Abschnitt 1

Robin Hood


Wer von der Höhe der Zinnen von Nottingham, der festen Stadt, herabblickt, erkennt in der Ferne einen dunkelgrünen Waldstreifen. Das ist der Sherwood, der sich weit durch das englische Land zieht. Dort lebte zur Zeit des Königs Richard, den alles Volk wegen seines hochgemuten, tapferen Wesens „Löwenherz“ nannte, als Waldvogt Herr Hugh Fitzooth von Locksley. Er war ein Nachfahre der angelsächsischen Geschlechter, die einst mit ihren Drachenschiffen zur britischen Insel gestoßen waren und dort seither als Freisassen gelebt hatten. Als dann vor drei Menschenaltern die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer das Inselreich in ihre Gewalt gebracht hatten, waren die angestammten Sachsen gezwungen, sich der Befehlsgewalt der Normannen zu beugen, aber deren Herrschaft war verständnisvoll und milde gewesen, solange Richard Löwenherz sie ausübte. Er war gerecht und großherzig, und darum liebten ihn auch die Sachsen. Keiner der königlichen Statthalter, der Grafen und Barone, mißbrauchte seine Gewalt, denn sie sahen sich von dem rechtlich denkenden König Richard überwacht. Das wußten die Sachsen dem Normannenkönig zu danken, und besonders hatte er ihre Zuneigung gewonnen, seit er ihnen die alten Rechte – vor allem das Jagdrecht – wiedergegeben hatte.


Doch nun war König Richard außer Landes, er machte einen Kreuzzug in das Heilige Land, um das Grab des Erlösers vor dem Zugriff der „Ungläubigen“ zu schützen. Als Stellvertreter hatte er seinen Bruder, den Prinzen Johann, eingesetzt und ihm die Regentschaft übertragen.

Der Prinz – das Volk nannte ihn verächtlich ,„Johann–ohne–Land“ – war ein schlechter Sachwalter des Willens seines königlichen Bruders. In seinem Haß gegen die heimatstolzen Sachsen, die sich nicht der Fremdherrschaft beugen wollten, schrak Johann nicht davor zurück, ihnen angestammte Rechte zu versagen. Leichtfertig setzte er sich darüber hinweg, daß König Richard ihnen das altüberlieferte Recht zu jagen ausdrücklich zugestanden hatte, und er verbot ihnen die Jagd; der hartherzige Prinz wußte genau, daß ein Sachse ohne sie nicht leben kann.

Seit Johanns neue Gesetze galten, hatte Hugh von Locksley sein Amt als königlicher Waldvogt verloren. Er mußte sich darüber im klaren sein, daß die Vögte des Prinzen Johann jede Übertretung des Verbots mit unnachsichtiger Härte ahnden würden, denn der Prinz hatte ihnen eingeschärft, notfalls jeden Trotz mit Gewalt zu brechen.

In bitterer Unzufriedenheit hauste der sächsische Edeling mit Frau und Kind, seinem Sohn Robert, den sie Robin nannten, in seiner festen Burg am Rande des riesigen Waldes. Der Sherwood war seine Welt, von den Vorfahren ererbt, und er war von Jugend auf gewohnt, hier zu jagen – nun war ihm durch Prinz Johanns ungerechtes Verbot alles Lebensglück zerstört.

Wie König Richard seinen Grafen und Baranen milde und gerechte Verwaltung befahl und diese überwachte, so betrieb Prinz Johann mit aller Strenge die Durchführung seiner neuen Befehle. In der festen Stadt Nottingham hatte er als seinen Vogt den Grafen de Lacy eingesetzt, einen grimmigen, hartherzigen Mann, der wie sein Herr die Sachsen haßte. Er mißtraute dem Gehorsam des Waldvogts von Locksley, und heimlich ließ er Herrn Hugh Fitzooth überwachen – er hoffte, man werde ihn bei einer gesetzeswidrigen Handlung überraschen und dann strenger Strafe zuführen können.

Die Mutter wollte, daß der Sohn Geistlicher würde, doch für den standesstolzen Edeling gab es keine Frage, daß Robin im Walde lebte wie er. „Jäger will ich werden wie der Vater“, sagte auch Robin selbstbewußt, „und unserm König Richard, wenngleich er Normanne ist, will ich dienen, denn er ist ein guter König, und ich will mit ihm hinausziehen und große Taten vollbringen.“

Der Vater wußte, was ein sächsischer Edeling an Waffenkunst beherrschen muß. Von ihm lernte Robin die Kunst, mit dem Wolfsspieß zu werfen, vom Vater lernte er die Kunst des Bogenschießens, in der Herr Hugh Fitzooth Meister war, und der Vater nahm ihn in harte Lehre, um ihn im Stockfechten zu unterweisen. Später sollte an die Stelle des schweren Eichenknüppels das Sachsenschwert treten.

Harte Tage, harte Wochen waren es für Robin, so hart, daß mancher Jüngling vielleicht den Wunsch der Mutter erwägen würde, Bücher zu lesen, um Geistlicher zu werden.

Nicht so Robin. Wenn er abends mit lahmen Gliedern und zerschundenen Knochen auf sein Lager sank, dann dachte er nicht zurück, sondern nur vorwärts: Wie hätte ich dem Schlag besser ausweichen können, wie treffe ich des Vaters Stock härter, um ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen.

Bald war Robin Hood, erst sechzehn Jahre alt, unübertrefflich im Stockfechten, im Werfen mit dem Wolfsspieß, im Bogenschießen.

Graf de Lacy, der Sheriff des Landes, hatte in seiner Stadt Nottingham ein Wettschießen mit dem Bogen angesagt. Nur widerwillig war Herr Hugh der Aufforderung gefolgt. Robin begleitete den Vater. Die beiden wußten nicht von der Absicht des Sheriffs: mit einer Niederlage in dem Preisschießen wollte er ihr Ansehen herabsetzen. Er war fest überzeugt, daß Red Gill, der Führer seiner Leibgarde, den Wettkampf gewinnen werde.

Die Zuschauer beim Wettschießen jubelten laut, als die Besten sich zur Entscheidung stellten. Immer weiter hatte man die Scheibe abgerückt, immer mehr der Bewerber waren ausgefallen. In der Ehrenlaube saß Prinz Johann. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, das Festspiel zu besuchen.

Nun standen, wie vorausgesehen. nur noch drei der Besten auf dem Platze. Es war Gill, der Rothaarige, es war Hugh Fitzooth, der sächsische Freisaß, es war Robin, sein Sohn.

Der Herold trat in die Schranken: Die Scheibe wurde jetzt auf hundert Schritt Entfernung gerückt. Es ging um die letzte Entscheidung.

„Den ersten Schuß hat Red Gill!“ Laut klang des Herolds Stimme über den Platz.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robin Hood