bestaunt, zur Laube des Prinzen hinüberging, ließ er die Blicke über den Platz schweifen. Da plötzlich stutzte er: Ringsum zwischen den Zuschauern gewahrte er zu seiner Überraschung die Gesichter seiner verwegenen Gesellen – da hatten sie sich doch in die Stadt gewagt, die treuen Freunde, um ihm in der Stunde der Gefahr zur Seite zu stehen! Alle waren verkleidet; aber Robin erkannte sie in ihren Altweiberröcken und Bauernmänteln, in den Mönchskutten und Fuhrmannskitteln.

Da packte den Freiheitskämpfer wieder die verwegene Abenteuerlust: Heute wollte er einen Streich wagen, den der Sheriff sein Lebtag nicht vergessen sollte!

Herr de Lacy hatte gedacht, seinen Feind in eine Falle zu locken, als er das Wettschießen verkünden ließ, und nun fühlte er sich enttäuscht, daß Robin es nicht gewagt hatte zu erscheinen. Mehrfach hatte der Sheriff die Gestalt des Bettlers gemustert. Sollte er etwa der Gesuchte sein? Aber nein, so sah Robin Hood nicht aus.

Jetzt stand der Freiheitsheld vor dem verhaßten Mann. Gleichgültig blickte er an ihm vorbei. Den Kopf etwas gesenkt und in kraftloser Haltung. „Du hast den Wettkampf gewonnen“, begann der Sheriff, und aus seiner Stimme war deutlich zu spüren, wie ungern er diesem zerlumpten Strauchdieb die Anerkennung aussprach. „So empfange nun den Siegespreis; doch zuvor muß ich dich auffordern, uns deinen Namen zu nennen!“

„Was tut er zur Sache, Herr“, versetzte der Bettler mit krächzender Stimme. „Was kann Euch hochgeborenen Herrn ein armer, namenloser Waldläufer kümmern, der...“

„Nenne uns deinen Namen“, unterbrach ihn der Sheriff ungehalten, „so wie es Brauch ist unter ehrbaren Menschen...“ Er stutzte voller Entsetzen, denn was nun geschah, mußte ihm den Atem rauben.

„Ja, Ritter de Lacy, so hört meinen Namen und seht, wer ich bin!“ schrie der Zerlumpte wild auf. Aus der zusammengesunkenen Gestalt des kraftlosen Bettlers wurde pIötzlich ein aufrechter, starker Mann, die Bettlerlumpen flogen beiseite, und vor dem Sheriff stand, in waldgrünes Wams gekleidet, der Mann, den er haßte und den er fürchtete...

„Robin Hood!“ rief er stammelnd.

„Nicht schwer zu erraten“, lachte Robin unbekümmert, sprang auf das Podest vor der Laube und hob sein Schwert. „Freiheit!“ schrie er wild über die Menge hin. „Tod den Zwingherren!“

Ein ungeheures Getümmel erfüllte sekundenschnell den Platz. Robin drang auf den verhaßten Gegner ein, doch der wich seinem Schwertstoß aus. Ehe die Häscher des Sheriffs zupacken konnten, hatten sich Robins tollkühne Gesellen dazwischengedrängt. Entsetzt wichen Ritter de Lacys Männer zurück, als sie urplötzlich unter vielfacher Vermummung einen Haufen wildentschlossener Männer im grünen Gewand der Freiheitskämpfer auftauchen sahen.

In dem allgemeinen Tumult kämpften diese sich durch die dichtgedrängte Menge. Immer mehr waren es von den Leuten der Stadtbevölkerung, die mit unterdrückter Freude Robins verwegene Tat bewunderten. Schwerfällig schoben und drängten sie sich dazwischen, wenn die normannischen Knechte auf die Grünröcke eindrangen, und sicherten diesen so den Rückzug.

Nun hatte Robin Hood das Stadttor erreicht. Mit grimmigem Lachen schwang er sich auf die Mauerkuppe und stieß in sein Horn, daß es weit über die Stadt hin und über die Burg ertönte,“An diesen Tag wird der Sheriff noch lange denken“, rief er den Gesellen zu; dann verschwand er mit ihnen jenseits der Stadtmauer und führte sie zurück in den Sherwood–Wald.

Wie zum Hohn klang noch lange Robins Horn zur Stadt hinüber.

Wenige Tage später trat die Königinmutter in das Zimmer des Prinzen Johann.

„Gute Kunde, mein Sohn, hat mich soeben erreicht. Richard sitzt in Verhaft in der Feste Dürnstein im Österreichischen, doch der Bote meldet, daß wir ihn durch ein Lösegeld freikaufen können...“

Prinz Johann tat erfreut – und wußte doch, daß mit der Rückkehr König Richards sein Los besiegelt war.

„Wir müssen das Volk zu einer Spende aufrufen, doch schwer wird es sein, den hohen Betrag aufzubringen, denn Robin Hood hat das Land ausgeplündert!“

Jeder wußte, wie lügnerisch seine Behauptung war. In Wirklichkeit war der Prinz glücklich, Geld in den Kasten fließen zu sehen, denn schon hatte er einen heimtückischen Plan, der König Richard für alle Zeit die Heimkehr verwehren würde: er wollte die Spende des Volkes in seine eigene Schatzkammer führen – ein zweites Mal würde das ausgepreßte Volk den Betrag nicht aufbringen können.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robin Hood