9. Nach dem Goldland

9. Nach dem Goldland.

Der schwere Bergenfahrer, riesig in seinen Ausmaßen, ein neues, tüchtiges Schiff mit guter Besatzung und moderner Ausrüstung, hatte einen beträchtlichen Teil seiner Reise bereits zurückgelegt und war ohne Zwischenfall bis in die Grenzgewässer des Stillen Ozeans gelangt. Kap Hörn kam in Sicht.


Robert stand am Großmast und bewunderte das Schauspiel, das sich im Licht der sinkenden Sonne seinen Augen bot. Während er Ähnliches und noch Großartigeres in Norwegen häufig gesehen hatte, waren ihm doch diese Klippenbildungen ganz neu.

Steil und senkrecht, schwarz und vollkommen nackt, ohne eine einzige lebende Pflanze, erhob sich der über fünfhundert Meter hohe Berg aus dem Meer und ragte mit seinem dunklen Gipfel fast bis in die blau und violett umsäumten Wolken hinein. Als letzter Ausläufer der Kordilleren bildete das Vorgebirge gewissermaßen einen Wall gegen den dauernden Anprall der Meeresbrandung.

In weitem Bogen glitt das Schiff daran vorüber und vermied den rasenden Strudel, wo weiße Wellenköpfe mit Kronen von Schaum, urweltlichen Fabelgeschöpfen gleich, den Felsen stürmten, daran zerstäubten und wieder zurücksanken in die blaue Unendlichkeit, aus der sie entstanden. Bei jedem Windstoß aufspringend, eine die andere überrollend, furchtbare, bergestiefe Täler bildend und wie hohe, unübersteigbare Mauern sich türmend, so glichen die Wogen einem Heer gewappneter Krieger, die sich immer neu ergänzen, der eine aus dem Blut des anderen, unbesiegbar und unerschöpflich.

Über dem Gipfel des Berges lag es blaugrau, die Luft war verhältnismäßig kalt und neblig, alles Zeichen, daß noch vor Einbruch der Nacht ein Sturm zu erwarten sei und daß die notwendigsten Maßnahmen dafür getroffen werden mußten. Robert war jetzt schon erfahrener Seemann genug, um dies selbständig überblicken zu können, er arbeitete eifrig an der Sicherung der Boote, der Ersatzspieren und der Kanone auf dem Vorderdeck, er kletterte wie ein Seiltänzer hin und her, um die Taue zu spannen, zwischen denen es den Matrosen allein möglich ist, während eines heftigen Sturmes auf den Füßen zu bleiben.

Die Segel wurden gerefft, die leichten ganz weggenommen, und an allen Bändseln Musterung gehalten, mit einem Wort, überall nachgesehen, ob das Schiff für den bevorstehenden Sturm gerüstet sei. Der Obersteuermann ging prüfend von einer Seite zur anderen.

„Jetzt kommt's bald“, sagte er halb zu sich.

Robert, dessen liebenswürdige Dreistigkeit ihm überall solche kleinen Freiheiten sicherte, die sich im Leben nur der ungestraft erlauben darf, der das Vertrauen seiner Vorgesetzten im hohen Maße besitzt und von dem man weiß, daß er eine bestimmte Grenze nie überschreiten würde, – Robert sah sich um. „Woran erkennen Sie das, Steuermann?“ fragte er lebhaft.

Der Amerikaner spuckte seinen Tabak ins Meer und schob ein frisches Priemchen zwischen die Zähne. Dann deutete er mit der Rechten über das Wasser. „Siehst du diesen schillernden, bald grünlichen, bald weißen Streifen, der wie ein flatterndes Band auf der Oberfläche des Meeres liegt? – Nun, das ist ein Vorbote.“

„Aber die Luft scheint doch noch ganz ruhig zu sein, Steuermann?“

Der Alte nickte. „Scheint nur, Bob! Wirst bald das Konzert beginnen hören.“

Und so kam es wirklich. Die Nacht war hereingebrochen, tiefe Dunkelheit lag um das Schiff, am Himmel glänzte kein Stern und durch die Takelage fuhr ein unheimliches Ächzen. Immer furchtbarer heulte und tobte die Brandung am Felsen, immer stärker wurden die Windstöße und höher die Wogenkämme. Der Schaumstreif hatte sich mit unheimlicher Geschwindigkeit in ganze Berge von Schaum verwandelt.

Der Kapitän, in Ölrock und Südwester, erschien an Deck. Bei den Marsfallen und Brassen standen die vom Obersteuermann dorthin beorderten Leute, auch das Großsegel war eingezogen worden und auf dem ganzen Schiff alles fertig, um den schlimmen Gast zu empfangen. Wildes Heulen durchbebte die Luft.

Der Kapitän rückte den Hut tiefer in den Nacken. „Laufen Marssegel!“ kommandierte er mit starker Stimme, und dann weiter: „Holt auf Luvbrassen, aus Refftaljen!“

Der Befehl wurde sofort ausgeführt, das Schiff legte sich fast flach auf die Seite und flog wie ein Blitz durch die kochende See. Da ertönte vom Steuerrad her durch die Nacht ein lauter Schrekkensruf. Der Kopf des Ruders war abgesprungen.

Einen Augenblick lang schien es, als könne das Schiff dem Druck des Windes nicht widerstehen, die Brassen spannten sich, zerplatzten mit lautem, donnerähnlichem Knall und wurden im nächsten Augenblick vom Sturm entführt.

Das Schiff konnte in jeder Sekunde von der Brandung erfaßt werden.

Der Kapitän war ohne Zweifel kein besonnener Mensch. Er ließ es erst zum Äußersten kommen, ehe er das letzte, gefährliche Manöver versuchte, – dann endlich entschloß er sich.

Keine Stimme hätte das Brausen des Sturms durchdringen können. Nur Zeichen waren möglich, und auf diese hin versammelten sich alle Matrosen um den Kreuzmast. Dort mußten die noch vorhandenen Segel geborgen werden, oder das Schiff war rettungslos verloren.

Im Logis war niemand mehr. Jeder hatte ungerufen seine Koje verlassen, um da zu sein, wenn Not an den Mann kam. Die Leute wurden gut behandelt, erhielten reichliche Rationen und täglich Branntwein, daher waren sie zur Stelle, wo es darauf ankam, Tüchtigkeit zu zeigen.

Das Kreuzsegel konnte zwar nicht gerettet werden, sondern flog wie ein Fetzen Papier im Sturm den vorangegangenen nach, aber der Zweck des Unternehmens war doch erreicht. Der „Stern von San Franzisko“ richtete sich langsam aus seiner gefährlichen Lage auf, die Zimmerleute konnten das Ruder ausbessern, und das Schiff kam allmählich vor den Wind. Die größte, hauptsächlich durch die Unschlüssigkeit des Kapitäns entstandene Gefahr schien beseitigt, obwohl der Sturm noch immer weitertobte und jeder Mann an Deck bleiben mußte, um für alle Fälle zur Hand zu sein.

„Hast du nun gesehen, wie schnell die Geschichte geht?“ fragte der Obersteuermann, nachdem er mit dem Taschentuch das Gesicht abgetrocknet und ein neues Stück Kautabak in den Mund gesteckt hatte. „Ich sagte dir's ja.“

Robert lachte. „Das war zur Feier meines Geburtstages, Steuermann. Hätte mir wirklich nichts Schöneres denken können, als so einen tüchtigen Sturm, der das Blut in Bewegung bringt.“

„Mit achtzehn Jahren!“ brummte der Alte, halb verdrossen, halb angenehm berührt, wie alle, die mit Roberts frischer und gesunder Natürlichkeit in Berührung kamen. „Na, wenn dein Geburtstag ist, so sollst du auch später eine Extraration haben.“

Robert wandte sich zu dem hinter ihm stehenden Neger. „Und du sollst sie trinken, Mongo!“ sagte er. „Das war wieder einmal ein kleines Abenteuer, was?“

In diesem Augenblick tönte durch die Nacht ein Kanonenschuß aus ziemlicher Nähe herüber. Alle horchten auf, wie von einem elektrischen Schlag getroffen, alle blickten unwillkürlich in die Richtung des Schalles, obgleich die herrschende Finsternis jedes Sehen unmöglich machte.

Ein Schiff in Seenot! – –

Jetzt folgte deutlich ein zweiter Schuß.

Der Obersteuermann war der erste, der die Sachlage erfaßt hatte. „Das Schiff treibt uns steuerlos mit dem Wind entgegen“, sagte er. „Der zweite Schuß klang bedeutend näher, und – Achtung! – dieser noch viel mehr.“

„Steuermann!“ rief unruhig der Kapitän, „ist es nicht, als wäre das fremde Schiff genau in unserem Fahrwasser? – Wir laufen Gefahr, zusammenzustoßen.“

„Das verhüte Gott, Sir!“ –

Und dann brachten seine ruhigen Kommandoworte den „Stern von San Franzisko“ weiter ins Meer hinaus, so daß er gegen den Wind aufkreuzte. Die Kanonenschüsse kamen jetzt immer schneller hintereinander, und endlich, nachdem sich der Sturm bedeutend gelegt hatte, wurde auch auf dem Bergenfahrer ein Schuß abgefeuert, um eine Antwort zu geben.

Ein hundertstimmiger Freudenschrei hallte, alle Herzen erschütternd, über das Meer. Robert ergriff in heftiger Bewegung den Arm des Obersteuermanns.

„Wir müssen helfen, Sir, wir müssen die Boote aussetzen!“ rief er.

„Alles zu seiner Zeit, du Grünschnabel. Wolltest du etwa mir nichts, dir nichts, in diese Dunkelheit hinausstürmen, vielleicht an dem bedrohten Schiff vorbei, vielleicht direkt unter seinen Bug, so daß du übersegelt wärest, ehe sich der Teufel die Schuhe putzt? – Laß nur erst einmal die Leuchtkugeln ihre Schuldigkeit tun.“

Robert schämte sich seiner Übereilung. Immer mußten ihn besonnenere Menschen wie ein kleines Kind zurückhalten. Er schwieg deshalb und wartete ab, was folgen werde.

Der Steuermann sollte wieder recht behalten. Nach wenigen Minuten schon entfaltete sich ein wundervolles, großartiges Schauspiel. Aus der dunklen Umgebung des Meeres stiegen farbige, meist pupurrote Leuchtkugeln auf, die in ununterbrochener Reihenfolge einen Schauplatz furchtbarer Verheerung mit ihrem Schein überfluteten.

Ohne Masten und ohne Quarterdeck lag ein Schiff fast bis zur Höhe seiner Schanzkleidung unter Wasser, in nächster Nähe des Bergenfahrers. Es trieb kaum noch, weil der Wind keinen Widerstand mehr fand, aber es wurde auch nur noch durch die verzweifelten Anstrengungen der Besatzung etwa einem Meter über Wasser gehalten. Rastlos arbeiteten die Matrosen an den Pumpen, rastlos folgten die Leuchtkugeln aufeinander und überschütteten mit einem Feuerregen das nächtliche dunkle Meer.

Es war ein zauberhaft schöner Anblick, die Brandung am Fuße des Vorgebirges, von farbigen Lichtern angestrahlt, hier purpurn, dort azurblau und dann tiefviolett, – aber niemand fand Zeit oder Ruhe, um sich diesem Schauspiel hinzugeben. Das bedrängte Schiff nahm die Aufmerksamkeit aller viel zu sehr in Anspruch.

Der unschlüssige Kapitän näherte sich mit fragendem Gesicht seinem Offizier. „Ein Auswandererschiff“, sagte er, „wo sollen wir alle diese Menschen unterbringen?“

Die Antwort war kurz und bezeichnend. „Wir werden sie nicht alle lebend an Bord bekommen, Sir!“

„Meinen Sie, Steuermann? Aber lassen Sie die Boote herunter, in jedes vier Mann. Ich glaube, das Wasser ist ruhig genug.“

Er verschwand in der Kajüte, und der Steuermann ließ sich zunächst von einem der Matrosen das Sprachrohr bringen. Dann fragte er an, ob man auf dem sinkenden Schiff noch Feuerwerkskörper genug habe, um den Rettungsmannschaften die nötige Beleuchtung zu leisten. Erst als diese Frage bejaht war, wurden die Boote zu Wasser gelassen.

Robert sprang allen voran gleich in das vorderste. Er wollte der erste bei der gefährlichen Rettungsarbeit sein und das schwerste dabei selbst tun. Der ›Stern von San Franzisko‹ lag jetzt back, und das fremde Schiff trieb kaum merklich in einiger Entfernung an seiner Seite.

Der Steuermann beobachtete beim Schein der Leuchtkugeln, daß es tiefer und tiefer sank, daß die pumpenden Matrosen mit der Hast der Verzweiflung arbeiteten. Ein stummes, leichtes Kopfschütteln, ein Seufzer deuteten darauf hin, daß es kaum möglich sein werden, alle Schiff brüchigen zu retten.

Die Boote wurden von den Wellen wie Nußschalen hin und her geworfen. Es verging eine volle Viertelstunde, bis es dem ersten gelang, an das sinkende Schiff heranzukommen. Jetzt ergab sich ein stummes, grauenhaftes Ringen. Während zwei Matrosen unter Auf bietung aller ihrer Kräfte bemüht waren, das Boot an der niederen Bordwand des Schiffes festzuhalten, wehrte der dritte die Unglücklichen ab, die sich, von Verzweiflung getrieben, fast kopfüber in das zur Rettung bereite Fahrzeug hineinstürzen wollten, und der vierte endlich nahm die zum Übersetzen bestimmten Schiffbrüchigen in Empfang. Ängstliche Rufe begleiteten das abstoßende Boot.

Und so wiederholte sich die gleiche Szene noch achtmal. Alle Männer arbeiteten, daß ihnen der Schweiß in Strömen vom Gesicht lief, sie kämpften mit heldenmütiger Ausdauer gegen Wind und Wellen, bezwangen die Erschöpfung ihrer Kräfte und widerstanden den Versuchen der Auswanderer, sich gewaltsam der Boote zu bemächtigen. Sie wurden alle von ihren Kameraden abgelöst, nur Robert nicht, – er ließ keine Müdigkeit an sich herankommen und gab nicht nach, bis die Rettungsversuche abgebrochen werden mußten.

Nur zu richtig sollte der Obersteuermann prophezeit haben. Etwa fünfzig Passagiere von dem sinkenden Schiff waren unter Gefahr und Anstrengung an Bord des ›Stern von San Franzisko‹ gebracht worden, während immer noch über zweihundert Menschen ungeduldig auf ihre Übernahme warteten. Im tiefsten Dunkel der Nacht, unter Klagen, Geschrei, flehentlichen Bitten und Verwünschungen vollzog sich das Rettungswerk.

Und dann kam das furchtbare Ende.

Die Matrosen an den Pumpen erkannten die Unmöglichkeit, das Wrack noch länger über Wasser zu halten. Sie berieten einen Augenblick lang untereinander, und dann versuchten sie schwimmend den kurzen Weg bis zu dem Bergenfahrer zurückzulegen. Mehr als einer ertrank, mehr als einer kam in der furchtbaren Brandung um, aber was bedeutete das Schicksal dieser einzelnen gegen alle die Unglücklichen, die noch an Bord waren. Zwanzig auf einmal stürzten sich die Männer an die Pumpen, obgleich keine irdische Macht imstande war, das Unglück aufzuhalten. Mit furchtbarer Schnelligkeit sank das Wrack, – nur noch eine Handbreit lag es über dem Wasser.

Ganz zuletzt noch drängte sich ein junger Mann an Roberts Boot heran. Bisher hatte er tapfer geholfen, die Frauen und Kinder voranzuschicken, hatte mit vernünftigen Worten die Andrängenden abgewehrt und allen Mut zugesprochen – jetzt dachte er an die eigene Rettung. „Laßt mich hinter eurem Boot schwimmen, Landsleute“, bat er, „ich will niemand einen Platz streitig machen, nur gebt mir ein Tau, daß ich in der Dunkelheit den Weg finde.“

Robert wurde aufmerksam. Schon vorher hatte er geglaubt, diese Stimme zu kennen, jetzt aber nur um so mehr. Er konnte in dem vollbesetzten, kaum seiner augenblicklichen Last gewachsenen Boot keinen einzigen Platz mehr vergeben, und doch ergriff ihn die bescheidene, im holsteinischen, heimatlichen Deutsch vorgebrachte Bitte des anderen. „Wirst du dich halten können?“ fragte er mitleidig. „Die See geht hoch, und dann – es sind Haifische hier!“

Der Fremde seufzte. „Fängt mich einer, so ist die Sache zu Ende“, sagte er. „Aber um meiner alten Eltern willen muß ich versuchen, durchzukommen. Nimm mich mit, Landsmann, ich bitte dich.“

Robert löste von seinem Körper den Ledergürtel, dessen eines Ende er am Bootsrand in einem Eisenring befestigte und den er kaum noch früh genug dem Fremden zuwerfen konnte, um ihn vor dem plötzlichen Sturz ins Meer zu bewahren.

Ein „ich danke dir, Landsmann!“ verhallte in den Schreckensäußerungen der nun folgenden Szene. Die Leuchtkugeln versagten in den feuchten Händen, Dunkelheit umgab das sinkende Schiff, und beinahe zweihundert Menschen gingen mit ihm jammernd und schreiend in die Tiefe.

Auf dem „Stern von San Franzisko“ begannen jetzt von neuem die Raketen und Leuchtkugeln ihren Dienst. Erst nachdem von seiten des untergegangenen Schiffes in dieser Beziehung nichts mehr getan wer den konnte, gab der vorsichtige Steuermann den Befehl, die Feuerwerkskörper an Deck zu holen und abzubrennen. Man besaß also wieder Licht, konnte hier und da noch Schwimmende auf den Wellen erkennen und ins Boot ziehen, um sie auf das überfüllte Schiff zu bringen.

Robert taumelte fast, als er seine letzte lebende Fracht abgesetzt hatte und andere Hände das Boot emporzogen. Er sah wie durch eine Art Schleier das Segelmanöver, durch das der „Stern von San Franzisko“ wieder vor den Wind gebracht wurde. Das Schiff verfolgte seinen Kurs, nachdem alles getan war, um dem Tod möglichst viele Opfer zu entreißen; es entfernte sich von der Unglücksstätte, Trümmer und Leichen in seinem Kielwasser zurücklassend. Jetzt ging es selbst einem unsicheren Schicksal entgegen, denn woher sollte man auf der noch bevorstehenden langen Reise Lebensmittel und Trinkwasser für die neuen Passagiere nehmen.

Als den Frauen und Kindern die Kajüte eingeräumt und die Männer im Logis und auf dem Vorderdeck so gut wie möglich untergebracht waren, als endlich jeder ohne Ausnahme eine Ration Grog erhalten hatte, suchte Robert im Schein der erwachenden Morgendämmerung unter allen diesen hingestreckten, teils schlafenden, teils dumpf vor sich hinbrütenden Gestalten den jungen Mann, den er zuletzt gerettet hatte.

So ohne jede Hoffnung, ohne irgendwelches Eigentum, dem Mitleid anderer überlassen, hatte ihn selbst das Schicksal zweimal an einen fremden Strand geworfen – er empfand jetzt wahres Mitgefühl für die armen Menschen, er freute sich der Möglichkeit, hier vielleicht wieder abtragen zu können, was ihm selbst in der Stunde der Not andere getan hatten, vor allem aber wollte er jetzt wissen, wer der junge Mann war und wo ihm seine Stimme schon einmal begegnet sei.

Die meisten Geretteten saßen aufrecht oder lagen mit gestütztem Kopf da, ihren traurigen Grübeleien hingegeben, teils leise weinend, teils zusammen flüsternd oder in starrer, trotziger Verzweiflung. Niemand hatte sein bißchen Eigentum gerettet, vielen dagegen waren ihre Angehörigen entrissen worden, viele hatten den liebsten Menschen, den sie auf Erden besaßen, vor sich sterben sehen müssen, ohne selbst irgend etwas zu seiner Rettung unternehmen zu können, und alle ohne Ausnahme sahen sich ihrer Barschaft, ihrer Papiere, ihrer letzten Aussicht auf weiteres Fortkommen im Goldland beraubt.

Wenn sie jetzt im Hafen von San Franzisko landeten, so waren sie Bettler, anstatt einer erträumten besseren Zukunft entgegen zu gehen. Kein Wunder also, daß nur wenige schlafen konnten, daß fast alle diese armen Leute mit starren Augen vor sich hinsahen, trostlos und erschüttert bis ins tiefste Herz.

Robert suchte, bis er endlich ganz hinten im Logis einen jungen Menschen bemerkte, der auf einer Seekiste saß und das Gesicht in der hohlen Hand verbarg. Der mußte es sein, Robert erkannte ihn an dem Anzug, den er schon in der Nacht gesehen hatte.

„Landsmann“, sagte er, die Rechte auf die Schulter des Fremden legend, „sei nicht so mutlos, Freund, mir ist es schon schlimmer ergangen als dir.“

Der Angeredete hob den Kopf und sah auf. Ein plötzliches Erstaunen, freudige Überraschung spiegelte sich in den Zügen der beiden jungen Leute.

„Gottlieb!“ stammelte Robert, „Gottlieb, du bist es!“

„Robert Kroll!“ rief der andere. „Ist es möglich? – Robert, der in ganz Pinneberg für tot gilt! Mein Gott, ich glaube zu träumen.“

Robert erschrak. „Gottlieb“, fragte er zögernd, als habe er vor etwas Angst, „Gottlieb, du kommst also aus unserer Heimat? Sprich, ich bitte dich, leben meine Eltern?“

Der junge Holsteiner nickte. „Sie leben beide, Robert, obwohl dein Vater seit deiner Flucht kränkelt. Er ist in sich gebrochen, der alte Mann.“

Robert wechselte die Farbe. Es war ihm, als schnüre ihm jemand die Kehle zusammen. „Kamen denn meine Briefe nicht in Pinneberg an?“ stammelte er endlich.

„Einer, Robert. Von New York aus, wie deine Mutter erzählte. Die Leute aber glaubten es nicht, weil so viel Abenteuerliches darin stand, und auch dein Vater wollte von dem Brief nichts wissen. ›Es muß erst ganz anders kommen‹, hat er gesagt, ›Robert muß als reuiger Mensch nach Hause zurückkehren und seine Mutter und mich auf den Knien um Verzeihung bitten, so gehört es sich nach Gottes Willen. Er ist von mir zum Schneider bestimmt, und wenn er nicht gehorchen will, so habe ich keinen Sohn. Der Brief bleibt unbeantwortet.‹“

Robert schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Immer noch der alte Starrsinn“, dachte er. „Oh, wie recht hatte ich, nicht ohne Mittel, die meine Selbständigkeit sichern, nach Pinneberg zurückkehren zu wollen. Um Verzeihung bitten werde ich den Vater, ja, aber Schneider werde ich nicht.“

Er dachte sich voll Trotz in diesen Entschluß hinein, aber dennoch tat es ihm weh, dennoch sah er immer im Geiste das Bild des alten Mannes, wie er krank und traurig dasaß. Gerade an seinem Geburtstag kam ihm auf so wunderbare Weise die ernste Mahnung an das, was er seinen Eltern getan hatte.

Die beiden jungen Leute schwiegen lange. Auch der Auswanderer, dem das Meer alles genommen hatte, stand ja an einem Wendepunkt seiner Zukunft, die jetzt aussichtsloser als je vor ihm lag.

„Wie kommt es, daß du Europa verlassen hast, Gottlieb?“ fragte endlich Robert, „und wohin willst du?“

Der junge Holsteiner seufzte tief. „Ich wollte nach Kalifornien, um Gold zu suchen, Robert“, antwortete er tonlos.

„Du? Und ich glaubte immer, daß dir dein Geschäft alles bedeute, daß du in deines Vaters Kundschaft hineinwachsen und für immer in Pinneberg bleiben wolltest. Du weißt doch noch, bei unseren Kriegs- und Räuberspielen im Gehölz machtest du meistens den Zuschauer, aber wenn wir einmal einen Laden errichteten oder bei den kleinen Mädchen in der Puppenwirtschaft zu Gast waren, so fühltest du dich in deinem Fahrwasser.“

Gottlieb nickte. „Du hast ganz richtig gesehen, Robert. Ich wäre glücklich gewesen, den kleinen Krämerladen meiner Eltern eines Tages auf eigene Rechnung übernehmen zu können, aber das Schicksal wollte es nicht. Wir brannten ab, als das Haus bis unter Dach mit unversicherten Waren voll war; mein alter Vater wurde schwer krank und erblindete gänzlich. Was sollte ich nun beginnen? Mit dem Gehalt als Gehilfe in anderer Stellung könnte ich die Eltern nicht ernähren, also mußte ich mein Glück anderwo suchen. Schon so viele vor mir hatten in den Goldminen Schätze gesammelt – ich wollte es auch. Aber jetzt – –“

Die innere Bewegung erstickte seine Stimme. Er fuhr mit der Hand über die Stirn, ehe er weitersprach. „Jetzt muß ich in San Franzisko eine Stelle als Hausknecht oder Kellner suchen“, fügte er endlich seufzend hinzu. „Es soll eben nicht sein, daß aus mir ein Goldgräber wird, – ich sehe es ja.“

„Du paßt sicherlich nicht dazu“, warf Robert ein.

„Das fühle ich selbst, aber ich muß eben, und ich werde es.“

Robert klopfte seinem Freund auf die Schulter. Er hatte schon längst beschlossen, ihm zu helfen. „Mach dir keine Sorgen, Gottlieb“, sagte er, „ich habe genug Geld, um dir helfen zu können. Fünfzig Dollar gibt es doch, wenn ich abmustere, und damit kommst du bequem ins Goldland.“

Gottlieb streckte gerührt die Hände aus. „Bist immer noch der alte Robert Kroll!“ rief er, „der sein Butterbrot teilte und für den schuldigen Kameraden die Tracht Prügel hinnahm, ohne ihn zu verraten. Gott segne dich!“

„Ach was, wollen wir nicht lieber gleich Tränen vergießen, du?“

Aber er umarmte doch in seiner ungestümen Art den so unerwartet gefundenen Freund, und unter seinen Wimpern schimmerte es feucht. Dann zwang er ihn, sich schlafen zu legen, und trat selbst die Morgenwache an, frisch und kräftig wie immer.

So hoch da oben in den Tauen, fast unterm Flaggenknopf, wo es heute viel zu tun gab, kamen ihm viele Gedanken, ernste und heitere. Er fühlte das Gewicht seiner Schuld tiefer und nahm sich vor, noch einmal, noch dringender und herzlicher den Vater um Verzeihung zu bitten. „Mag er im Unrecht sein“, dachte Robert, „ich muß ihm alles vergeben, weil er mein Vater ist, und muß ihm das Unrecht, das ich begangen habe, wieder abbitten. Bei der nächsten Reise werde ich Vollmatrose, dann gibt es bessere Heuer und dann kann ich umso leichter eine kleine Summe sparen, damit mir die Eltern nichts zu schenken brauchen. Mag der Vater unerbittlich bleiben, wenn ich zu ihm komme, ?? ich will es doch tun, denn ich würde es mir sonst ewig vorwerfen müssen.“

In der Kajüte des Kapitäns stand zur selben Zeit der Obersteuermann und sah mit ernster Miene seinem Vorgesetzten ins Auge. „Wir müssen, Herr Kapitän“, sagte er mit großer Entschiedenheit.

Mr. Barrow strich sich das Haar aus der Stirn, kratzte sich hinter den Ohren, wiegte den Kopf und war offenbar unschlüssiger als je. „Bis zur Insel Juan Fernandez könnten wir doch vielleicht kommen, Steuermann“, antwortete er endlich.

Der schüttelte den Kopf. „Ganz unmöglich, Sir.“

„Auch nicht, wenn die Rationen halbiert werden?“

„Auch dann nicht.“

„Verfluchte Geschichte! Wie soll ich das vor der Reederei verantworten?“

„Daß wir schiffbrüchige Menschen retteten, Sir? Kein Gericht der Welt kann Ihnen Strafe dafür zuerkennen.“

„Aber wenn dem Schiff in der Magelhaensstraße etwas zustößt? Niemand wählt den Weg durch diese Klippen.“

Der Obersteuermann zuckte die Achseln. „Entweder – Oder!“ antwortete er. „Wir haben eine Überzahl von sechzig Köpfen an Bord und müssen also folgerichtig in etwa acht Tagen ohne Wasser sein. Befehlen Sie, daß wir weitersegeln, so –“

„Nein, niemals, das wäre ja noch viel schlimmer. Aber daß mir das passieren mußte! Die erste Reise als Kapitän und gleich ein. Wagnis auf Leben und Tod.“

Der Steuermann schwieg. Was sein Vorgesetzter sagte, war vollkommen richtig, aber die vielen Klagen hätte er sich ersparen können.

„In Gottes Namen denn“, seufzte Mr. Barrow endlich. „Geben Sie die nötigen Befehle, daß wir in die westliche Durchfahrt der Magelhaensstraße einlaufen. Es wird ja gerade noch früh genug; sein.“

„Bis auf eine Stunde, Sir!“

Und der Steuermann betrat mit erleichtertem Herzen das Deck. Er mußte den jugendlichen Kapitän überall da, wo schnelle Entschlossenheit und geschulter Blick nötig waren, vollständig ins Schlepptau nehmen, das wußte er schon, aber es war ihm immer wieder gleich unangenehm. „Der wird sich noch wundern“, dachte er, „wenn jeden Tag die Kinder schreien, sooft er arbeiten will, und wenn diese zwanzig Frauen in der Kajüte ans Waschen kommen oder sich untereinander zanken. Na, auch die längste Fahrt hat ein Ende, und das Bewußtsein, sechzig Menschen vom Tode errettet zu haben, ist schon einige Unannehmlichkeiten wert.“

Er gab der Mannschaft die nötigen Befehle für den veränderten Kurs, und nachdem die Einfahrt in die Magelhaensstraße passiert war, ging es mit doppelter Kraft daran, alle die hundert kleinen Schäden der letzten Nacht wieder auszubessern. Das Deck war schmutzig und naß, die schöne weiße Ölfarbe mit den Spuren von hundert Füßen übersäet, die Wanten und Pardunen zum Teil zerrissen, die Türen ausgehängt, die Segel unordentlich verstreut, und die Kombüse, in der fortwährend gekocht worden war, in einer heillosen Verwirrung.

Während die jüngere Mannschaft, in den Pferden stehend, oben alle Hände voll zu tun hatte, mußten die älteren Leute an Deck arbeiten, so daß, als später Frauen und Kinder dazukamen, ein buntes Jahrmarktsbild daraus wurde. Es gehörte alle Geduld, alle Ruhe des erfahrenen Seemanns dazu, um hier eine erträgliche Ordnung wiederherzustellen.

Wer den beschränkten Raum auf Handelsschiffen kennt, der wird sich die Schwierigkeiten bei der Unterbringung von sechzig Menschen leicht vorstellen können.

Kajüte, Vorraum, Wandschränke, ja selbst der Gang hinter der Kajüte, jeder Zentimeter Boden war mit altem Segeltuch und Decken belegt, um über vierzig Menschen, Frauen und Kindern, als Schlafstelle zu dienen. Das kleine Völkchen ergoß sich jetzt wie ein Bienenschwarm auf das Deck, und angstvolle Mütter liefen schreiend hinterher, mit einem Wort, es war eine heillose Verwirrung. Zudem sprach die Mannschaft englisch, und die Schiffbrüchigen bestanden sämtlich aus Deutschen, so daß an eine wirkliche Verständigung gar nicht gedacht werden konnte und daß Robert fast nichts anderes mehr tat, als Übersetzen und Befehle vermitteln.

Der Kapitän saß in seiner kleinen Schiffskajüte wie ein gefangener Löwe im Käfig, und sooft eins der Kinder neugierig die Tür öffnete, fuhr es erschreckt vor dem finsteren Gesicht zurück, das ihm entgegenblickte. Es war aber auch wirklich zum Haarausreißen, wie Mr. Barrow meinte, man konnte keinen Fuß mehr vor den andern setzen, konnte sein eigenes Wort nicht verstehen und nirgends zu seinem Recht gelangen.

Zum Glück blieb das Wetter freundlich, so daß über das Quarterdeck ein Sonnensegel gespannt und den Frauen befohlen wurde, sich während des Tages dort aufzuhalten. Die Schiffsjungen mußten dauernd putzen und scheuern, die Kinder blieben auf bestimmte Grenzen angewiesen, und alles ging, nachdem es zur Gewohnheit geworden war, leidlich, nur des Steuermanns Stirn umwölkte sich mehr und mehr, je schneller er den Fleischfässern und den Brotkisten auf den Grund sah.

Was half aber alles Sträuben? Die Decksluken mußten geöffnet und ein Teil der aus getrocknetem Kabeljau bestehenden Ladung angegriffen werden. Alle diese Hungrigen wollten ja leben.

Robert diente als Vermittler, als Adjutant und Dolmetscher. Er schloß während dieser Zeit eine neue und tiefere Freundschaft mit dem jungen Auswanderer, den er schon von Kind auf kannte und der so ganz anders als er selbst war. Gottlieb schauderte, sooft er an die Zukunft dachte.

„Das sollen da in den Goldminen lauter Räuber und Totschläger sein“, sagte er einmal. „Ich glaube, sie tragen alle Waffen.“

„Das tut man in ganz Amerika, selbst in der größten Stadt.“

Gottlieb war entsetzt. „Wie soll das nur werden“, seufzte er. „Ich mag gar nicht daran denken. Ja, wenn du bei mir wärst, Robert!“

Aber der lachte. „Ich sollte täglich zwölf Stunden lang in der Erde herumwühlen und Goldstaub waschen? Das wäre mir denn doch zu langweilig!“

„Oh!“ seufzte Gottlieb, „langweilig? Das ginge schon, wenn man nur arbeitet und etwas vorankommt. Aber diese schlechten Menschen, das Trinken und Raufen, – brr, mir graut davor! Weißt du, ich kann nicht so mit den Leuten fertig werden, wie du. Im Laden ist man höflich und zurückhaltend, man spricht über dieses oder jenes und kann sich sauber halten, – aber da in den Minen soll es ja hergehen wie bei einem Jahrmarkt, wenn die Messer aus den Taschen gezogen werden und einer über den andern stolpert. Glaubst du, daß ich mein Glück auf diesem Weg machen werde, Robert?“

Der junge Matrose sah die kleine, schwächliche Gestalt seines ehemaligen Schulkameraden und half sich mit einem: „Nun, warum denn nicht?“ über die unangenehme Antwort hinweg. „Sicherlich wäre es besser, du hättest einen Menschen neben dir, Gottlieb“, fügte er dann hinzu, „aber ich selbst spüre gar keine Lust, der See den Rücken zu kehren. Will in San Franzisko auf einem Hamburger Schiff für Hin-und Herreise heuern, so daß vielleicht vier oder acht Tage zum Urlaub nach Pinneberg übrigbleiben. Es ist besser, daß ich bereits gebunden bin, bevor ich nach Hause komme, und daß ich mich auch nicht lange aufhalten kann, sonst könnte vielleicht der Krieg mit meinem Vater wieder beginnen. Genug Geld, um – wenn es nötig sein sollte – in Pinneberg acht Tage im Wirtshaus leben zu können, verdiene ich ja während der Heimreise.“

Er seufzte heimlich bei diesem Gedanken. Der Boden brannte ihm unter den Füßen, seit er wußte, daß sein alter Vater krank war und vielleicht sterben würde, ohne ihm vorher vergeben zu haben.

Gottlieb wiegte den Kopf. „Wäre es da für dich nicht besser, in den Minen ein kleines Kapital zu sammeln und damit zu den Eltern zurückzukehren“, antwortete er. „Das geht doch schneller, als durch die magere Monatsheuer.“

Robert lachte. „Du willst mich von meinem Plan abbringen“, sagte er, „aber das gelingt dir nicht so leicht. Vor der Hand werde ich mich erst einmal mit an Land schicken lassen, um Wasser einzunehmen. Ich freue mich schon ordentlich auf einen kleinen Spaß mit den Patagoniern.“

„Aber das sind doch Wilde!“

„Natürlich, gerade darum. Möchtest du denn nicht gern so ein Dorf aus Indianerzelten im Naturzustand sehen, Gottlieb?“

„O du lieber Himmel, um keinen Preis! Aber du liefst ja schon als Kind solchen Abenteuern nach, Robert. Erinnerst du dich noch, als einmal in Pinneberg die Zigeunerbande lagerte?“

„Und ich drei Tage lang die Schule versäumte!“ lachte Robert. „An die Tracht Prügel werde ich denken, solange ich lebe. Du warst nicht mit hinauszulocken, weder durch Bitten noch irgendein anderes Mittel.“

„Nein, bestimmt nicht. Was sieht man denn auch an schmutzigen, zerlumpten Menschen?“

Robert schüttelte den Kopf. „Du bist eine rechte Landratte“, lachte er. „Willst dann also höchstwahrscheinlich nicht mit uns auf die Wasserjagd gehen?“

Gottlieb sah schaudernd zu dem fernen, dunklen Uferstreifen hinüber. „Wenn's nicht sein muß, Robert, dann laß mich an Bord bleiben“, antwortete er. „Die Patagonier sind Räuber, haben Pferde und eiserne Waffen.“

„Nun“, rief Robert, „du Hasenfuß, sind wir etwa schlechter dran?“

„Pferde haben wir doch nicht!“

„Um Reißaus zu nehmen, meinst du! – Na, laß es nur gut sein, du kannst in der sicheren Kajüte bleiben. Ich begreife nur nicht, woher du bei dem Untergang des Schiffes den Mut nahmst, bis zuletzt an Bord zu bleiben und den kopflosen Auswanderern einen ruhigen, vernünftigen Widerstand entgegenzusetzen!“

Gottlieb errötete. „Du“, sagte er, „was unbedingt getan werden muß, das kann ich auch und tue es ohne mich zu weigern, aber – nicht gern. Lieber gehe ich meinen Weg in Frieden, so wie früher, als das kleine alte Haus noch stand und ich von sechs Uhr früh bis zehn Uhr abends hinter dem Ladentisch stand. Meine Waagschalen waren immer so sauber und Tüten im voraus geklebt auf ein Vierteljahr, – ach, wie gut hatte ich es damals!“

Robert schüttelte den Kopf. „Mein Gott“, dachte er, „mein Gott, warum ist dieser stille, harmlose Mensch nicht als Sohn meines Vaters geboren worden, und ich dagegen als der, welcher hinausmußte in die Welt, eben um eine höhere Pflicht zu erfüllen? Wie glücklich wären wir dann beide.“

Er brach die Unterhaltung plötzlich ab. Ihm fiel wieder ein, was Mongo einmal gesagt hatte, da oben in der nordischen Eiswüste unter den Zeltdecken der Lappen. „Der Mensch soll lernen, sich selbst zu überwinden.“

Und er mußte sich eingestehen, daß eigentlich das, wonach man wirklich verlangt und was man begehrt, – doch zu leicht ausgeführt wäre, als daß es eine ernste Aufgabe genannt werden könnte.

„Gottlieb und ich, wir werden uns ergänzen“, dachte er. „Ich glaube, es würde gar nicht schaden, wenn ich ihn auf ein paar Monate in die Minen begleitete. Glückt es mir, mit einem hübschen Vorrat an Goldstaub nach Pinneberg zurückzukehren, so kann ich dem Vater zeigen, daß ich auch ohne die Nähnadel immer noch würdig bin, seinen Namen zu tragen und von ihm Sohn genannt zu werden. Ich will – –“

Ein plötzlicher Befehl unterbrach seinen Gedankengang. Die grünen Ufer der Küste waren schneller, als es Robert für möglich gehalten hatte, zu ganzen Wäldern und Höhenketten herangewachsen; sie lagen jetzt so nahe, daß für ein Anlaufen schon Vorbereitungen getroffen werden mußten.

Wie schlug sein Herz, als er das Ufer sah. Weißer Sand, im Sonnenschein glänzend, und dichte Buchenwälder, alles erinnerte ihn mehr als jeder andere Strand, den er bis jetzt betreten hatte, an die deutsche Heimat.

Und überall blühten Fuchsien in allen Farben, allen Größen und Schattierungen. Nicht wie bei uns in Deutschland als Sträucher und Zwergpflanzen, sondern als schlanke Bäume, die mit Tausenden und Abertausenden der glockenförmigen Blüten übersäet waren. Vom reinsten Weiß bis zum tiefsten Rot fanden sich alle verschiedenen Arten, während der Moosboden am Ufer mit breitblätterigen Schlingpflanzen bedeckt war.

Auf den Abhängen des ersten Höhenzuges weidete eine Herde Guanakos, während mehrere kleine Pekaris die sandigen Stellen der Uferbank aufgewühlt hatten und im Sonnenschein ahnungslos schliefen. In allem bot die Insel das Bild einer Landschaft von überwiegend nordischem Charakter.

Keiner von der ganzen Besatzung des Schiffes war jemals auf dieser Insel gewesen, keiner wußte, ob und wo hier Quellen zu finden waren, aber man durfte nicht länger warten, da sich der Wassermangel bereits in den letzten Tagen sehr empfindlich bemerkbar gemacht hatte. Der junge Kapitän gönnte sich weder am Tage noch in der Nacht eine längere Ruhe, sondern suchte ständig bald auf der Karte, bald auf dem Wasser nach Klippen, an denen sein Schiff scheitern konnte, er fürchtete seit dem Abenteuer mit dem sinkenden Fahrzeug jedes nur mögliche Unglück und dachte jetzt sogleich an einen Überfall der Patagonier. „Diese Stämme führen dauernd untereinander Krieg“, sagte er seufzend, „sie leben allein vom Raub, also muß mit der größten Vorsicht verfahren werden. Zwanzig Mann sollen sich bis an die Zähne bewaffnen und auf der Suche unter allen Umständen zusammenbleiben. Bei der ersten Quelle wird Halt gemacht, und die ganze Expedition so schnell wie möglich beendet. Die Schiffsjungen bleiben an Bord.“

Als alle diese Weisungen erteilt worden waren, trat er noch einmal an das Fallreep. „Leute, wagt nichts“, rief er. „Findet sich hier kein Wasser, so suchen wir auf einer andern Insel. Es gibt ja leider nur allzuviele davon.“

Der Untersteuermann als Führer der kleinen Truppe antwortete mit einem „All right, Sir“, und dann stießen die Boote ab. Robert sah zu seinem größten Erstaunen, daß Gottlieb mit hineingesprungen war. „Nanu“, rief er, „wozu das? Bleib doch auf dem Schiff, wenn du an solchen Dingen keinen Gefallen findest.“

Der junge Auswanderer schüttelte den Kopf. „Sprich nicht so laut, Robert“, flüsterte er errötend. „Alle Leute sehen mich an. Ich will mit dir gehen, weil du mich sonst für feige halten würdest, und das bin ich doch nicht. Ich werde schon meinen Mann stehen.“

Robert handhabte kräftig das Ruder. Aus seinen blauen Augen und dem ganzen Ausdruck des sonnenbraunen Gesichtes lachte die frohe Zuversicht der Jugend. „Du bist ein guter Kamerad, Gottlieb“, rief er, „ich will dir deine Treue vergelten, darauf darfst du bauen. Schaumal, sieht das nicht ganz so aus, wie die Inselgruppe und die Gehölze hinter unserem Pinneberger Mühlenteich?“

„Wahrhaftig“, antwortete Gottlieb, „ich dachte in diesem Augenblick das gleiche.“

Robert hatte sich von seinem Sitz erhoben und zeigte jetzt mit dem Ruder auf die Waldung vor dem Boot. „Weißt du noch“, rief er, „wie wir bei unsern Kriegsfahrten die größte Insel immer Patagonien nannten und die Kühe des Müllers Patagonier – den schwarzen Stier aber den Kaziken? – Brombeeren, Himbeeren, hauptsächlich Nüsse, das alles war die Beute, und der Rastplatz unter den Buchen, wo wir regelmäßig ein Feuer anzündeten, unser Biwak. Die Gefangenen wurden auf einer ganz kleinen, kahlen Insel ausgesetzt, und oft trotz ihrer Bitten am Abend nicht wieder, an Bord genommen, wodurch – –“

„Dann die ganze Geschichte an den Tag kam!“ ergänzte Gottlieb. „Das unerlaubte Betreten des fremden Grund und Bodens, das Feuer, die kleine Rache an einem Kameraden, alles wurde dem Rektor hinterbracht und trug seine sauren Früchte.“

„Ja, das war hart!“ lachte Robert. „Hätte ich so viele Taler, Gottlieb, wie ich Hiebe bekommen habe, – du könntest dein Haus wieder aufbauen und deine Tüten in Frieden weiterkleben. Aber macht nichts, die wildesten Jungen werden die tüchtigsten Männer.“

Während dieser Erinnerungen der beiden Schulkameraden hatte das Boot den Strand erreicht, und Robert sprang allen voran auf die Kiesel. Er warf die Mütze in die Luft und fing sie wieder auf, unbekümmert um alle Gefahren der Welt.

„Schnell!“ rief er. „Der Steuermann ist unser General und wir sind die Landungstruppen. Komm heraus, Kazike von Patagonien, wenn du den Mut hast!“

Das hatte er aber lieber in deutscher Sprache gerufen, und niemand verstand es außer Gottlieb. „So sei doch ruhig“, mahnte der, „das hier sind ja andere Gegner als die harmlosen Kühe, die du damals in die Flucht schlugst.“

„Oho, der gehörnte Kazike war auch nicht zu verachten. Er hat mich einmal mit noch drei andern über sein ganzes Gebiet gehetzt, bis wir mehr tot als lebendig in unser Boot plumpsten, und selbst dahin wollte er uns noch nachlaufen. Ich sage dir, der Anblick war urkomisch. Bis an die Brust im Wasser stehend, halb erschreckt, pustend und zornig, das dumme Gesicht uns entgegengestreckt, so brüllte er aus Leibeskräften, während wir ihn reizten, mit dem Ruder stießen und immer nahe vor ihm umherfuhren, bis er endlich Reißaus nahm. Ich muß heute noch lachen, wenn ich daran denke.“

Gottlieb schüttelte den Kopf. „Wie kann man aber auch einen Stier necken!“ sagte er. „Du versuchst aber auch die unglaublichsten Dinge.“

„Ich versuche alles und fürchte nichts. So, jetzt nimm diesen Säbel, da du doch mit dem Gewehr nicht umgehen könntest.“

Der ganze Zug setzte sich in Bewegung. Jeder Mann trug Waffen und außerdem einen Eimer, den der Seemann „Pütz“ nennt, mit, der Inschrift „Stern von San Franzisko“. Ohne ein lautes Wort, ein überflüssiges Geräusch und in dichtgeschlossener Reihe drangen die Seeleute vor, während ihnen vom Bord des Schiffes der Kapitän durchs Fernrohr nachblickte und unruhig wie ein Tiger im Käfig an der Schanzkleidung auf und ab ging.

„Wenn keiner zurückkommt, Steuermann, was fangen wir an?“

„Noch ist es ja nicht so schlimm, Sir.“

Dann verstummte auch an Bord das Gespräch, und ebenso still wie an Land die Matrosen verhielten sich dort die Zurückgebliebenen. Alle fünf Minuten sah der Kapitän auf die Uhr.

Robert und Gottlieb marschierten Seite an Seite, beide entzückt von dem Schatten der Buchen und dem weichen Rasen, auf den sie traten. Seit Jahr und Tag hatte der junge Matrose keine grüne Landschaft mehr gesehen, keine Blume, keinen Singvogel in den Zweigen. Das alles war ja in Norwegen nur höchst selten und vereinzelt vorgekommen, dort wirkte sich noch die Nähe des ewigen Eises aus. Hier aber wuchs und blühte es überall, hier war es wie in einem deutschen Sommer.

Nur von einer Quelle oder einem Fluß zeigte sich nichts.

„Ob wir uns doch in mehrere Abteilungen teilen?“ meinte der Steuermann. „Möglicherweise zieht sich dieser Wald Gott weiß wie weit fort, ohne in ein Tal auszumünden. So zwischen den Stämmen werden wir niemals eine Quelle finden.“

„Aber der Alte hat es verboten!“ meinte einer.

„Der Alte ist ein Hasenfuß, sage ich euch. Haben wir irgendein Lärminstrument, eine Pfeife oder etwas Ähnliches bei uns?“

Es meldeten sich mehrere, die schon aus Vorsicht eine kleine Zinkflöte mit schrillem, durchdringendem Ton zu sich gesteckt hatten, und dann ließ der Steuermann regelrecht abstimmen, wer für Teilung sei, und wer nicht. „Bedenkt, was ihr tut, Leute“, sagte er, „die Folgen müssen wir selbst tragen. Der Kapitän hat uns, da wir in diesem Augenblick nicht auf seinem Schiff stehen, auch keine Gesetze zu geben; wir sind es, die ihre Haut zu Markt tragen, und wir selbst müssen über unser Handeln entscheiden. Also wie ist es, teilen oder zusammenbleiben?“

„Teilen!“ klang fast wie aus einem Mund die Antwort der Matrosen. „Was sollte uns denn auch weiter begegnen? Die Kerle hierherum sind keine Menschenfresser.“

Und dann erhielten je fünf Mann eine Alarmflöte, man verabredete, daß auf das erste Zeichen hin alle dem bedrohten Punkt zueilen sollten und daß man sich an dieser Stelle wiedertreffen wollte. Wer Wasser entdeckt hatte, mußte sofort ein Zeichen geben.

Die vier kleinen Trupps verteilten sich nach allen Himmelsrichtungen, und ringsumher wurde es wieder still. In Roberts Zug befand sich Gottlieb als Freiwilliger, daher waren hier im ganzen sechs Männer zusammen. Der Weg, den sie verfolgten, führte offenbar in eine Niederung, da er wenig Baumwuchs zeigte und zuweilen plötzlich tief abfiel, aber dennoch hörte oder sah man keinerlei Gewässer.

Über eine halbe Stunde lang mochten die Matrosen vorwärts gegangen sein, als durch die stille Morgenluft ein ganz unerwarteter Ton an ihre Ohren drang. In nächster Nähe wieherte ein Pferd. – Im Nu hemmten alle ihre Schritte.

„Es wäre doch hübsch, wenn hier hinter den Bäumen ein Dorf läge!“ raunte einer der Seeleute. „Dann sehen wir unser Schiff nicht wieder.“

Robert winkte den andern. „Wir müssen uns der Pferde bemächtigen!“ flüsterte er. „Haben wir sie und unsere Schußwaffen, so werden wir immer die Oberhand über die Wilden behalten.“

„Du hast recht“, meinte der Steuermann, „das ist ein guter Gedanke. Aber wir kommen nur nicht ungesehen so weit heran, um die Tiere einfangen zu können.“

„Laßt mich den Weg auskundschaften!“ drängte Robert. „Gebt mir die Pfeife, damit ich euch im Notfall benachrichtigen kann und bleibt in der Nähe. Aber das müßt ihr auch so, denn da wo Pferde sind, wohnen bestimmt Menschen, und ebenso sicher ist bei ihren Hütten auch Wasser zu finden.“

Die fünf Männer waren damit einverstanden, nur Gottlieb berührte Roberts Arm und flüsterte halblaut: „Laß mich mit dir gehen, ich bitte dich.“

„Nein, auf keinen Fall. Du bleibst bei den andern, hörst du, Gottlieb. Mir macht die Geschichte großen Spaß, – für dich wäre es ein Opfer.“

Gottlieb schüttelte den Kopf. „Laß mich doch, Robert. Du hast mir das Leben gerettet, also will ich für dich nicht weniger tun.“

Auch Mongo drängte sich an Roberts Seite. „Vier Augen sehen mehr als zwei, du junger Spitzbube, nimm mich mit dir.“

„Kommt nicht in Frage!“ entschied Robert. „Setzt euch ins Moos und eßt euer Frühstück, damit ihr bei Kräften bleibt. Lebt wohl!“

Er verschwand zwischen den Bäumen, und den Zurückgebliebenen blieb in der Tat nichts anderes übrig, als Rast zu halten. Nur essen konnte niemand, und als die fünf eine Flasche mit Rum von Hand zu Hand gehen ließen, da entdeckten sie, daß Gottlieb fehlte. Der junge Auswanderer war heimlich davongeschlichen, ohne daß ihn die anderen beobachtet hätten.

Mongo schmunzelte wohlgefällig. „Er wird sich schon durchschlagen“, sagte er und meinte Robert, „mir ist um ihn nicht bange. Habe ihn lieb, als wäre er mein eigener Sohn, das könnt ihr glauben, Leute, aber doch laufe ich ihm nicht nach. Er ist unvorsichtig, hört auf keinen vernünftigen Rat und hält nur seine eigene Meinung für die richtige, – das muß er sich noch abgewöhnen. Laßt ihn nur tüchtig in die Klemme geraten.“

Während dieser Worte horchte der alte Mann angestrengt und konnte keinen Tropfen Rum hinunterbringen. Immer war es ihm, als höre er in der Ferne Roberts Stimme.

Der kroch inzwischen wie eine Schlange weiter. Noch sah er nichts als das Unterholz und hier oder da eine freie Fläche, dann jedoch wurden die Lichtungen häufiger, bis endlich ein tiefes Tal sich offen ausbreitete und mehr als zehn weidende Pferde in der Ebene sichtbar wurden. Seitwärts lagen aber auch etwa zwölf bis zwanzig Zelte aus Fellen, und zahlreiche Kinder jeden Alters spielten an den Ufern eines Flüßchens, das auf der Talsohle über Kiesel und weißen Sand bis zum Meeresufer hinablief.

Robert sah die blaue Fläche der See zwischen den Baumstämmen schimmern; das Dorf lag also unmittelbar am Strand, und das Wasser wäre von der entgegengesetzten Seite her mit leichter Mühe zu erreichen gewesen, während es kaum möglich schien, von seinem Standort bis an den Fluß vorzudringen. Ob er wagen durfte, auf die Weidefläche hinauszutreten und die Pferde vor den Augen der Wilden zu entführen?

Zaum und Lederzeug schien hier ein unbekannter Luxus zu sein, die Tiere liefen vollkommen fessellos umher, aber sie schienen sehr zahm, da sie den Lockrufen der kleinen, rotbraunen Kinder wie Hunde gehorchten. Robert versuchte ein ähnliches Mittel, aber ohne Erfolg.

„Hätte ich doch einen Lasso!“ dachte er ärgerlich. Und wieder rief er leise, ohne jedoch einen günstigeren Erfolg zu erzielen; die Tiere weideten in ungestörter Ruhe, die Sonne schien hell vom Himmel herab, und die kleinen Kinder spielten ganz wie ihre weißen Altersgenossen mit Kieseln und Sand.

Aber etwas mußte geschehen. Die Zeit verging, die Kameraden warteten, der Kapitän war gewiß schon ganz außer sich, also alles drängte zur Eile.

Robert hielt noch einmal scharfe Umschau. Aus den spitzzulaufenden Hütten drang oben stellenweise leichter, bläulicher Rauch hervor, auch einige Haustiere, wie Schweine und Hunde, liefen umher, aber kein erwachsener Mensch ließ sich blicken. Vielleicht war der Stamm auf einem Kriegszug, und nur ein paar alte Frauen beaufsichtigten die Kinder, – vielleicht glückte es, mit einem geschickten Griff die Pferde zu entführen, und dann hatten die Seeleute das Spiel gewonnen.

Gedacht, getan. Robert trat hinaus auf das freie Feld und näherte sich dem ersten Tier, das ihn ruhig herankommen ließ. Sein Herz schlug schneller, als er eine mitgebrachte Leine aus der Tasche hervorzog und sie um den Hals des Pferdes legte.

Da tönte aus ziemlicher Entfernung durch die Waldesstille das verabredete Zeichen. Robert horchte. Es waren drei kurze, gellende Pfiffe, also Wasser gefunden und der Zweck der ganzen Expedition erreicht. Höchstwahrscheinlich hatten die Kameraden denselben Fluß, nur etwas weiter hinauf, entdeckt.

Von zwei Seiten kam Antwort, aber Robert gab keinen Laut von sich. Der Pfiff hätte bestimmt die Wilden aus ihren Schlupfwinkeln hervorgelockt. Er schwang sich auf eins der Pferde und wollte eben davonsprengen, als ihn ein lauter, mehrstimmiger Ausruf erreichte. Er wandte sich um und erkannte unten zwischen den Hütten etwa zehn bis zwölf Patagonier.

Zugleich wurde das Pferd bei seinem Namen gerufen, machte eine plötzliche Schwenkung und galoppierte mit dem erschrockenen jungen Menschen geradewegs in das Dorf hinab. Robert wäre schon nach wenigen Minuten mitten unter den Wilden angelangt und von ihnen zweifellos gefangen worden, wenn er nicht noch rechtzeitig abgesprungen wäre. Mit langen Sätzen lief er in das Gebüsch hinein.

Die Wilden folgten ihm. Ihr lautes Kriegsgeschrei mischte sich mit den Tönen der Pfeife und den antwortenden Stimmen der Matrosen. Die ganze stille und friedliche Umgebung war in Aufruhr geraten. Von weitem hörte man die Pfeifen, Mongo rief laut und angstvoll Roberts Namen, die Pferde galoppierten stampfend und schnaubend auf der Weidefläche, die Hunde bellten und die Wilden heulten.

Eine Art Wurfspieß oder Lanze, plump aus Eisen hergestellt, flog haarscharf an Roberts Kopf vorüber, – wenigstens dreißig Wilde waren jetzt auf seiner Spur und liefen heulend und schreiend wie ein Schwarm höllischer Geister dem fliehenden jungen Matrosen nach. Mit Mänteln aus Pferdeleder und Schuhen aus der abgestreiften Haut des Pferdefußes, an der noch die Hufe unverändert saßen, mit greller Malerei im Gesicht und sonderbar heraufgebundenem, mit Federn durchflochtenem Schopf, sahen sie aus wie die leibhaftigen Teufel, während ihr Kriegsgeschrei auch dem Tapfersten Furcht einflößen konnte.

Roberts Pfeife gab ihre schrillen Töne von sich, die vier Matrosen schossen aufs Geratewohl in die Luft, um womöglich den Feind zu erschrecken, und von weitem gaben die Kameraden das Antwortzeichen, kurz, es war ein Lärm, als sollte die alte Erde aus den Fugen gehen.

Allen voran stürmte Mongo. Im Laufen zielte er und traf einen der Wilden tödlich. Die übrigen stutzten doch unwillkürlich. Vielleicht schreckten sie vor der noch fast unbekannten Feuerwaffe zurück, vielleicht hatten sie gehofft, nur mit einem einzigen Gegner kämpfen zu müssen und wurden irre, als jetzt die Matrosen von allen Seiten dem Kampfplatz zueilten.

Schuß auf Schuß krachte. Mehrere Wilde fielen, aber auch einige Weiße wurden getroffen, und immer hartnäckiger kämpften die erbitterten Gegner. Die Patagonier hatten den ersten lähmenden Schreck überwunden, sie schlossen sich fester zusammen, drangen in geschlossener Front gegen ihre Widersacher vor und schienen durch den vereinten starken Anprall fast das Übergewicht zu erlangen. Ihre stumpfen, schweren Waffen schlugen empfindliche Wunden, ihre auf etwa fünfzig Mann angewachsene Zahl brachte die Matrosen zum Weichen.

„Wir müssen uns absetzen“, rief mit lauter Stimme der Steuermann. „Zieht euch mit vorgehaltenem Gewehr bis an den Strand zurück, Leute, diese Wilden haben keine Boote.“

Aber der Befehl verhallte ungehört, und schon in der nächsten Viertelstunde wären die Patagonier Herren der Lage gewesen, wenn nicht ein unvorhergesehener Zwischenfall die ganze Sachlage urplötzlich verändert hätte.

Seitwärts vom Kampfplatz hörte man ein gellendes Pfeifen und zugleich das Stampfen von Pferdehufen. Die Wilden horchten auf und hielten im Angriff inne, denn wirklich erschien auch schon in der nächsten Minute das galoppierende, jagende Rudel ihrer aneinandergekoppelten Pferde. Das erste hielt ein Reiter am Zaum, der selbst ein lediges Tier ritt.

Brausend und stampfend verschwand der Zug ebenso schnell, wie er gekommen war, aber schon der bloße flüchtige Anblick hatte die Wilden von dem Kampf mit den Weißen vollständig abgelenkt. Ihr einziger Reichtum, ihre Pferde waren in Gefahr, und dafür ließen sie alles im Stich.

Mit gellendem Geschrei setzten sie dem einzelnen Reiter und seiner Beute in das Unterholz nach, so daß sich die Matrosen plötzlich allein sahen. Nur ein Schwerverwundeter lag ächzend im Gras, und mehrere andere hinkten mit zerschlagenen oder zerschossenen Gliedern schwerfällig davon.

„Schnell“, rief der Steuermann. „Um Gottes willen, schnell. In fünf Minuten können die Wilden zurück sein.“

„Wer war denn der Reiter?“ fragte einer, während die Schar so schnell wie möglich zum Strand zurücklief. „Er hat uns das Leben gerettet, aber höchstwahrscheinlich wird er dafür jetzt verloren sein. Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen!“

Robert überflog die Gesichter. Was er schon vorher zu sehen geglaubt hatte, das bestätigte sich ihm jetzt. Es war Gottlieb, der zu der plötzlichen List gegriffen hatte und der nun den Patagoniern ausgeliefert war. Robert wollte umkehren und ihn suchen.

„Mongo!“ rief er, „geh mit mir. Ich kann den armen Gottlieb nicht in den Händen der Wilden lassen, ohne alles für ihn versucht zu haben.“

Der Neger schüttelte den Kopf. „Wenn er nicht durch seine Schlauheit davonkommt, ist für ihn keine Rettung möglich“, sagte er. „Wir alle hätten ins Gras beißen müssen – aha, der Kapitän hat schon Angst, wie man hört!“

Ein Kanonenschuß donnerte vom Wasser herüber, und die Mannschaft antwortete durch lautes „Schiff ahoi!“ – nur Robert folgte äußerst widerstrebend. Den Freund so zu verlassen, fand er feige, und doch mußte er die Unmöglichkeit, ihm zu helfen, selbst einsehen. Seufzend schüttelte er den Kopf.

Jetzt war der Strand erreicht, und die bei den Booten zurückgebliebenen Leute waren froh, als sie ihre verloren geglaubten Kameraden wiedersahen. An Bord ging noch immer der Kapitän wie ein Verzweifelter auf und ab.

Dieselbe Stille von vorhin lag wieder über der ganzen Insel. Man konnte meinen, daß alles ein Traum gewesen sei, eine plötzliche, schreckliche Erscheinung, so schnell war es gekommen und so schnell vorübergegangen. Die Matrosen fragten und erkundigten sich erst jetzt untereinander nach dem eigentlichen Verlauf des ganzen Unternehmens.

Bei Roberts Hilferuf hatten alle das gefundene Wasser sofort im Stich gelassen und waren zu seiner Unterstützung so schnell wie möglich dem Schall gefolgt. Daraus ergab sich allerdings, daß alle Mühe umsonst und die ganze Fahrt vergeblich gewesen war. Niemand brachte auch nur einen Tropfen Wasser mit.

Robert beruhigte die andern. „Laßt nur“, sagte er traurig. „Ich habe die Stelle entdeckt, wo wir ganz bequem mit dem Boot soviel Wasser einnehmen können, wie wir brauchen, aber – das bringt uns nur den armen Gottlieb nicht zurück! – Wo er jetzt sein mag? Vielleicht wird er von den Rothäuten gemartert!“

Rechts von ihm teilte sich in diesem Augenblick das dichte Gebüsch. Ein Kopf kam zum Vorschein, ein verlegen errötendes Gesicht sah durch die Zweige, und der ganze, schüchterne Gottlieb schlüpfte heraus, völlig unversehrt, aber mit zerrissener Jacke und ohne Mütze.

„Ach“, sagte er, „ihr seid alle da. Das ist wirklich ein Glück.“

Robert glaubte kaum seinen Augen trauen zu dürfen. „Gottlieb!“ rief er, „Gottlieb, wie war das möglich? Wie bist du den Wilden entkommen?“

Der bescheidene junge Mensch flüchtete sich, um nicht so angestarrt zu werden, zu seinem ehemaligen Schulkameraden und drängte ihn, schnellstens aufzubrechen. „Laß uns schnell machen, Robert“, sagte er, „das sind ja wahre Menschenfresser, diese Kupfergesichter.“

„Aber Gottlieb, wie bist du ihnen entkommen?“

Der junge Pinneberger winkte mit der Hand. „Mach doch nicht solchen Lärm darum, Robert“, sagte er. „Als der ganze Schwarm vom Kampfplatz eine tüchtige Strecke weit fortgelockt war, ließ ich mich einfach zu Boden gleiten und versteckte mich im dichten Gebüsch, das ist ja gar nicht der Rede wert – jeder andere hätte es auch getan.“

Robert drückte gerührt die Hand seines bescheidenen Freundes. Dann übersetzte er das, was Gottlieb berichtet hatte, den Matrosen, die darauf hin ihrer Anerkennung durch kräftige Schläge auf die Schulter ihres Retters Ausdruck gaben. „Frage ihn doch, wie er eigentlich auf den guten Gedanken kam, Bob!“ drängte der Steuermann.

Robert tat es, und Gottlieb lächelte verlegen. „Ja, siehst du“, antwortete er, „etwas mußte ich doch auch leisten. So ein Draufgänger bin ich nicht, also wollte ich durch List versuchen, die Feinde von uns fernzuhalten. Ich koppelte die Pferde aneinander, nahm sie an die Leine und ritt im sausenden Galopp an euch vorüber, weil ich gleich dachte, daß die Wilden zunächst ihrem Eigentum nachjagen würden. Das übrige weißt du.“

Robert übersetzte auch dies, und nach erneuten lebhaften Dankesäußerungen bestieg man endlich die Boote. Der Kapitän raufte sich fast die Haare, als er sah, daß mehrere Matrosen für längere Zeit arbeitsunfähig geworden waren. Einer hatte sogar den Arm gebrochen, ein anderer hinkte schwer, und der dritte hatte eine tiefe Wunde an der Schulter.

Mr. Barrow war so außer sich, daß ihn der Obersteuermann zum zweitenmal vertreten mußte. Der ›Stern von San Franzisko‹ wurde gedreht und auf der andern Seite der Insel so nahe an den Strand herangebracht, daß seine Kanone leicht die schmale Flußmündung bestreichen konnte. Ein Boot mit sechs Mann fuhr soweit hinauf, wie nötig schien, um reines Süßwasser zu erhalten, dann füllte man die Tonnen, ohne einen Wilden zu Gesicht zu bekommen. Robert und Gottlieb sahen noch einmal das Dorf von der anderen Seite, ehe die Reise fortgesetzt wurde.

„Du“, sagte der junge Matrose, „du wolltest mich doch in die Minen mitnehmen, nicht wahr? – Gut, hier hast du mein Versprechen. Wir wollen zusammengehen.“

Gottliebs Freude war so groß, daß er sich kaum beherrschen konnte, obwohl er den Entschluß seines Freundes aus Bescheidenheit nicht annehmen wollte. Robert ließ ihn gar nicht erst zu Worte kommen. „Es bleibt dabei,“ sagte er, „ich gehe mit dir nach Kalifornien.“

Mehr wurde darüber nicht gesprochen, aber die Sache war abgemacht. Die Matrosen schafften soviel Wasser an Bord, als irgend untergebracht werden konnte, und dann ging die Reise weiter. Als das Schiff die vordere, vorspringende Spitze der Insel umsegelte, sahen die Matrosen hinter allen Bäumen die roten Gesichter der Wilden. Es waren mindestens hundert kriegerische Gestalten.

„Paßt auf, Kinder“, rief der Steuermann, „jetzt sollen es die Halunken haben!“

Er ließ das Ruder so drehen, daß die Kanone gegen das Ufer gerichtet war. Dann krachte der Schuß donnernd und widerhallend durch die stille Morgenluft, natürlich nur blind, aber doch den Wilden zur heilsamen Warnung.

Der Erfolg war so komisch, daß die ganze Schiffsbesatzung, ja sogar der ängstliche Kapitän in ein schallendes Gelächter ausbrach. An Land lagen die Rothäute alle flach auf dem Erdboden, als habe der Pulverdampf tödliche Wirkung gehabt. Einige verbargen die Gesichter im Sand, so daß der Schopf mit Federn und Schnüren im Wind flatterte, andere lagen auf dem Rücken und wagten nicht, sich umzudrehen.

„Noch eins!“ rief belustigt der Steuermann, „noch eins!“

Und wieder krachte der Schuß. Einige der Gestalten wollten aufspringen und fliehen, aber es kam nur zu einem leichten Ruck. Die Todesangst hielt alle am Boden fest.

Der Kapitän hatte unterdessen die Verletzten in ärztliche Behandlung genommen, und das Schiff steuerte seinen früheren Kurs weiter. Solange die Matrosen das Ufer noch genauer erkennen konnten, sahen sie die entsetzten Wilden regungslos wie Leichen daliegen.

„Ganz wie der Pinneberger Stier!“ lachte Robert. „Nur daß der mit gesenktem Kopf reißaus nahm, während die Rothäute liegen bleiben. Wären nicht unsere Kameraden verwundet worden, so könnte man die ganze Geschichte einen guten Spaß nennen!“

„Von dem wir aber doch keine Fortsetzung brauchen“, warf der Steuermann ein. „Durch die Magelhaensstraße zu segeln, ist immer bitterer Ernst.“

„Sind Sie schon früher einmal hindurchgekommen, Mr. Thompson?“ fragte Robert.

„Einmal schon, und noch dazu mit Passagieren. Vor etwa zwölf Jahren zog ja alle Welt in die Goldminen, um dort das Glück zu suchen.“

Robert winkte heimlich seinem Schulkameraden. „Und es wohl auch häufig zu finden, Sir, nicht wahr?“ fragte er.

„Häufig? – Das nun gerade nicht, mein Junge. Wem ein Gewinn in den Schoß fällt, der gibt ihn meist ebenso schnell wieder aus und macht noch obendrein auf gut Glück Schulden. Die ›Digger‹ sind ein leichtlebiges Völkchen.“

Robert lächelte. Er wußte, daß er es verstand, mit seinem Eigentum sparsam und ordentlich umzugehen und daß er daher zu den wenigen gehören würde, die tatsächlich imstande waren, in den Minen ihr Glück zu machen. „Was gehört eigentlich zur Ausrüstung eines Goldsuchers?“ fragte er den Steuermann, der offenbar gut aufgelegt war und mit sich reden ließ. „Ist die Geschichte sehr teuer?“

Der Steuermann zuckte die Achseln. „Das kommt darauf an, Bob, wie man es anfängt. Je mehr man hineinsteckt, desto mehr kommt auch wieder heraus. Wer also Pferd und Karre besitzt, eine abgelegene Stelle aufsuchen will und die Sache im großen betreibt, der hat mehr Aussicht als ein anderer armer Teufel, der nur mit Spaten und Hacke losgeht. Es haben aber auch solche schon Glück gehabt und sind reich geworden.“

Robert und Gottlieb sahen sich verstohlen an, dann aber fragte der junge Matrose weiter und lockte aus dem erfahrenen Steuermann so ziemlich alles heraus, was er wissen wollte. Die Hauptfrage war natürlich die: „Hat ein fleißiger, sparsamer Mann als Goldsucher Aussichten, weiterzukommen?“

Der Steuermann nickte. „Das steht fest. In den Goldstädten wird mehr Staub von den Wäschern verloren, als ausreichen würde, einen vernünftigen Menschen zu ernähren. Wer täglich seine zehn bis zwölf Stunden arbeiten will, der kann sagen, daß er es bei einigem Glück zum wohlhabenden Mann bringen wird, obgleich vielleicht unter Tausenden nur einer wirklich das erträumte Vermögen findet. Es gibt nirgends im Leben so viele Wechselfälle, wie gerade in den Minenstädten.“

Robert übersetzte das alles seinem Freund, der sich zwar während der kurzen Zeit an Bord schon soviel Englisch angeeignet hatte, daß er einigermaßen verstand, was gesprochen wurde, dem aber doch sehr viel daran lag, gerade hier alles aufs Wort genau zu erfahren. Er fand das, was der Steuermann gesagt hatte, recht befriedigend und hoffte, daß es ihm doch vielleicht schon bald möglich sein werde, monatlich sechzehn bis zwanzig Dollar nach Pinneberg zu schicken. „Davon können die Eltern schon leben“, sagte er.

Robert sah ihn erstaunt an. „Aber dabei wirst du nie ein kleines Vermögen sammeln, Gottlieb“, sagte er.

„Wenn ich nicht mehr erübrigen kann, als für meine alten Eltern erforderlich ist, – nein. Aber ich bin auch schon glücklich, wenn mir nur das gelingt.“

„Und du wolltest aus diesem Grund ständig in den Minen bleiben?“

„Solange es nicht anders geht, ja. Der Gedanke, Vater und Mutter im Armenhaus zu wissen, wäre mir viel schrecklicher als alle Entbehrungen und Strapazen.“

Robert mußte an seine Eltern denken, sie waren wohlhabende Leute und brauchten nicht für den Frieden ihrer alten Tage fürchten. Gottlieb fühlte und handelte überlegter als er, aber ihn leiteten auch zwingendere Gründe.

„Ich bleibe bei dir, bis du dich eingelebt hast“, versprach er ihm. „Wenn wir nur erst in San Franzisko wären. Vielleicht wartet dort ein Brief aus Pinneberg auf mich, – ach, ich wäre zu glücklich.“

„Wie lange brauchen wir noch bis dahin?“ fragte Gottlieb.

„Dreißig Tage etwa. Ich wollte, daß sie vorüber wären.“

„Bring mir doch etwas Englisch bei, Robert, dann vergeht uns die Zeit schneller.“

Der junge Matrose seufzte. „Wenn ich doch mehr Geduld hätte!“ antwortete er. – „Aber etwas besser ist es ja schon geworden, also darf man die Hoffnung nicht aufgeben. Sieh, dort tauchen wieder neue Inselgruppen auf.“

Gottlieb stieß ihn heimlich mit dem Ellbogen an. „Du, was tut der Steuermann jetzt?“ fragte er.

Robert sah hin. „Ach, er lotet. Der Kapitän hat also wieder Angst, daß wir auflaufen.“

Da Robert gerade Freiwache hatte, näherten sich die beiden dem Obersteuermann, der mit dem damals erst kürzlich erfundenen Patentlot die Meerestiefe maß. Auch der Kapitän war dabei und machte ein ernstes Gesicht.

„Steuermann, haben Sie mit etwa 2000 Meter Tiefe gerechnet?“ fragte er. „So viel müssen wir hier herum vermuten.“

„All right, Sir. Die Leine läuft noch weiter aus.“

Das eigenartig geformte Lot wurde jetzt über die Schanzkleidung des Schiffes herabgelassen, und beide hatten auf diese Weise Gelegenheit, es genau kennen zu lernen. Weder auf der ›Antje Marie‹ noch auf dem ›Vogel Greif‹ war jemals gelotet worden, Robert sah deshalb interessiert zu.

Das Patentlot hat am äußersten Ende einen kleinen scharfen Spaten, dessen Fläche ein Deckelkästchen bildet. Solange die Leine abläuft, bleibt der Deckel offen, beim Heraufziehen schließt er sich und hält in dem Kästchen etwas Sand oder Schlamm vom Meeresgrund fest, der mit an die Wasseroberfläche befördert wird.

Robert erwartete ungeduldig das Ergebnis der Lotung. Endlich stand die Leine, also war der Grund des Meeres erreicht.

„Wieviel Meter Leine hatten wir?“ fragte schnell der Kapitän.

„2500 Meter, Sir.“

Mr. Barrow seufzte erleichtert, dann wandte er sich an Robert: „Meßt einmal, Kroll, da Ihr Euch doch für die Sache interessiert.“

Robert sprang sofort herbei, und während der Obersteuermann mit Hilfe eines Matrosen das Lot wieder heraufzog, maß er die trocken gebliebene Leine. „Dreihundert Meter, Sir“, meldete er bald danach. „Also eine Tiefe von 2200 Meter.“

„Das hatte ich mir gedacht“, nickte der Kapitän. „Jetzt nur noch ein günstiges Ergebnis der Untersuchung des Grundes, und ich bin für heute zufrieden.“

Inzwischen war das Kästchen heraufgezogen worden und zeigte an seinem Inhalt, daß der Grund des Meeres an dieser Stelle felsig war, denn auch nicht das kleinste Teilchen Schlamm oder Sand hatte sich festgesetzt, nur einige kleine scharfe und feste Körper waren darin, und der Kapitän nahm seufzend diese spitzen Zäckchen in die Hand. „Da haben wir's“, sagte er. „Es sind Koralleninseln in der Nähe.“

„Man sieht sie über dem Wasser, Sir!“ erlaubte sich der Steuermann zu bemerken. „Viele haben Baumwuchs und lassen sich aus einiger Entfernung deutlich erkennen.“

Der Kapitän nickte. „Das weiß ich wohl, Steuermann“, antwortete er, „aber um zu sehen, braucht man bekanntlich Licht. Wenn unser Schiff in der Nacht auf eine Koralleninsel stößt, ist es verloren.“

Der Steuermann antwortete nicht. Er war froh, als sich Mr. Barrow wieder in seine enge Schlafkajüte zurückgezogen hatte, um auf der Karte und in wenigstens zehn Hilfsbüchern zum hundertstenmal die Eigenarten dieser Meeresbreiten genau zu studieren.

„Herr Obersteuermann“, fragte Robert, „was ist eigentlich eine Koralleninsel?“

„Das werden wir früh genug sehen, mein Junge“, war die Antwort. „Noch vor Abend begegnen uns sicherlich mehrere.“

„Gut aufgepaßt!“ rief er dann dem Matrosen am Ausguck zu. „Ihr kennt hoffentlich die Bewegung des Wassers, wo Korallenriffe sind?“

„Well, Sir!“ scholl es zurück. „Noch nichts zu sehen.“

Der ganze Tag verging wirklich ohne das geringste Zeichen von Gefahr, gegen Abend erschien an Deck wieder das sorgenvolle Gesicht des Kapitäns. „Hier herum sind drei Koralleninseln“, seufzte er, „ich habe unseren Standort bis auf eine halbe Meile herausgerechnet und bin meiner Sache vollständig sicher.“

Der Steuermann nickte. „Ich wußte es aus Erfahrung, Sir“, antwortete er, „aber nur zwei von diesen Riffen liegen auf unserem Weg, das dritte berühren wir nicht.“

Der Kapitän fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wanderte ruhelos auf und ab.

„Korallen in Sicht!“ rief in diesem Augenblick vom Ausguck her der Matrose. „Eine langgestreckte Insel an Backbord!“

Sofort war der Kapitän bei ihm. Zum Glück lag die gefährliche Stelle hundert Meter aus dem Fahrwasser des Schiffes. Es konnte ruhig daran vorübersegeln, ohne den Kurs ändern zu müssen.

„Genau beobachten, ob der Lauf des Riffes etwa nach rechts ausbiegt!“ schärfte er dem Matrosen ein. „Oder besser noch, laßt zwei Mann Wache halten. Kroll, Ihr stellt Euch dorthin und paßt auf! – Ich glaube, daß Ihr zuverlässig seid.“

Robert errötete vor Freude und nahm den Platz am Ausguck als eine Art Ehrenposten ein.

Den Blick auf das Riff gerichtet, sah er über die Schanzkleidung hinab ins Meer. Bei fast völliger Windstille glitt das Schiff langsam durch die leichten Wellen, während die Sonne ihre letzten Strahlen herabsandte und dadurch die klare Durchsichtigkeit des Wassers noch bedeutend erhöhte. Auf See kann man oft bis zu einer Tiefe von etwa fünf Metern sehen, hier aber reichten die Korallenbäume fast bis an die Meeresoberfläche.

„Findest du nicht, daß das Riff allmählich nach rechts verläuft?“ fragte Robert den Matrosen, der mit ihm Ausguck hielt.

„Mir kommt es schon seit einigen Minuten so vor. Mach lieber Meldung, Bob!“

Sofort erschien der Kapitän an Deck. „Ich hatte es mir doch gedacht!“ winkte er dem Steuermann. „Wir müssen das Schiff backlegen und bis Tagesanbruch vor dem Wind treiben.“

Mr. Thompson nickte. „Ist gut, Sir“, antwortete er, „hat aber auch seine Gefahren. Wir können an den Strand geworfen werden.“

„Verdammt! Verdammt! – Steuermann, wozu raten Sie?“

„Ich würde die Sache wagen, besonders da uns jeder Zeitverlust von größtem Nachteil ist.“

„Der Ladung wegen? Wir können froh sein, wenn das Schiff nur noch Ballast genug behält, um überhaupt segelfähig zu bleiben.“

Der Steuermann stand immer noch wartend da. Es war jetzt vollständig dunkel geworden und ein bestimmter Entschluß notwendig.

„Lassen Sie das Schiff backlegen, Steuermann“, rief endlich halb verzweifelt der Kapitän. „Es gibt eine helle Sternennacht, und ich will lieber diese paar Stunden verlieren, als vielleicht mit voller Fahrt in das Riff hineinlaufen. Um vier Uhr früh ist es Tag.“

„All right, Sir.“ –

Mr. Thompson gab die notwendigen Befehle und der ›Stern von San Franzisko‹ verlor rasch an Fahrt. Nach einer Stunde erschien am Himmel der Mond und beleuchtete mit seinem weißen Licht das Meer. Die Strömung trug das Schiff langsam aber stetig rückwärts.

Das Nachtglas des Kapitäns kam keinen Augenblick zur Ruhe. Bald stand Mr. Barrow am Heck und bald hinter der Kombüse, so daß die Leute heimlich lachten.

„Wenn ein anderer das Kommando führt, dann ist der Kapitän ein tüchtiger Seemann“, flüsterte einer der Matrosen. „Ich selbst bin mit ihm gefahren, als er noch Steuermann war, und damals merkte man von dieser Unruhe nichts. Seit er selbst ein Schiff befehligt und alle Verantwortung allein trägt, ist er wie umgewandelt.“

„Nicht zum Kapitän geboren!“ meinte ein anderer. „Der echte Seemann wird immer kaltblütiger, je größer die Gefahr wird.“

Der erste zuckte die Achseln. „Das kann sich eben keiner selbst aneignen,“ antwortete er. „Es liegt im Blut.“

„Mag sein“, beharrte der zweite, „aber dann muß man eben Schneider werden, nur kein Seemann.“

Robert fühlte, wie das Blut in seine Wangen trat. Er fühlte sich zum Kapitän geboren, und dennoch, – wie erschwerte ihm alles die eingeschlagene Laufbahn.

„Es ist kein Segen dabei!“ dachte er unwillkürlich. „Es war nicht der richtige Weg, auf dem ich mein Ziel zu erreichen suchte, und daher treffe ich überall auf Hindernisse. Ach, könnte ich nur für eine Stunde hinüberfliegen nach Pinneberg!“ – –

Ein Geräusch auf dem Achterdeck störte ihn aus seinen Träumen. Die Frauen in der Kajüte hatten bemerkt, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorging, eine hatte durch ihre Vermutungen und Schlußfolgerungen die Einbildungskraft der anderen nur noch immer mehr erhitzt, außerdem sah man den Kapitän ständig an Deck und fühlte, daß das Schiff nur trieb, anstatt unter vollen Segeln zu stehen, – das alles brachte die Auswanderer in Unruhe. Der ganze Strom ergoß sich über das Deck, schreiende Kinder drängten sich den Müttern nach, und aus dem Logis wurden die erstaunten Männer herbeigerufen, um im Notfall ihren schluchzenden Frauen beizustehen.

„Steuermann!“ rief Mr. Barrow, „ich bitte Sie, was bedeutet das?“

Robert verließ seine Koje, um als Dolmetscher zu dienen. Wo es galt, einem Menschen zu helfen, da war er immer der erste. „Was ist denn los“, fragte er, „warum schlaft ihr nicht?“

Das Händeringen und Weinen kehrte sich jetzt gegen ihn. Er möge nur die Wahrheit sagen, hieß es, jeden Augenblick könne das Schiff versinken oder kentern, – man sei auf das letzte Stündlein vollkommen gefaßt.

Robert mußte laut lachen, und vielleicht gerade dadurch beruhigte er die angstvollen Menschen am meisten. Seine erklärenden Worte brachten die Frauen ohne weiteres wieder zurück in die Kajüte, und zwar so schnell, daß der Kapitän erst nachträglich erfuhr, um was es sich gehandelt hatte. Fortan wurde der Zugang zum Achterdeck nach Einbruch der Dunkelheit abgesperrt.

Am frühen Morgen machte der Kapitän seine Berechnung, und es ergab sich, daß das Schiff etwa vier bis fünf Wegstunden weit zurückgetrieben war. Man konnte also jetzt das gestern passierte Korallenriff und auch noch ein zweites, kleineres bei hellem Tageslicht umsegeln und sich auf allen Karten überzeugen, daß nun der Weg frei sei. Dennoch aber wachte der Kapitän noch die ganze folgende Nacht, obgleich mehrere Matrosen sahen, daß er manchmal beim ruhelosen Auf- und Abgehen mit geschlossenen Augen gegen die Pardunen stieß. Erst als das offene Meer wieder erreicht war, ging auf dem „Stern von San Franzisko“ alles den gewohnten Gang, und nachdem man an einer kleinen, anscheinend unbewohnten Insel nochmals ohne weitere Zwischenfälle Wasser eingenommen hatte, erreichte das Schiff nach drei Wochen wohlbehalten den Hafen der kalifornischen Hauptstadt.

Mr. Barrow fand zu seiner großen Erleichterung in den Reedern verständnisvolle Menschen, die vollkommen guthießen, was er getan hatte. Sie veröffentlichten sogar in den Zeitungen einen Artikel, in dem sie die Tat ihres Kapitäns würdigten und die allgemeine Aufmerksamkeit der vielen in San Franzisko ansässigen Deutschen auf die unglücklichen Auswanderer lenkten, so daß von allen Seiten Spenden eintrafen und sicherlich mancher von den Schiffbrüchigen doppelt soviel geschenkt bekam, als ihm bei Kap Horn verloren gegangen war.

Auch das Abenteuer mit den Wilden ging von Mund zu Mund; die Matrosen des „Stern von San Franzisko“ wurden die Helden des Tages, man kam an Bord, um sich die Einzelheiten dieses Falles erzählen zu lassen, und die Zeitungen brachten den Kampf mit den Patagoniern in solchen Übertreibungen, daß Robert darin fast keinen wahren Zug mehr wiederfand.

Sein erster Weg an Land führte zur Post. Vielleicht hatte sich ja doch der Vater bewegen lassen, ihm zu verzeihen, ihm wenigstens einige gute, wohlgemeinte Worte zu schreiben, – wie sehr wünschte er es!

Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er den Postbeamten murmeln hörte: „Kroll! – Kroll! – Es muß etwas da sein, das diesen Namen trägt!“

„Aha“, fügte er dann hinzu, „hier ist es schon.“

Und Robert hielt in seiner Hand einen kleinen, plump zusammengefalteten Brief aus grobem Schreibpapier, ohne Umschlag, mehrere Male gesiegelt und mit einer Adresse von unbekannten Schriftzügen. „An den Herrn Leichtmatrosen Robert Kroll aus Pinneberg, auf dem Schiff ›Stern von San Franzisko‹ in Franzisko, wenn das Schiff glücklich ankommt, sonst soll der Brief verbrannt werden.“

Halb lächelte er, als er das seltsame Schriftstück in den Händen hielt, und halb packte ihn eine unbestimmte Furcht. Das hatte die Mutter von irgendeiner guten Freundin schreiben lassen, er wußte es vorher, – aber warum? – –

Wenn nun der Vater gestorben war?

Ohne sich umzusehen verließ er das Postgebäude und ging in ein nahegelegenes Wirtshaus, um den Brief zu lesen. Er brauchte mehr Mut, diese ungeschickten Siegel zu brechen, als in der nordischen Eiswüste vor dem zum Sprung ansetzenden Wolf.

Erst nach mehreren Minuten vergeblicher Anstrengung gelang es ihm, die unförmigen Buchstaben zu folgendem Inhalt zusammenzustellen.

Mein geliebter Sohn Robert!

Liese Schmidt, die Tochter unserer alten Brotfrau, deine Schulkameradin, schreibt mir diesen Brief, worin ich dir zunächst unsere herzlichen Grüße sage, das heißt, der Liese und meinen, denn der Vater ist so bös, daß man in seiner Gegenwart nicht einmal deinen Namen aussprechen darf. Den letzten Brief, den du von Bergen hierhergeschickt hast, wollte er gar nicht annehmen, und fast wäre derselbe wieder zurückgesandt worden in die weite Welt hinein, wenn ich nicht den Herrn Postmeister mit vielen Tränen gebeten hätte, mir doch die Botschaft von meinem einzigen Kinde nicht zu entziehen. Erst schwankte er lange, und ich bot ihm schon in großer Herzensangst einen ganzen Taler über das geforderte Porto, aber dann ließ er sich doch erweichen, obgleich er das Geld nicht nahm. ›Ich will's tun, liebe Frau‹, sagte er, ›weil ich die unglückliche Geschichte mit Ihrem nichtsnutzigen Jungen‹ – du darfst es nicht übel aufnehmen, lieber Robert, aber er sagte wirklich so! –›von früher her kenne und weil ich Sie herzlich bedaure. Man ist ja auch Mensch, nicht bloß Beamter.‹

Siehst du, auf diese Weise erlangte ich deinen Brief, den mir Liese Schmidt vorlas und bei dem ich Gott vielmals inbrünstig gedankt habe, daß Er Seine treue Hand über dich gehalten in der Stunde der Gefahr. Ich bin auch am nächstfolgenden Tage zur Kirche gegangen und habe ein Achtschillingstück in den Klingelbeutel gesteckt aus großer Herzensfreude. Dein Vater weiß, daß ich den Brief heimlich an mich gebracht habe und ebenso alles, was darin stand. Ich erzähle's ihm immer nebenbei, so als hätte ich's in der verwichenen Nacht geträumt, und dann merke ich wohl, wie genau der alte, eigensinnige Mann zuhört, aber weiter darf ich nicht gehen, sonst schneidet er mir das Wort vor dem Munde ab. ›Träume, was du willst, Mutter‹, sagt er, ›und erzähle mir auch alles das, nur sprich nicht von dem Entlaufenen. Ich habe keinen Sohn, das weißt du.‹

So steht es bei uns, mein geliebter Junge, und Vater ist krank dazu. Er grämt sich sehr um dich, und wenn du wiederkommen und deine Lehrzeit nochmals anfangen wolltest, so würde das mir eine große Freude sein. Du könntest ja wahrlich jetzt genug haben von dem wilden Leben, wo es dir doch aller christlichen Zucht und Ehrbarkeit mangelt, als da sind: Sonntags zur Kirche gehen und ein reines Hemd sowie ein ordentliches Essen auf dem Tisch. Wenn ich gar bedenke, daß du einen schwarzen Mohrenmenschen deinen Freund nennst, so bitte ich unsern Herrn und Heiland, dir diese Greuel nicht anzurechnen.

Ferner benachrichtige ich dich, daß Pikas, unser Hund, noch lebt, und daß wir von dem Seiler, der dich damals zum Bösen verlockt und hernach verlassen, niemals wieder ein Wort gehört haben. Sonst wüßte ich nichts Neues und schließe meinen Brief mit der Bitte, doch die nächste Post an mich und nicht an den Vater zu adressieren. Er nimmt von dir nichts an. Viel tausendmal lieber aber wäre mir's, du kämest selbst und söhntest dich aus mit dem Alten. Das Schneiderhandwerk nährt seinen Mann und ist auch gefahrlos und christlich dabei. Liese Schmidt meint dasselbe wie ich, womit wir beide dich herzlich grüßen und dich dem lieben und getreuen Gott vielmals empfehlen.

Deine zärtliche Mutter, Anna Kroll.

Nachschrift. Die Liese Schmidt will so gern auch einmal einen Brief von dir haben, damit sie den Leuten ein bißchen erzählen kann, hauptsächlich schreib uns bald, ob in San Franzisko die Menschen alle schwarz sind und ob sie zu Schimpf und Schande ohne Kleider herumlaufen. D.O.

Lange starrte Robert auf die Schrift und eine ganze Welt verschiedener Empfindungen stand in ihm auf. Wie es die Mutter in ihrer rührenden Herzenseinfalt hier ausgedrückt hatte, so dachte und fühlte auch der starrsinnige Vater. Was ihnen vor einem halben Jahrhundert von ihren Eltern eingeprägt worden war, daran hielten sie beharrlich fest, was außerhalb ihres Gesichtskreises lag, das verstanden sie nicht mehr. Konnte man ihn zwingen, in dies Gefängnis freiwillig zurückzugehen und sich selbst zu verleugnen?

Nein, niemals. Er fühlte sein Gewissen, nachdem er diesen Brief gelesen hatte, sogar bedeutend leichter. Trotz gegen Trotz! Wollte der Vater von dem einzigen Sohn keinen Brief annehmen, nun, so sollte er auch nicht wieder damit belästigt werden. Waren die alten Leute um den guten Lebenswandel ihres Sohnes so sehr besorgt und hielten sie den treuen Mongo für ihn als Gefährten zu schlecht, dann sollten sie bald genug ihren Irrtum erkennen.

Robert biß die Zähne zusammen. Er brauchte nur ein wenig Glück in den Minen, nur zwei- oder dreihundert Taler Überschuß, und alles war gut. Der „nichtsnutzige“ Junge, der verleugnete, beklagte Sohn konnte nach Hause zurückkehren und den Kleinstädtern zeigen, daß ihre bösen Vorahnungen ohne allen Grund gewesen waren. Aber hingehen und mit leeren Händen um Verzeihung bitten – das würde er niemals tun. Er hatte es lange genug geglaubt, eine Versöhnung, eine Rückkehr für möglich gehalten und sich eingebildet, daß der Vater mit offenen Armen den Sohn willkommen heißen werde, – jetzt war er enttäuscht worden.

Finster vor sich auf das unberührte Bierglas starrend saß er da und grübelte, fast ohne zu wissen, was er dachte, ohne zu merken, daß sich mehrere Leute in seine Nähe setzten und ihn dauernd beobachteten. Erst als ihm jemand die Hand auf die Schulter legte, sah er auf.

„Nun, Mr. Kroll, erst einen Tag an Land und schon Grillen fangen? Kommen Sie mit mir, ich will Ihnen ein Lokal zeigen, wo getanzt wird, das ist besser.“

Robert erkannte einen Angestellten des Handelshauses, für das Kapitän Barrow fuhr, er erwiderte sehr höflich die Worte des jungen Mannes, dankte ihm auch für seine Freundlichkeit, aber er lehnte doch entschieden den Vorschlag ab. Sobald der „Stern von San Franzisko“ den Rest der Fracht gelöscht und das ganze Schiff von oben bis unten gereinigt worden war, gab es Löhnung, und dann ging's hinauf in die Goldminen. Robert erinnerte sich nur zu gut daran, was ihm der Steuermann gesagt hatte, daß nämlich meistens in den Wirtshäusern sofort wieder ausgegeben werde, was mit Mühe und Anstrengung verdient worden sei, – außerdem war er auch durchaus nicht in der Stimmung zu tanzen, sondern hätte am liebsten gleich den andern Gästen den Rücken gekehrt und wäre hinausgegangen. Doch das war unmöglich. Seit dem gestrigen Tag hatte sich das Gerücht von dem Kampf mit den Wilden schon soweit verbreitet, daß man überall in der Stadt davon sprach, und als man jetzt einen unmittelbar daran Beteiligten erkannte, wurde er ohne eine ausführliche Schilderung des Abenteuers nicht wieder fortgelassen.

Als er endlich an Bord kam, war Kapitän Barrow in bester Laune. Es hatte sich alles nach Wunsch abgewickelt, eine zweite Reise sollte sofort nach Räumung des Schiffes angetreten werden, und die Mannschaft konnte an Bord bleiben, ohne erst abzumustern. Der „Stern von San Franzisko“ ging nach Hamburg, von wo er eine Ladung feiner Rheinweine abholen sollte. An Bord entfaltete sich eine rege Tätigkeit.

Nach Hamburg! – Robert fühlte in der Tasche den Brief seiner Mutter wie Feuer brennen. Wenn er ihn nicht erhalten hätte, wäre er vielleicht schon in wenigen Wochen auf dem Wege nach Hause gewesen, vielleicht hätte er sogar sein Versprechen Gottlieb gegenüber rückgängig gemacht, hätte ihm nur das nötige Reisegeld geschenkt und selbst alles aufgegeben, um sich mit dem Vater zu versöhnen und seinen Segen zu erbitten. Aber jetzt! – –

Sein Entschluß stand unwiderruflich fest. Er schlug es aus, für die neue Reise zu heuern, und ging gar nicht wieder an Land, um kein Geld unnötig auszugeben. Wie die übrigen schiffbrüchigen Auswanderer erhielt auch Gottlieb soviel geschenkt, daß die beiden nach Auszahlung der Heuer ihre Fahrt ins Goldland sofort antreten konnten. Sämtliche Ausrüstungsgegenstände wollten sie, um den teuren Transport zu sparen, an Ort und Stelle kaufen, nur den Anzug der Goldgräber, die ungeheuren Kanonenstiefel und den breiten Ledergurt schafften sie sich gleich an. Das bare Geld wurde sorgfältig versteckt, und dann nahm Robert von seinen bisherigen Kameraden einen herzlichen Abschied. Nur den Neger sah er nicht.

Auf seine Frage hieß es, daß auch Mongo am Tage vorher abgemustert habe. Roberts Erstaunen stieg immer mehr. Sollte sich der Alte, nachdem er mit ihm so schwere Stunden geteilt hatte, jetzt ohne ein Wort des Abschieds von ihm trennen wollen?

Unbegreiflich! Aber die Zeit drängte, und daher konnte Robert keine weiteren Nachforschungen halten. Seufzend kletterte er das Fallreep hinab. „Leb wohl, du blaues, geliebtes Meer, jetzt soll ich dich monatelang nicht einmal mehr sehen, soll Hunderte von Meilen landeinwärts fahren und mit Spaten und Axt die Erde durchwühlen.“

„Leb wohl!“

Er sah nicht zurück, sondern bezwang die aufsteigende Bitterkeit, um Gottlieb nicht zu verletzen.

Es mußte sein, und Roberts fester Wille unterdrückte erfolgreich jede Mißstimmung. Er sprach dem schüchternen Freund Mut zu und führte ihn zum Bahnhof, wo für die ganze Reise nach den Minenstädten die Karten gelöst wurden. Wenn ihn erst einmal die fremde Welt, die er jetzt betreten sollte, umgab, wenn er eine neue, geregelte Tätigkeit besaß, so mußte auch seine frühere Zuversicht zurückkehren. Und ging es wirklich nicht, konnte er das Leben in den Minen unmöglich ertragen, nun, so stand ihm ja der Weg zur nächsten Hafenstadt immer offen. Für den Augenblick mußte er jedoch den Kopf oben behalten.

Nur daß er Mongo nicht mehr gesehen hatte, tat ihm leid. Der Alte mußte irgendeinen ganz besonderen Grund haben, da er ja nicht einmal ein Abschiedswort gefunden hatte.

Das Glockenzeichen ertönte, die Türen wurden geöffnet, und die beiden stiegen in den Wagen – da sahen sie draußen ein schwarzes, lächelndes Gesicht, da stand Mongo im ledernen „Digger“-Anzug und saß im nächsten Augenblick drinnen neben den beiden überraschten Freunden.

„Du junger Spitzbube, wer soll dich aus der Patsche ziehen, wenn ich es nicht tue? Bist ja ein viel zu großer Sausewind und Wagehals, als daß man dich allein reisen lassen könnte.“

„Aber Scherz beiseite“, fügte er hinzu, „wollt ihr mich überhaupt mitnehmen? Schaden kann's euch nicht, in den Minenstädten jemanden zu haben, der sich auskennt.“

Robert war glücklich über die Nähe des Freundes. Er und auch Gottlieb schlugen bereitwillig ein, als ihnen Mongo die Hand entgegenstreckte.

„Aber warum hast du uns nicht schon viel früher etwas davon gesagt, alter Geheimniskrämer?“ fragte Robert.

Der Neger wiegte den Kopf. „Ich wußte es ja vorher selbst nicht, du Schlingel!“ antwortete er. „Die Minen sind es auch keineswegs, die mich locken, sondern nur deine Nähe. Es ist für einen alten Menschen wie mich doppelt schwer, so ganz allein dazustehen.“

Robert drückte ihm seufzend die Hand. „Auch für einen jungen, Mongo“, erwiderte er.

„Hast doch deiner Mutter geantwortet, Junge?“ fragte der Neger.

„Natürlich. Sie nimmt ja meine Briefe an.“

„Nun, nun, du mußt das nicht mit so großer Bitterkeit betonen. Dein Vater hat wie die Schnecke in ihrem Gehäuse sein Leben lang auf demselben Tisch gesessen, den schon zwei Generationen der Krolls als häuslichen Thron behaupteten, – er kann sich eine andere Möglichkeit einfach nicht denken, daher ist er widerborstig wie ein Igel und quält sich und andere. Oder glaubst du etwa, daß er sich nicht im stillen bittere Sorgen um dich macht.“

„Das glaube ich kaum, Mongo.“

„Ach, was weißt du davon? Ein Vater kann nie aufhören, sein Kind zu lieben, aber er kann es auf verkehrte Weise zeigen, das ist wahr.“

„Laß uns über die traurige Angelegenheit nicht wieder reden Mongo“, bat Robert. „Ich kann vor ihm nicht nachgeben, wie zur Zeit meiner Schuljahre oder auch später noch, als er mein halbfertiges Schiff mit dem Küchenbeil zerschlug und mich regelrecht durchprügelte.“

Mongo antwortete nicht. Wozu gleich den Anfang der Fahrt mit trüben Erinnerungen oder noch trüberen Zukunftsaussichten vergällen? – Robert war aus der jungenhaften Sehnsucht nach Abenteuern längst aufgerüttelt, er fühlte den Zwiespalt mit dem eigenen Gewissen sehr deutlich, und das war für den Augenblick vollständig genug.

„Mongo“, fragte Robert nach einer Pause, „bist du schon früher einmal in den Goldminen gewesen? Es schien mir vorhin so.“

Der Schwarze nickte. „Wo wäre ich nicht gewesen, Bob?“ fragte er wehmütig. „Überall ohne Heimat, ohne Familie, ohne Glück, da greift man bald nach rechts, bald nach links, und sucht nach einem Platz, wo man für immer bleiben möchte.“

Robert blies den Rauch seiner Zigarre in die heitere Morgenluft hinaus. Er fühlte sich von der erfrischenden Fahrt durch die Herbstlandschaft, von dem hellen Sonnenschein und der schönen Umgebung mehr und mehr angeregt. Vielleicht ging es ja jetzt dem Glück entgegen, jedenfalls wollte er sich nicht länger quälen, es half ja doch nichts.

„Mongo“, sagte er, „du kennst also das Leben in den Minen aus Erfahrung und kannst uns dort helfen?“

„Natürlich, Bob. Eben deshalb begleite ich euch ja.“

Robert übersetzte die Worte des Negers, und auch Gottlieb freute sich, in Mongo einen erfahrenen Menschen zur Seite zu haben. „Du gehst ja doch schon bald wieder zurück, Robert“, sagte er.

Der errötete. „Weshalb, du? Ich will mit dir in den Minen das Glück suchen“, antwortete er.

„Möchtest du es finden, Robert!“ sagte Gottlieb einfach in seiner bescheidenen Art. „Möchten wir alle Glück haben!“

Mongo zog aus der Tasche ein großes Paket Fleisch und Brot sowie eine Korbflasche, die er den beiden jungen Gefährten hinreichte. „Auf die Verwirklichung unserer Hoffnungen!“ sagte er.

Und alle drei tranken reihum.



Der Eisenbahnzug hatte die Station Bandigo verlassen, und die Landschaft wurde immer schöner. Wälder von Eichen und Buchen, manchmal auch von Tannen, säumten die Strecke. Dann wieder ging es am Ufer eines blauen Sees entlang oder durch eine weite Ebene.

Roberts für alles Schöne so empfängliche Herz gab sich den unbekannten Freuden der Fahrt vollständig hin. Während seine beiden Reisegefährten Mittagsruhe hielten, beobachtete er die Landschaft ringsumher und ließ sich nicht die kleinsten Einzelheiten entgehen. Es war alles anders als zu Hause in Deutschland, wo er zwar nur von Pinneberg nach Altona, also gerade zwanzig Minuten gefahren war, wo er aber doch die Bahnanlagen häufig gesehen hatte. Streckenwärterhäuschen gab es nicht, die Stationen waren manchmal nur hölzerne Schuppen mit hochklingenden Namen, aber höchst ärmlicher Einrichtung. „Waterloo-Hotel“ oder „Vereinigte-Staaten-Hotel“ las er mehr als einmal, beim Aussteigen jedoch sah Robert nur einige Farbige, ein paar spuckende, Tabak kauende und trinkende Yankees, und zu essen konnte man nur ein paar dürre Butterbrote haben, hier Sandwiches genannt, dafür aber überall Branntwein, den er nur ungern trank. Meistens bezahlte er das scharfe Getränk, um dann am Brunnen seine Reiseflasche mit frischem Wasser zu füllen und den Fusel stehen zu lassen.

An einer kleinen, ganz am Ausgang eines Waldes liegenden Station sahen die drei eine Menge Menschen stehen. Man sprach und gestikulierte lebhaft, eine Gruppe von Frauen schien in großer Unruhe, und verschiedene Männer fluchten in allen möglichen Ausdrücken. Es mußte irgendein außergewöhnliches Ereignis vorgefallen sein.

Robert lief voran, ehe ihm noch Mongo und Gottlieb folgen konnten. Im Augenblick interessierte ihn nur das, was dort passiert war.

Aber seine Neugierde sollte wenig Befriedigung finden. Ein paar Kilometer weit oberhalb der Station war ein Zug entgleist, die Schienen aufgewühlt und zum Teil mit Trümmern bedeckt und der Verkehr für die nächsten Stunden unterbrochen. Es blieb jetzt den Reisenden nur die Wahl, entweder bis zum folgenden Morgen in einigen Holzschuppen und leeren Wagen ein Unterkommen zu suchen, oder aber mit der Postkutsche die Fahrt fortzusetzen.

Die drei sahen sich an, und Mongo erkannte sofort, worauf Robert hinauswollte. „Hierbleiben!“ neckte er, „hierbleiben, Bob. Nicht wahr, du hast jetzt keine Lust, mit zwanzig anderen Passagieren bei Nacht und Nebel in der engen Kutsche weiterzufahren? Brr, eine kalte Partie müßte das sein!“

„Und gefährlich!“ warf Gottlieb ein. „Es sollen hier sogar noch Büffelherden vorkommen.“

„Und wilde Raubtiere“, fügte der Neger mit besorgtem Gesicht hinzu, „und blutdürstige Indianer!“

Jetzt verstand Robert, was Mongo wollte, und die beiden lachten lustig. „Komm nur ruhig mit“, versicherte der Schwarze dem erstaunten Gottlieb, „es wird uns schon nichts kosten, höchstens etwas Zähneklappern. Aber in diesen luftigen Holzställen wird es kaum angenehmer sein als dort“, fügte er hinzu.

„Und außerdem hätten wir eine ganze Nacht unnütz verloren“, warf Robert ein.

Das half, den schüchternen jungen Menschen umzustimmen. Alle drei nahmen im Postwagen Platz – Robert auf dem Bock beim Kutscher – und fort ging es mit einem Gespann von sechs kräftigen Pferden in die mondhelle Nacht hinein.

Am Wegesrand zeigten sich bald tief ausgetretene Spuren, die alle in einer Richtung dahinliefen und die der Kutscher dem fragenden Robert als Büffelspuren bezeichnete. „Wir werden sehr bald die Herden selbst sehen“, fügte er hinzu. „Ist es das erstemal, daß Ihr die Steppe passiert, Sir?“

Robert bejahte, und nun erzählte ihm der Kutscher, dem offenbar diese Unterhaltung auf seinem einsamen Sitz sehr willkommen war, von den Tieren, die in dieser Gegend vorkommen.

„Die Büffel erkennt Ihr von selbst, Sir“, lächelte er, „aber seht Euch auch einmal diese kleinen vierbeinigen Burschen an. Das sind Präriehunde.“

Robert beugte sich vom Sitz herab und bemerkte mehrere kleine Tiere von dunkelbrauner Farbe mit weißem Bauchfell. Sie gehören zum Geschlecht der Hamster, wohnen in Erdlöchern und zeigen den Menschen gegenüber nicht die geringste Scheu. Robert wandte sich voll Erstaunen zu dem gesprächigen Kutscher. „Hunde nennt Ihr diese Tiere?“ fragte er.

Der Kutscher zuckte die Achseln. „›Wish-Ton-Wish‹, sagen die Indianer, Sir. Ich weiß nicht, wie der Vergleich mit Hunden entstanden ist.“

Aber Robert hatte schon wieder eine neue Entdeckung gemacht. „Seht doch,“ rief er, „vor jedem dieser Erdlöcher sitzt eine kleine Eule!“

„Well, Sir, die Tiere wohnen beieinander, und außerdem auch noch Klapperschlangen, gehörnte Eidechsen und Landschildkröten. Der Wish-Ton-Wish baut die Höhle, und das andere Völkchen nimmt ungebeten Besitz davon; der Wish-Ton-Wish schleppt die Wintervorräte zusammen, und die übrigen teilen sich den Raub, – so geht es oftmals im Leben, Sir.“

Robert seufzte heimlich. Aber hier war keine Gelegenheit, sich in Grübeleien zu versenken. Auf jedem Schritt, bei jeder Drehung der Räder begegneten ihm neue Wunder. Ein Tier mit schmutziggelbem, grauschillerndem und langhaarigem Fell, etwas kleiner als ein gewöhnlicher Wolf, mager und mit falschen, feigen Augen, umschlich die nächsten Büsche. Es blieb in scheuer Entfernung, obgleich es das vorüberrasselnde Gefährt ständig beobachtete.

„Wie heißt dieser widerwärtige Bursche?“ fragte Robert.

Der Kutscher schlug in der Richtung des wolfsartigen Tieres kräftig mit der Peitsche durch die Luft, worauf der graue Schatten wie in den Boden hinein verschwand. „Nicht wahr“, rief er grimmig, „das ist ein widerwärtiger Hungerleider, ein falscher Patron! Sage Euch, Sir, es gibt mir immer einen Stich durchs Herz, wenn ich solchen Burschen sehe. Vor einiger Zeit stürzte mir mitten auf dem Wege das Handpferd und blieb mit gebrochenem Bein im Sande liegen. Na, da mußte ich es töten, Sir, um es zu erlösen, aber das Herz tat mir weh dabei, kann ich Euch sagen. Hatte mit dem braven Bill schon seit dem Jahre 1865 diesen Weg befahren, als noch der Indianerhäuptling Cut-Nose, die Schlitznase, mit seiner braunen Horde die Gegend unsicher machte und alle Passagiere den geladenen Revolver ständig in der Faust hielten. Aber gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen, Sir, – mußte den alten Bill liegen lassen, hatte ja keine Zeit, ihn zu begraben, und – sah nun alle Tage, wenn mich mein Weg vorüberführte, auf seinem armen Körper die Coyotes sitzen und gierig das Fleisch von den Rippen zerren, seitdem hasse ich die Bestien. Ein lebendiges Tier greifen sie nicht an, aber Leichen sind selbst unter der Erde vor ihren Krallen nicht sicher. Sie gleichen an Raubgier und Feigheit ganz den Hyänen.“

Die Postkutsche hatte während dieser langen Erzählung ihren Weg weiter verfolgt, der Coyote kam nicht wieder zum Vorschein, aber noch eine Menge anderer Tiere bevölkerte die Nacht. Beutelratten trippelten durch das Gras, Schwärme von Kibitzen und Raben segelten durch die Luft, hier und da zeigten sich wunderschöne braune Antilopen, schlanke, rehäugige Geschöpfe, die jedoch beim Herannahen der Kutsche sofort die Flucht ergriffen.

Dazwischen lagen überall am Wege bleichende Tiergerippe, besonders von Büffeln, deren Spuren jetzt auch immer deutlicher aus dem weichen Boden hervortraten, bis zuletzt die riesigen schwarzbraunen Tiere erst vereinzelt und dann immer zahlreicher auftauchten. Roberts Herz schlug schneller. Wieviel Merkwürdiges, wieviel Schönes sah er in dieser Nacht! –

„Wißt Ihr, Sir“, begann nach einer Pause der Amerikaner, „ich fahre nun seit sechs Jahren und länger täglich durch diese Gegend, aber jedesmal erscheint sie mir neu. Das macht das Großartige, glaube ich, das Wilde, Ursprüngliche. Wenn Meilensteine am Wege ständen und Straßengräben und Wirtshäuser da wären, dann käme auch gewiß bald die Langeweile, so aber ist alles das in jeder Stunde neu und doch wie ein lieber alter Bekannter, den man freudig begrüßt, wenn er zur Tür hereintritt. Und glaubt Ihr wohl, Sir, daß diese Gegend ihren Dichter hatte? – Ich habe ihn selbst gekannt, damals zu Schlitznases Zeiten. Er hat die Fahrt mit mir und dem alten Bill, den die Coyotes fraßen, oft gemacht; – wollt Ihr einmal hören, was er schrieb, da auf Euren Sitz und auf den Einband eines Buches, das er bei sich trug? Mir hat er's zuerst vorgelesen, nachher aber ist es gedruckt worden.“

Und der Amerikaner, ganz erfüllt von seiner Sache, begann in wenig künstlerischer, aber begeisterter Weise ein einfaches Lied zu singen, das in treffenden Bildern das Leben in den Wäldern und Prärien des Landes schilderte.

Mit einem lustigen Peitschenknall, der das Sechsgespann zu erhöhter Eile antrieb, schloß der brave Postillion die letzte Strophe des Gedichtes, das auf seinem Kutschbock geschrieben worden war und das er sicherlich schon vielen Reisenden vorgetragen hatte. „Seht nur,“ rief er, „da sind auch die Büffelherden.“

Und wirklich war die Postkutsche jetzt mitten auf dem Weideplatz. Von allen Seiten stürmten in brausendem Galopp die Tiere heran, ihre Hufe dröhnten auf dem Grasboden, ihre Nüstern stießen schnaubend den Atem aus, ihre kurzen Hörner wühlten die Erde auf. Dicht hinter dem plumpen, unförmigen Hals erhob sich ein buschiger Höcker, während der Vorderkörper mit der gewaltigen Brust und dem dicken Kopf zum Hinterteil in keinem richtigen Verhältnis zu stehen schien. Der gewaltige Rumpf und die schlanken, fast zierlichen Beine, die feurigen Augen und der große, häßliche Kopf paßten durchaus nicht zueinander.

Robert bemerkte jedoch, daß die schwerfälligen Tiere schneller als ein Pferd laufen konnten, besonders aber, daß sie eine wahrhaft riesige Körperkraft besaßen. Der Kutscher sagte auch, daß die Büffel zur Landwirtschaft nicht verwendet werden könnten, weil ihre Wildheit und völlig unberechenbare Kraft nicht zu zügeln sei. Ihnen ist kein Zaun zu stark, kein Graben zu breit und kein Fuhrwerk zu schwer, sie überrennen alles.

Jetzt befand sich die Kutsche mitten in der unübersehbaren Masse der auf ihrer großen Herbstwanderung begriffenen Tiere. Manchmal mußte im Schritt gefahren, manchmal gehalten werden, so dicht umdrängten die Büffel das Gespann und die Kutsche. Mit lang heraushängender Zunge, vorgestrecktem Hals und krummem Buckel rannten die braunen Riesen scheu an dem Postwagen vorüber, während die jüngeren Kälber neugierig herankamen, jedoch von ihren Müttern sofort wieder zur Herde zurückgedrängt wurden. Etwa zwei Stunden lang fuhr der Wagen durch die endlosen Massen der Tiere, dann erst war die Ebene wieder frei. Robert atmete auf, als die Kutsche wieder schneller vorwärtskam. So wenig er sich gefürchtet hatte, die Nähe der riesigen Büffelherde war doch fast erdrückend gewesen.

Dann aber fiel es ihm ein, sich nach seinen Gefährten umzusehen. Das Innere des Wagens war von einer Hängelampe trübselig erleuchtet, so daß er in den Reihen der Sitzenden auch Mongo und Gottlieb leicht erkennen konnte. Der Neger schlief den Schlaf des Gerechten, wobei sich sein Kopf vertraulich gegen Gottliebs Schulter gelehnt hatte. Der dagegen wachte! Seine blauen, gutmütigen Augen sahen angstvoll aus dem gegenüberliegenden Fenster, während die rechte Hand den geladenen Revolver schußfertig hielt. Der schüchterne junge Mann wagte es offenbar nicht, sich auf seinem Platz zu bewegen, sondern saß steif wie eine hölzerne Puppe, während er ab und zu, wenn der Wagen besonders hart aufstieß, die Rechte mit dem Revolver vorsichtig hob, um Mongos herabgleitenden Kopf ein wenig wieder aufzurichten.

Robert lachte in sich hinein. Das Bild war urkomisch, obwohl es etwas rührend wirkte. Gottlieb dachte ja nie an sich, sondern immer nur an andere, er ertrug das Unvermeidliche mit Haltung und war frei von aller Selbstsucht, das machte ihn so liebenswert.

Robert wandte sich ab, als habe er sich auf etwas Unrechtem ertappt. Ob er jemals so gut, so anspruchslos werden würde wie Gottlieb? –

Er knüpfte das Gespräch mit dem Kutscher wieder an, und beide unterhielten sich, bis es gegen Morgen etwas kälter wurde und an den Wolkenrändern die ersten lichten Streifen erschienen. Der Postillion reichte seinem jungen Begleiter eine Büffeldecke, in die er sich vollständig einhüllte.

„Es gibt heute noch Regen“, sagte er. „Ihr hättet Euch besser mit Decken versorgen sollen, Sir.“

Robert lächelte. „Ein Seemann fürchtet die Nässe nicht“, antwortete er. „Aber weshalb meint Ihr, daß wir bei diesem herrlichen Wetter Regen zu befürchten hätten?“

Der Kutscher deutete mit dem Peitschenstiel auf einen rötlichen Schimmer am östlichen Horizont. „Wißt Ihr nicht, daß diese dunkle Färbung einen nassen Tag ankündigt?“ fragte er. „Hat Euch Eure Mutter nie gesagt, daß das Morgenrot Wasser in den Brunnen trägt?“

Robert nickte. „Doch“, antwortete er, „ich kenne das Sprichwort, aber ich habe nie so recht daran geglaubt.“

„Seid Ihr aber ein Starrkopf!“ lachte der Kutscher. – „Aber da hinten liegt auch schon die Station“, fügte er hinzu, „und wenn mich nicht alles trügt, so wird in einer kleinen halben Stunde der Zug von dort abgehen.“

Er bog über eine Lichtung und lenkte in eine holprige Straße ein, an deren Seiten einige hölzerne Häuser die „Stadt“ andeuteten. Vor dem Bahnhofsgebäude hielt er endlich. Die Fahrt hatte vierzehn Stunden gedauert.

Robert kletterte vom Bock und öffnete die Tür des Wagens. „Hallo“, rief er, „habt ihr endlich ausgeschlafen, ihr beiden?“

Gottlieb sah ihn an wie einen, der aus unmittelbarer Todesgefahr noch glücklich gerettet wurde. „Ich habe mich um dich so sehr geängstigt“, sagte er. „Wenn nun die entsetzlichen Tiere den Wagen angegriffen hätten?“

Robert lachte. „Dann wärest du ja nicht besser geschützt gewesen als ich“, antwortete er.

Gottlieb errötete. „Wenn auch, aber – ach, es ist doch schrecklich, dieses Leben in ständiger Gefahr.“

Und seufzend kletterte er aus der Tür. „Laßt uns ins Haus gehen“, bat er, „Mongo erwacht schon.“

Der Neger hatte die ganze Zeit geschlafen, hatte nichts gesehen und gehört, sondern von Afrika geträumt, und daß er den Königsthron von Dahomey wieder besteigen sollte.

„Du“, sagte er, „Bob, ich könnte es doch nicht mehr!“

„Was denn, Alter?“

„Ach so, du hast es nicht miterlebt, obgleich ich dich immer an meiner Seite sah, das vergaß ich. Aber komm nur herein, mein Junge, damit wir einen tüchtigen Schluck Whisky bekommen. Mir träumte, ich sei im Königspalast von Dahomey, und man reichte mir Blut aus einem Menschenschädel, – brr! – das war gräßlich.“

Alle drei verließen die offene Straße und betraten das Brettergebäude, wo wieder gegen teure Preise nur Branntwein und einige magere Sandwiches zu haben waren. Aber wer Hunger hat, nimmt mit allem vorlieb; der Wirt konnte kaum soviel herbeischaffen, wie von der durchfrorenen, zusammengerüttelten Reisegesellschaft verlangt wurde, und lange nicht alle Passagiere waren satt, als der schrille Pfiff der Lokomotive zum Einsteigen mahnte. „Vorwärts!“ rief Robert, „noch zwei Tage und eine Nacht, dann ist unser Ziel erreicht.“

„Dann suchen wir Gold!“ fügte Gottlieb mit glänzenden Augen hinzu. „Robert, was würdest du tun, wenn dir ein tüchtiger Gewinn in den Schoß fiele?“

„Dann baue ich dir in Pinneberg das abgebrannte Haus deiner Eltern wieder auf,“ rief der junge Matrose. „Alles soll so schön werden wie früher, und du müßtest glauben, daß die ganze Zwischenzeit ein böser Traum gewesen sei.“

Gottlieb drückte stumm die Hand seines Freundes. „Und du, Mongo?“ fragte er nach einer längeren Pause, „was tätest du?“

Der Neger schüttelte den Kopf. „Ich habe einen Sohn“, sagte er, „und wenn die Summe nur klein wäre, so müßte sie für ihn sein, – fände ich jedoch Schätze, dann sollten sie meinen armen Unglücksbrüdern zugute kommen, dann würde ich in Afrika Schulen errichten und das Volk frei machen. Dahomey müßte ein zweites Liberia werden.“

Gottlieb legte die Hand über die Augen und blieb lange stumm. „Laßt's gut sein“, brachte er endlich hervor. „Wenn uns Gott nur so viel schenkt, daß wir unser täglich Brot haben und ein paar Taler zurücklegen können.“

Und der Eisenbahnzug donnerte über Berg und Tal. Die Herbstluft wehte spielend gelbe Blätter in den Wagen, und die Herzen der Reisenden schlugen schneller mit jeder Station, die hinter ihnen zurückblieb.

Nur ein Gedanke erfüllte alle: „Gold!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert der Schiffsjunge