7. Auf Walfang

7. Auf Walfang.

Robert hatte seinen Rausch ausgeschlafen, aber keineswegs den abenteuerlichen Plan aufgegeben. Obgleich er genau wußte, daß es nicht klug war, sich so dem ungewissen Schicksal anzuvertrauen, konnte er doch seinem Drang nach neuen Erlebnissen nicht widerstehen. „Ich bin frei“, dachte er, „frei wie der Vogel in der Luft, niemand darf mir meinen Weg vorschreiben, niemand darf mir Gesetze geben, also warum soll ich nicht das tun, was mir am besten gefällt? – Ob ich einige Jahre früher oder später nach Pinneberg zurückkehre, ist im Grunde gleich. Erst will ich die Welt sehen.“


Er ging zum Hafen hinab mit dem Vorsatz, sofort an das von dem alten Witt bezeichnete Schiff zu fahren und sich von dem Kapitän anheuern zu lassen, – da legte sich plötzlich von hinten eine Hand auf seine Schulter, und Herr Hastedt begrüßte ihn mit ausgesuchter Höflichkeit.

„Freut mich, daß ich Sie wiedersehe!“ sagte er. „Noch keine Heuer angenommen?“

Roberts Plan war im Augenblick gemacht. „Warte“, dachte er, „dich will ich bezahlen, du Schuft. Ich könnte dich ja auf der Stelle durchprügeln, aber das wäre nicht empfindlich genug. Du sollst es verlernen, deine Landsleute zu betrügen.“

Er wandte sich äußerst freundlich zu ihm. „Noch keine Heuer angenommen, Herr Hastedt! Ich hoffe immer noch, daß mir das Glück eine Fahrt ins Eismeer zuspielt.“

Herr Hastedt bot ihm eine Zigarre an und sagte dann: „Ja, ja, nach Grönland, wo es Dollars regnet wie Schneeflocken. Ich glaube es Ihnen wohl, und – hm, ich hätte auch vielleicht etwas für Sie in Aussicht. Die Sache ging mir dauernd im Kopf herum, und da ich doch als Agent aller möglichen Geschäftshäuser fast die ganze Stadt kenne, so habe ich mich nach einer Heuer für Sie umgesehen. Ist Ihnen die Geschichte etwa fünf Dollar wert, dann können Sie als Leichtmatrose anmustern, – natürlich durch meine Vermittlung.“

„Ach, das wäre ja herrlich!“ rief Robert. „Was für ein Glück, daß wir uns begegneten.“

„Sie wollen also die fünf Dollar daran wenden? – Natürlich nichts für mich, mir würde es nie einfallen, von Ihnen Geld zu nehmen, aber ein Bekannter, der solche Geschäfte betreibt, – wissen Sie!“

Robert lächelte. „Mir ist die Heuer mehr als fünf Dollar wert“, sagte er, ohne auf die Frage direkt einzugehen. „Lassen Sie uns doch gleich den Geschäftsmann aufsuchen, Herr Hastedt.“

„Well!“ rief der. „Wir müssen uns auch so beeilen, da das Schiff zur Ausfahrt bereit liegt. Wenn Sie kein bares Geld mehr haben sollten, Herr Kroll, so kann die Bezahlung warten, bis Sie an Bord gehen. Es gibt dann fünf Dollar Handgeld.“

Robert nickte. „Das paßt mir gut“, meinte er. „Für meine letzten paar Kröten muß ich unbedingt Wollzeug anschaffen. Wo wohnt denn der Mann?“

„Oh, der ist schnell gefunden. Hier auf dem Kai. Kommen Sie nur mit mir.“

Die beiden gingen in ein nahegelegenes Wirtshaus, wo wirklich der besagte Zwischenhändler bei einem Glas Grog die Zeitungen las. Er sah ziemlich schäbig aus und sprach ebenso gut deutsch, wie Robert selbst. Offenbar hatte er nur auf sie gewartet, das merkte Robert sofort.

„Euch will ich die Suppe versalzen“, dachte er. „Wartet nur, ihr Gauner. Nur Geduld, die Strafe entgeht euch nicht.“

Er ließ sich dem schäbigen Herrn vorstellen und hörte noch einiges über schlechte Geschäfte, riesigen Zulauf der Matrosen zu den Fahrten nach dem Eismeer und Ähnliches, dann erklärte Herr Hastedt, daß er jetzt gehen müsse, wünschte Robert nochmals Glück und verschwand, nachdem er noch mit dem anderen einige bezeichnende Blicke und Flüsterworte gewechselt hatte.

Jetzt gingen die beiden Zurückgebliebenen zum Hafen, und Robert merkte, daß es das dritte Schiff war, wohin der Deutsch-Amerikaner die Jolle rudern ließ. „Also ganz geschäftsmäßig wird das betrieben“, dachte er. „Dieses Fahrzeug soll zuerst auslaufen, ihm werden also die ersten ›Dummen‹ zugeführt. Na – wartet!“

Er kletterte gewandt an Bord und half dem ängstlichen Agenten, der sich mit beiden Händen an seine Jacke klammerte, lachend über die Schanzkleidung, dann sah er sich das Schiff an. Ein einziger Rundblick zeigte ihm größte Ordnung und mustergültige Sauberkeit; es war alles zweckmäßig eingerichtet, alles bestens erhalten und in gutem Zustand. Nur riesig hoch schienen ihm die Masten, – dort die Oberbramraa schwebte ja beinahe in den Wolken!

„Gott, da hinauf zu müssen!“ schüttelte sich der Agent. „Brr!“

Robert lachte. Ihm hüpfte das Herz vor Freude, als er wieder ein Schiff unter den Füßen fühlte. „Wollen Sie einmal sehen, wie es gemacht wird?“ rief er, – und im nächsten Augenblick flog er wie der Wind an den Tauen hinauf. „Ach, das ist der Mühe wert! – Kommen Sie mir doch nach, Sie glauben nicht, welche Aussicht man hier hat!“

„Scheußlich! Scheußlich!“

Der Mann schloß ängstlich die Augen, als sich Robert ziemlich rücksichtslos wieder herunterließ und gewandt auf die Fußspitzen sprang. „Aber wenn nun das Schiff schaukelt und auf der Seite liegt“, sagte er entsetzt, „wie machen Sie es dann?“

Roberts Augen leuchteten. „Dann wird es erst herrlich,“ rief er. „Wenn das Schiff schlingert und stampft, wenn der Sturm heult und der Regen die Augen blendet – dann hat die Sache erst ihren wahren Reiz!“

„Gott behüte mich, – welch ein Übermut!“

Inzwischen war der Obersteuermann an Deck gekommen und hatte sich den fixen, gutgewachsenen Jungen mit unverkennbarem Wohlwollen betrachtet. Solche Leute konnte man brauchen.

Der Agent sprach leise mit ihm, während sich Robert, nachdem er die Mütze abgenommen hatte, zurückhielt und dann, als eine Art von Verhör begann, offen antwortete. Der Obersteuermann nickte sehr zufrieden. „Wie werden etwa zehn bis zwölf Monate auf See bleiben“, fuhr er fort. „Wollen Sie für die ganze Reise heuern, und zwar mit fünf Dollar Handgeld, vier Dollar Monatslohn und Teilhaberschaft an einem Sechstel vom Reingewinn, so schreiben sie Ihren Namen in diese Musterrolle. Das Geld gibt es beim Eintritt in den Dienst.“

Robert spürte, wie ihm das Herz schlug. Es war, als werde er sich erst jetzt seines unüberlegten Streiches wirklich bewußt, als höre er, wie ihm Mohr zu flüsterte: „Tu's nicht, tu's nicht, – die Reue kommt nach.“

Aber dann schwebte ihm wieder die verlockende Seite der Sache vor Augen. Nein, nein, er mußte auch das ewige Eis sehen, mußte wissen, was es heißt, wirkliche Kälte zu ertragen, nachdem ihm die Tropensonne fast das Hirn verbrannt hatte, als er fiebernd und todesmatt auf der Insel lag. –

Er schrieb mit festen Zügen seinen Namen in das Register: Robert Eduard Kroll, Leichtmatrose. – So, jetzt rollte die Kugel, jetzt konnte er nicht mehr zurück und wollte es auch nicht. Er wollte die Welt sehen und etwas erleben. –

Der Obersteuermann nahm die Musterrolle zurück und befahl dem neuen Leichtmatrosen, übermorgen früh um sieben Uhr an Bord zu sein. Dann war er entlassen.

Der Agent kletterte wieder mit Ächzen und Seufzen das Fallreep hinab. Er schüttelte sich, als er auf der Hafenmauer stand und nach dem Segler zurückblickte. „Das Schiff heißt, ›Vogel Greif‹“, sagte er. „Aber ich möchte lieber auf dem festen Land ein Karrenschieber werden, bevor mich ein solcherVogel greifen dürfte! Doch die Neigungen sind ja verschieden, Herr Kroll, nicht wahr? Kann ich Ihnen bei Ihren Einkäufen noch behilflich sein, so verfügen Sie über mich.“

Robert dankte. „Und vergessen Sie nicht, zur verabredeten Zeit an Bord zu sein.“

Der schäbige Herr grüßte höflich. „Ich werde mich pünktlich einstellen!“

Die beiden trennten sich, und Robert ging, um sich für das nordische Klima einzukleiden. Derbes Wollzeug, schwere Seestiefel und dick gefütterte Jacken, dazu Fausthandschuhe und wollene Strümpfe, alles wurde zusammengekauft und in der Seekiste geordnet, denn Robert gehörte bei allen seinen Fehlern doch durchaus nicht zu denen, die das Geld sinnlos ausgeben. Er war eigensinnig, leidenschaftlich und vielleicht auch etwas eitel, er liebte die Ordnung und achtete darauf, daß er immer sauber aussah. Jetzt empörte ihn die heimliche Schurkerei der beiden Deutsch-Amerikaner. „Die eigenen Landsleute, arme, unwissende Auswanderer zu verraten und zu verkaufen,“ dachte er voll Entrüstung, „o pfui, wie schändlich! Aber wartet, Halunken, ich werde euch einen Denkzettel geben, an dem ihr länger als bis morgen zu kauen haben sollt!“

Er bezahlte am Morgen des zur Abreise bestimmten Tages seine Rechnung beim Schlafbaas, nahm die Kiste auf die Schulter und ging froh zum Hafen hinunter.

Jetzt begann das neue Leben. Nicht mehr Junge, nicht mehr mit du angeredet und von den älteren Matrosen gehänselt werden, nicht mehr die Arbeiten einer Scheuerfrau verrichten und vor allem die Aussicht auf Abenteuer! – Wer war glücklicher als er? – –

An Bord sah er etwa fünfundzwanzig bis dreißig sehr verschiedene Gesichter, schwarze, braune, gelbe und weiße, darunter auch die halb ängstlichen, halb verlegenen mehrerer Auswanderer, die vielleicht von Beruf Schuster oder Schneider waren, sich aber durch die Versprechungen des Schleppers zum Walfang hatten überreden lassen.

Eine Gruppe von ihnen stand flüsternd und scheu auf dem Vorderdeck. Erst wenn die ganze Mannschaft vollzählig und die Musterrolle verlesen war, gab es Handgeld, und erst dann konnte der widerwärtige Agent, der ganz abgesondert an der Schanzkleidung lehnte und alles scharf beobachtete, seinen Sündenlohn erhalten. Noch fehlten zwei Geworbene, wie Robert zufällig hörte, daher begrüßte er den Mann nur flüchtig und setzte sich auf seine Seekiste, um den Augenblick der Auszahlung zu erwarten.

Als die beiden letzten Auswanderer, – arme Hessen, die von weinenden Frauen und Kindern bis an die Jolle begleitet wurden – das Deck betreten hatten, verlas der Obersteuermann die Musterrolle und gab dann jedem einzelnen das versprochene Handgeld. Robert sah die Farbigen und diejenigen, deren Äußeres befahrene Seeleute verriet, mit den empfangenen Dollarnoten zum Logis zurückkehren, – es waren nur die anderen, die dem Agenten das Geld als Maklergebühr zu zahlen hatten.

Der Mann drängte sich jetzt schmunzelnd vor.

Roberts Augen funkelten. Er trat dicht an den Deutsch-Amerikaner heran und zwang ihn mit festem Griff, ihm in eine entlegene Ecke zu folgen.

„Sieh mich an, du Spitzbube“, sagte er leise, „hör zu, was ich dir jetzt zu sagen habe, und was du deinem würdigen Genossen, Herrn Hastedt, von mir bestellen kannst. Ihr seid beide ein paar Erzhalunken, die ihre in Not geratenen Landsleute in die Falle locken und an ein ungewisses Schicksal verkaufen wollten. Ihr spiegelt den armen, von Hunger und Elend getriebenen Menschen goldene Berge vor, während sie in Wirklichkeit das letzte verlieren und selbst ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Glaubt nicht, daß ihr mich getäuscht hättet! – Ich wollte aus anderen Gründen die Reise mitmachen, – aber die dort, die unglücklichen Auswanderer, das sind eure Opfer, ihr Teufel in Menschengestalt. Und jetzt antworte, du Schuft, willst du machen, daß du fortkommst, ohne auch nur einen einzigen Cent bekommen zu haben, oder willst du, daß ich laut meine Worte wiederhole? – Dann sei Gott deinem Rücken gnädig!“

Der Agent stand käsebleich vor dem erregten jungen Menschen. „Herr Kroll“, sagte er, „ich weiß nicht! – Sie verlangen Dinge, die –“

Robert ließ den Arm los. „Aha, du willst also nicht nachgeben? Du hoffst vielleicht auf den Beistand der Schiffsoffiziere? – Aber bei Gott, du sollst spüren, wie gern ich dir deinen Lohn auszahle. Ein Wort, und –“

Der Agent antwortete kein Wort mehr, sondern verschwand so schnell, daß man staunen mußte, wie gewandt er diesmal das Fallreep hinabkletterte. Robert sah sein ziemlich gewagtes Spiel vollständig gelungen, er hatte wieder einmal einer Gefahr getrotzt und die Oberhand behalten, – er war mit Recht stolz darauf.

Wenn der mit Kapitän und Obersteuermann unter einer Decke spielende Agent die Hilfe der beiden ernstlich angerufen hätte, so würde Robert nicht ohne Strafe davongekommen sein, aber er wußte und rechnete damit, daß der Makler im Bewußtsein seines Betrugs dazu nie den Mut finden würde, und so wagte er die Sache. Als der Agent in seiner Jolle so schnell davonfuhr, ohne sich auch nur noch ein einziges Mal umzusehen, wurden die andern aufmerksam, und endlich wurde Robert von allen Seiten gefragt, was er mit dem Mann verhandelt habe.

Doch er hütete sich, die Wahrheit zu sagen, und überließ es den Leuten, sich ihr eigenes Bild zu machen. Nur eins begriff er nicht. Was wollte der Kapitän mit diesen Jammergestalten?

Aber ihn kümmerte das nicht, besonders, da doch noch genug Matrosen an Bord zu sein schienen. Der Kapitän war noch an Land, konnte aber in jeder Minute eintreffen, und dann mußten die Anker gelichtet werden. Der kleine Schleppdampfer, der das Segelschiff aus dem Hafen bugsieren sollte, lag schon vorgespannt, und alles an Bord war zum Aufbruch gerüstet.

Als der Kapitän endlich an Deck erschien, wurden die zum Auslaufen nötigen Vorbereitungen getroffen, und Robert konnte sich den Mann genau ansehen, obwohl Kapitän Wright keinen der Matrosen zu bemerken schien, sondern ohne Gruß oder Blick in die Kajüte ging und selbst mit dem Obersteuermann nur wenige Worte wechselte. Robert sah, daß der Offizier beinahe militärische Haltung einnahm und daß er wiederholt die Hand an die Mütze legte, – alles Dinge, die man auf der „Antje Marie“ nicht gekannt hatte und die einen sehr strengen Vorgesetzten verrieten.

Er sah auch ganz so aus, dieser hochgewachsene Amerikaner mit den breiten, muskulösen Schultern. Sein Gesicht war regelmäßig, aber kalt, seine Augen grau und scharfblickend, Haar und Bart fuchsrot.

Wie bei so vielen Grönlandfahrern, gehörte auch in diesem Fall das Schiff nicht etwa einem Reeder, sondern dem Kapitän selbst, der vielleicht fremdes Geld darin stecken hatte, dem aber doch niemand Vorschriften für seine Reisen machen konnte. Thomas Wright war auf dem „Vogel Greif“ wie auf einer Insel im Weltmeer der unumschränkte Herr und König.

Bald nachdem er die Tür der Kajüte hinter sich geschlossen hatte, erschien auch der Lotse. Das Schiff erzitterte von Grund auf, legte ab und verließ fünf Minuten später den Hafen.

Der Lotse gab dem Mann am Steuer seine Anweisungen für den richtigen Kurs im Kielwasser des Schleppers, sonst war die Mannschaft unbeschäftigt, bis der Befehl gegeben wurde, die Marssegel zu lösen.

Robert als Leichtmatrose hatte mit mehreren andern die Oberbramsegel zu bedienen und war der erste oben in den Wanten, als das Kommando kam. Als er die ungewohnte Höhe erklettert hatte, glaubte er fast in den Wolken zu sein.

Den Hafen und die Stadt mit ihren Türmen und gewaltigen Häusermassen sah er jetzt wie die Figuren eines Jahrmarktes und mußte schnell auf seine Bändsel blicken, um nicht vom Schwindel ergriffen zu werden.

Nachdem alle Segel gelöst waren, konnten die Leute wieder eine Zeitlang im Logis bleiben, um ihre mitgebrachten Sachen zu verstauen und die erste Tagesmahlzeit in Empfang zu nehmen. Das war gegen die Verpflegung auf der „Antje Marie“ ein erheblicher Unterschied, besonders, da es Zucker und Branntwein überhaupt nicht gab. – Die Auswanderer bedankten sich für alles, was sie bekamen, während die Seeleute große Augen machten und manches halblaute „damned“ die zerflatternde Hoffnung auf einen tüchtigen Schluck Rum begleitete. Robert vermißte den Branntwein nicht als etwas, das er unbedingt brauchte, aber die unkluge Sparsamkeit des Kapitäns, die auf einen starrsinnigen, habsüchtigen Charakter schließen ließ, mißfiel ihm. Wer für eine Handvoll Dollar das herkömmliche Recht der Matrosen so verletzen konnte, der war bestimmt kein guter Mensch – und Robert haßte alles Unedle und Kleinliche.

Während er die Koje, das Logis und die Kombüse besichtigte, hatte das Schiff bei Sandy Hook die Schlepptaue des Dampfers gelöst, und nun erscholl anDeck das Kommando des Lotsen: „Braßt voll, hinten!“ –

Robert tat wieder seine Pflicht; der Kurs wurde östlich genommen, und nach einer Stunde voller Fahrt bei allen Segeln tauchte in der Ferne der Lotsenschoner auf, der an dieser Stelle ununterbrochen kreuzt, um von den Schiffen, sobald das offene Fahrwasser erreicht ist, die Lotsen wieder an Bord zu nehmen.

Der Obersteuermann benachrichtigte den Kapitän, der kurz darauf an Deck kam, um mit prüfendem Blick den Stand der Dinge zu mustern. Dann zog er die Brieftasche heraus und nahm einen Scheck, den er unterschrieb und dem Lotsen überreichte. „Eine Anweisung auf meinen Bankier in New York, Sir. Ich nehme nie bares Geld mit an Bord.“

Der Lotse machte ein erstauntes Gesicht. „Kein bares Geld, Kapitän? Aber es können doch Fälle eintreten, wo man es unbedingt braucht. In fremden Häfen –“

„Ich laufe keinen an, Sir.“

Der Lotse zuckte die Achseln. „Well, Kapitän, Sie können natürlich tun, was Ihnen richtig erscheint. Ich würde mich lieber für alle Fälle rüsten, besonders bei einer Fahrt in das Eismeer. – Lassen Sie bitte das Schiff backlegen, Sir“, wandte er sich an den Obersteuermann.

Inzwischen hatten die Schiffsjungen den Ölrock und die lederne Tasche des Lotsen in ein herabgelassenes Boot befördert, und der Kapitän ließ dem scheidenden Gast noch ein Glas Sherry bringen. Dann wurde das kleine Boot, nachdem es die kurze Entfernung bis zum Schoner zurückgelegt hatte, wieder eingeholt und der „Vogel Greif“ setzte seine Reise fort. –

Es ging alles wie am Schnürchen, alles wie auf einem Kriegsschiff, das stellte Robert schon während der folgenden Tage fest. An Deck wurde kein lautes Gespräch und kein Gesang erlaubt, aber auch an den Mahlzeiten gegeizt, als seien Schiffsbrot und Speck die teuersten Dinge, und mit den Resten des vorigen Tages wurde die nächste Mahlzeit womöglich wieder eingeschränkt.

Der Untersteuermann sah alles. „Morris“, sagte er bei einer Gelegenheit, „Ihr habt gestern Euer Fleisch nicht aufgegessen, und Ihr, Sheppard, ließt die Klöße stehen. Das geht nicht, – Ihr dürft das Eigentum des Kapitäns nicht verschwenden. Was übrig bleibt, das gebt dem Koch zurück!“

Gegen solche Ansprüche erhoben sich manche halblauten Einwendungen. „Wenn Eure Klöße wirklich Klöße wären, so würde ich sie auch gegessen haben“, brummte Sheppard, „aber Mehl und Wasser tun es nicht allein, Sir, das gibt kleine Kanonenkugeln, weil kein Tröpfchen Fett in den Teig gekommen ist.“

Der Untersteuermann schüttelte den Kopf. „Ihr seid ein sehr anspruchsvoller Bursche, Sheppard“, sagte er. „Wo sind denn die Klöße geblieben?“

„Ja, da müßt Ihr die Haifische fragen, Sir!“

Ein halbunterdrücktes Lachen folgte dieser Antwort. „Ich weiß, wo sie sind“, nickte Morris, – „bei meinem Fleisch, das zufällig ein Knochen war. Ich entschädige mich dafür durch Aufzählung aller Branntweinrationen, die uns seit Beginn der Reise vorenthalten worden sind.“

Der Untersteuermann hielt es für besser, die Unterredung zum Abschluß zu bringen. Jeder Matrose fühlt sich durch schlechte Küche in seinen heiligsten Empfindungen verletzt, das wußte er und fürchtete mit Recht, daß ein verstärkter Druck vielleicht einen Ausbruch herbeiführen könnte. Wenn er aber auch für diesen Tag schwieg, so folgten doch viele Tage und viele ähnliche Auftritte. Es wurde bei bestem Wetter ständig Ost-Nord-Ost gesteuert, und Robert konnte nicht umhin, dem Kapitän das Zeugnis eines hervorragenden Seemanns zuzugestehen. Thomas Wright hielt seine Wache so gut wie der letzte Kajütenjunge, er ließ sich durch den Obersteuermann pünktlich alle vier Stunden wecken und machte persönlich eine Runde, um den Stand der Dinge bis ins kleinste hinein selbst zu beurteilen. Als man in die Nähe der Newfoundlandsbänke kam, schlief er nur für Augenblicke auf dem Sofa und ging dann an der gefährlichsten Stelle während der ganzen Nacht auf Deck von einer Seite zur anderen, um Ausschau zu halten.

„So möchte ich werden!“ dachte Robert. „Aber kein Leuteschinder; er ist ein Geizhals durch und durch.“

Der unzufriedene Sheppard, der neben ihm auf seiner Kiste saß und vielleicht beim Anblick des rastlosen Kapitäns das gleiche dachte, stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite. „Du“, sagte er, „heuerst du zum zweitenmal auf dem ›Vogel Greif‹?“

„Wieso? Ich fahre überhaupt auf keinem Schiff zum zweitenmal.“

„Oho! – Das Meer sieht sich überall ähnlich, mein Junge, und vom Land kriegt man ja doch verdammt wenig zu sehen. Wo es gute ›Asche‹ setzt“, hier machte er die Fingerbewegung des Zählens – „da werfe ich Anker.“

Robert ging auf die letzte Anspielung nicht ein. „Warum fragst du also?“ sagte er.

„Na – wegen der Verpflegung. Komm erst einmal in die Breiten, wo es fünfzehn Grad Kälte gibt, und dann mit leerem Magen und ohne einen Tropfen Rum, da wirst du die Geschichte schon unbequem finden.“

Robert zuckte die Achseln. „Der Kapitän ißt, was wir bekommen“, antwortete er. „Es wird für ihn nichts anderes gekocht, also was willst du?“

Aber der Amerikaner gab nicht nach. „Gerade das ist eine Schande“, sagte er. „Man muß seine Vorgesetzten auch achten können, wenn es gut gehen soll. Der aber würde immer nur Furcht erwecken, das heißt, mir nicht. Ich hielte ihm lieber heute als morgen meine Faust unter die Nase.“

Robert lachte. „Lieber nicht, Kamerad. Er antwortet dir bestimmt mit Kettenarrest, darauf kannst du dich fest verlassen. Und vielleicht gibt's ja bald auch Branntwein.“

„Den Teufel gibt es. Der ›Vogel Greif‹ behält keinen Mann länger als für die eine Reise, während der man ja nicht von Bord kann, nachher gehen alle. Es ist auf dem ganzen Schiff nicht einer, der vor der letzten Ausfahrt schon dagewesen wäre. Wie bist du eigentlich hierher geraten, wo doch meistens nur – –, du weißt schon, was ich meine.“

Aber an Roberts erstauntem Gesicht sah er, daß der wirklich nicht wußte, worum es sich handelte. „Nun, nun“, fügte er rasch hinzu, „man hat ja verschiedene Gründe. Und du bist ja überhaupt noch zu jung, um schon einmal drüben gewesen zu sein.“

„Wo drüben?“

„Im Sing-Sing (das Zuchthaus des Staates New York)! Heutzutage heuert ja niemand, dessen Papiere ganz sauber sind, auf einem Grönlandfahrer. Aber wenn man einmal von den verdammten Tintenklecksern ins schwarze Buch geschrieben ist, dann ist es schwer, einen guten Kapitän zu finden.“

Robert lachte, diesmal jedoch etwas gezwungen. „Nein“, rief er, „das waren wirklich nicht meine Gründe. Aber, – verzeih, ich will dich nicht beleidigen – aber bist denn du – – –?“

Sheppard nickte. „Ja“, seufzte er, „leider. Aber ich bin kein Dieb oder Straßenräuber. Es ging nur einmal unglücklicherweise eine Pistole los, im Streit natürlich, – na, und die traf einen anderen vor die Stirn. So kommt es im Leben.“

Robert bewahrte seine äußere Ruhe, obwohl ihm das Herz heftig schlug. Er war von den Bukaniern der westindischen Inseln schon einiges gewohnt, daher erschrak er nicht so sehr, trotzdem aber hatte er ein unangenehmes Gefühl. Neben ihm saß also wieder einmal ein Mörder, und vielleicht waren unter der übrigen Mannschaft noch mehrere, die auch keine bessere Vergangenheit hatten.

Das Blut stieg ihm heiß zu Kopf. Wenn er das vorher gewußt hätte!

„Nun“, fuhr Sheppard fort, „du bist mir auf meine erste Frage noch die Antwort schuldig. Wie bist du hierher gekommen?“

Robert nahm sich gewaltsam zusammen. „Oh“, sagte er, „ich wollte die Welt kennenlernen, weiter nichts.“

Der Amerikaner rückte näher. „Halten wir zusammen, du?“ fragte er.

„In allem, was recht ist, ja.“

„Du bist ein Schlauberger!“ lächelte Sheppard. „Aber ich meine auch nur das, was recht ist, verlaß dich darauf.“

„Dann sind wir gute Kameraden.“

Hier wurde die Unterhaltung von anderen unterbrochen, und es vergingen mehrere Tage, ohne daß Robert wieder mit dem Amerikaner sprach. Man hatte jetzt die gefährlichen Bänke hinter sich und segelte im nördlichen Atlantik. – Die Auswanderer mußten, da sie zum Seedienst untauglich waren, das Schiff scheuern, Kartoffeln schälen, Geräte reinigen und andere untergeordnete Arbeiten leisten, also blieben die Leichtmatrosen von diesen unangenehmen Dingen ganz verschont. Robert konnte manche freie Stunde dazu verwenden, einige gute Bücher, die ihm der Untersteuermann lieh, zu lesen und dadurch seine geistige Ausbildung fördern. Während die andern würfelten oder auf den Kapitän schimpften, vertiefte er sich in Werke über Länder- und Völkerkunde, oder er versuchte sein Matrosenenglisch durch grammatische Kenntnisse zu erweitern.

Die Insel Jan Mayen war erreicht, Robert sah Scharen von Seehunden auf den Eisfeldern liegen und erwartete, daß jetzt eine aufregende Jagd beginnen müsse, aber der Kapitän erklärte, keine Seehunde fangen zu wollen.

Die Leute sahen sich an. „Paßt auf“, raunte Sheppard, „er will bis nach Nowaja Semlja hinauf, um Wale zu fangen. Diese Fische sind jetzt so selten geworden, daß man bis an solche entlegenen Küsten vordringen muß, um sie zu treffen. Es wird gerade Tag geworden sein, wenn wir in der Eiswüste ankommen.“

Mehrere andere, besonders die Auswanderer hörten bedenklich zu. „Gerade Tag, Sheppard, wie meinst du das?“

Der Amerikaner lächelte ärgerlich. „Gerade so, wie ich es sagte, Jungens. Auf Nowaja Semlja herrscht von Oktober bis Anfang März ununterbrochene Nacht. In diesen Breiten kann kein Mensch leben, und das Innere der Insel ist so unbekannt und unerforscht, wie das Innere von Afrika.“

Die biederen Schuster und Schneider schüttelten sich vor Angst. „Jesus“, fragte einer, „ist es denn auf dem Meer auch Nacht?“

Gelächter der Seeleute antwortete ihm. „Nun“, tröstete Sheppard, „es wird ja Mitte März werden, bis wir frühestens da oben angelangt sind, wenn – – –“ hier machte er eine Kunstpause und sah langsam von einem zum andern, „wenn wir uns überhaupt damit einverstanden erklären, daß das Schiff so weit gegen die Eisgrenze vordringt.“

Robert antwortete mit einem bedeutsamen Wink. „Sheppard“, sagte er, „überleg dir deine Worte, Mann.“

Der Amerikaner zuckte die Achseln. „Ich meine nur so, Robert“, sagte er. „Wenn alle so dächten wie ich, dann würde bei Jan Mayen der Seehund gejagt, und nicht bei solcher Verpflegung, wie wir sie bekommen, blindlings auf die Eisgrenze losgesteuert.“

Mehrere andere umdrängten ihn. „Was meinst du damit, Sheppard?“ fragten sie. „Gibt es denn eine Grenze, wo das Wasser aufhört flüssig zu sein, wo, wie man so sagt, die Welt mit Brettern vernagelt ist?“

Sheppard nickte. „Ich bin 1864 mit Nordenskjöld dort oben gewesen“, sagte er, „und weiß Bescheid. Da müßt ihr euch außerhalb des heizbaren Raumes das Getränk so in den Mund schütten, daß eure Lippen von dem Gefäß nicht berührt werden. Die Kälte ist so stark, daß das Metall die Haut zu verbrennen scheint.“

„O Gott! – Davon hat in New York der Agent keine Silbe gesagt.“

Der Amerikaner lachte spöttisch. „Das glaube ich euch, Leute. Würde auch verdammt schlecht als Empfehlung gepaßt haben, meine ich.“

Robert schwieg. Er hatte über die Erlebnisse verschiedener Forscher zu viel gelesen, um nicht zu wissen, daß Sheppard die Wahrheit sprach, aber einerseits schreckte ihn der Gedanke an bevorstehende Strapazen nicht besonders zurück, und zum andern hielt er es nicht für richtig, die Stimmung der Leute so zu beeinflussen.

Doch Sheppard gab nicht nach. „Wenn wir nur ganz einig wären“, fuhr er fort, „dann ließe sich die Sache so leicht machen. Man erklärt dem Kapitän ganz höflich, daß er entweder umkehren oder die ganze Arbeit allein machen müsse. So wird ihm die Wahl sehr vereinfacht, sollte ich meinen!“

Robert sah in Sheppards erregtes Gesicht. „Das ist die eine Seite der Sache“, sagte er möglichst unbefangen, „aber es gibt auch noch eine zweite. Wenn wir das Pech hätten, einem amerikanischen Kriegsschiff zu begegnen, so könnte es uns passieren, daß wir sämtlich mit einer Kanonenkugel unter den Füßen an die Raa gehängt würden. Hast du daran auch gedacht, Kamerad?“

„Pah, ein Kriegsschiff kommt nicht hierher. Und außerdem, sterben müssen wir doch, wenn bei Nowaja Semlja ohne Branntwein gejagt werden soll. Ich will lieber an der Unterraa hängen, als verhungern und erfrieren.“

„Ich auch!“ antworteten mehrere Stimmen.

„Hört“, meinte Morris, nachdem eine drückende Pause vergangen war, „ich hätte euch etwas Vernünftiges vorzuschlagen. Sagt aber vorher eins! Weiß jemand, ob auch wirklich Branntwein an Bord ist? Denn sonst helfen ja alle Worte nichts.“

Wenigstens zehn bis zwölf Männer riefen einstimmig: „Es ist genug da! Wir haben mehrere Fässer voll gesehen.“

„Well“, nickte Morris, „dann schickt in aller Güte eine Abordnung zum Kapitän und laßt ihn um eine kleine tägliche Ration bitten. Wir werden ja daraus sehen, wie er denkt.“

Sheppard kräuselte spöttisch die Lippen. „Versucht es“, antwortete er kurz. „Beugt den Nacken, und er wird ohne zu zögern darauf treten. Übrigens – wer wollte denn zu ihm gehen und um etwas bitten?“

„Ich!“ – „Und ich!“ – „Wir auch!“ kam es von allen Seiten.

Sheppard kreuzte die Arme. „Zu dem rothaarigen Judas? ›Hütet euch vor den Gezeichneten‹, steht in der Bibel!“

Roberts Blicke gingen wieder zu dem Matrosen. „Sheppard, kannst du im Ernst so ungerecht sein, einen Mann um der Farbe seines Haares willen als schlechten Menschen hinzustellen?“

Sheppard lachte. „Die Bibel sagt es ja, nicht ich“, antwortete er. „Übrigens scheinst du als Seemann deinen Beruf ein wenig verfehlt zu haben, mein Kleiner. Hättest lieber ein Geistlicher werden sollen. Der Reverend Kroll hätte bestimmt auf seine Zuhörer einen gewaltigen Eindruck gemacht.“

Robert errötete, aber er blieb ruhig. „Das ist möglich, Sheppard. Mir war aber das Seemannsleben doch lieber, besonders weil ich – seine Gefahren und Entbehrungen nicht so hoch bewerte. Nehmt mich gefälligst aus, wenn ihr im Namen der Mannschaft um Rum bittet.“

Die Augen des Amerikaners blitzten. „Du bist wirklich für deine siebzehn Jahre ziemlich vorlaut“, sagte er. „Aber warte doch ein wenig, bis du das letzte Wort sprichst. Ich habe noch eine Trumpfkarte auszuspielen, die auch dich stutzig machen wird, mein Junge.“

Robert bewahrte seine kühle Haltung. „Meinetwegen, Sheppard“, sagte er.

Der Matrose sah von einem zum andern. Er schien sich an der angstvollen Spannung der Gesichter heimlich zu freuen. „Hört also“, begann er, „daß uns etwas Furchtbares droht! – Im Logis liegt einer der Männer krank und elend in seiner Koje, – er hat Skorbut!“

Sheppard sprach halblaut und machte lange Pausen zwischen seinen Worten, um ihre Wirkung zu erhöhen.

Keiner wagte eine Silbe zu sprechen. Jeder fühlte zentnerschwer das Gewicht des Gesagten, mehr als einer wurde bleich bis in die Lippen.

„Steckt das an?“ fragte endlich zaghaft einer der Auswanderer.

„Wie die Pest!“ antwortete Sheppard. „Voraussichtlich wird kein Mann auf dem ganzen Schiff verschont bleiben, und warum das? – Weil der Kapitän mit Branntwein, Zucker und Sauerkraut an uns gespart hat, weil er uns zwingt, in unmenschlicher Kälte zu leben. Dadurch kommt der Skorbut, und wir müssen umkehren, ehe es zu spät ist.“

Man sah jetzt, wie die Aufregung stieg. Einzelne Gruppen flüsterten, und das Für und Wider wurde lebhaft erwogen. „Aber wenn er nicht will, wenn er durchaus nicht will?“ fragten die Zaghaftesten.

„Er muß, wenn wir wollen!“

„Der verfluchte Agent!“ hieß es jetzt. „Der Betrüger, der uns ins Unglück gestürzt hat. Kanntest du ihn, Robert? – Du sprachst bei der Abreise so eifrig mit ihm, daß er darüber ganz vergaß, die Maklergebühr von uns zu fordern.“

Robert lächelte. „Ja“, sagte er gedehnt, „das vergaß er, – vielleicht, weil ich es so wollte. Ich fand es schon schlimm genug, daß er euch auf einen Grönlandfahrer gelockt hatte und fand, daß er dafür keine besondere Belohnung mehr brauchte.“

Sheppard hatte erstaunt zugehört. Jetzt schlug er derb auf Roberts Schulter. „Das war brav von dir, Junge“, sagte er lebhaft. „Wie fingst du das an?“

„Nun – ich versprach ihm eine Tracht Prügel. Das ist sehr einfach.“

„Teufelskerl!“ lachte der Amerikaner. „Und wer solche Haare auf den Zähnen hat, wie du, der will sich gegen seine Kameraden mit einem Leuteschinder von Kapitän verbünden?“

„Durchaus nicht. Aber ich finde, daß Männer den Entbehrungen widerstehen müßten, daß ihr nur des vernachlässigten Magens wegen nicht klein werden dürftet. Hat einer von der Mannschaft den Skorbut, so ist das schlimm, aber die Behauptung, daß wir alle ihn bekommen, scheint mir ziemlich gewagt.“

„Das ist sie nicht. Die Krankheit steckt an, sage ich euch!“

Robert schüttelte den Kopf. Er ging, ohne ein weiteres Wort hinzuzufügen, an die Koje des Kranken und fragte ihn freundlich, ob er etwas für ihn tun könne, aber der Arme hörte ihn kaum. „Etwas Säuerliches“, flüsterte er halb verständlich, „etwas Säuerliches zu trinken.“

Roberts gutes Herz empörte sich in diesem Augenblick gegen die Härte des Kapitäns vielleicht noch mehr, als es bei den andern der Fall gewesen war. Alle anderen dachten an sich selbst, er dagegen hatte nur den hilflosen Kranken im Auge.

„Ich will sehen, was ich machen kann!“ tröstete er und blieb dann überlegend vor der Tür des Logis stehen. Eine schneidende Kälte fuhr ihm entgegen, der Schnee wirbelte um seinen Kopf, und der Atem stockte ihm fast in der Kehle. Wie Eisbären, beschneit und von oben bis unten in ihre Jacken geknöpft, sahen die wachthabenden Matrosen aus.

Robert blickte über das Schiff weg zur Tür der Kajüte. „Ob ich geradewegs zu ihm gehe und ihm die Sache vortrage?“ dachte er. „Ich darf es eigentlich nicht, es ist gegen alle Schiffsgesetze, aber wenn noch ein Funke von Menschlichkeit zurückgeblieben ist, so muß er den Kranken besser verpflegen.“

Der Obersteuermann, der gerade Wache hatte, ging in diesem Augenblick nahe an Robert vorüber.

Robert berührte leicht mit der Hand die Mütze. „Herr Obersteuermann,“ fragte er, „wissen Sie, daß einer der Matrosen krank ist?“

Der Offizier runzelte die Stirn. „Ja“, sagte er kurz. „Und was kümmert das Euch, wenn man fragen darf?“

„Alles, Herr Obersteuermann. Für den Kranken wie für die gesamte Besatzung des Schiffes. Der Matrose hat Skorbut.“

Mr. Pikes, der Obersteuermann, sah flüchtig hinüber zur Kajüte, als fürchte er, daß möglicherweise drinnen das schlimme Wort gehört sein könne. „Still!“ raunte er in barschem, befehlendem Ton. „Wohinein mischt Ihr Euch? – Das ist kein Skorbut, und der Kranke ist nur einer dieser faulen hessischen Brotfresser, die der Kapitän umsonst füttert, bis später die gefangenen Fische zerhackt und ausgebraten werden. Für diese Weiberarbeiten bekommt die Bande den vollen Matrosenlohn, und dann reißt sie noch das unverschämte Maul weit auf. Kümmert Euch nicht um den Mann, Kroll, ich rate Euch gut.“

Aber Robert schüttelte den Kopf. Sein alter Trotz brach wieder durch. „Herr Obersteuermann“, antwortete er, „das ist gleich, wer von der Mannschaft erkrankt. Keiner darf ohne Pflege bleiben. Wollen Sie den Kapitän bitten, sich der Sache anzunehmen? Weiß er überhaupt, daß der Skorbut ausgebrochen ist?“

Mr. Pikes stampfte mit dem Fuß auf. „Woher wißt Ihr das?“ rief er.

„Von Sheppard, der diese Krankheit zu kennen behauptet. Ich selbst war eben noch bei dem unglücklichen Menschen. Es wird doch an Bord eine Apotheke sein?“

Mr. Pikes antwortete darauf nicht. „Geht ins Logis, Kroll“, sagte er. „Das ist alles meine Sache, nicht aber Eure.“

„Sie wollen also dem Kapitän keine Mitteilung machen, Herr Obersteuermann? Dann geschieht es von anderer Seite, verlassen Sie sich darauf.“

„Ah! – Drohungen?“

„Nein. Aber ich will Sheppard und den andern das sagen, was ich eben von Ihnen hörte, Mr. Pikes. Dann geht eine Abordnung der Matrosen zum Kapitän und vertritt bei ihm die Sache des kranken Kameraden. Ich hoffe, daß Sie hierin keinen Verstoß gegen die Schiffsgesetze sehen.“

Der Obersteuermann, ein Amerikaner vom gleichen harten Holz wie der Kapitän, – der Obersteuermann sah mit aufeinandergepreßten Lippen in das frische Gesicht des hochaufgeschossenen Matrosen. Er hatte mit dem geübten Blick langjähriger Erfahrung schon längst den Stand der Dinge erkannt und wußte, daß ein einziges Fünkchen genügte, um das Pulverfaß in die Luft zu sprengen. Er selbst mußte auf der Seite des Kapitäns stehen und schien nicht daran zu zweifeln, wer die Oberhand behalten würde.

„Sprecht nicht von Skorbut!“ sagte er leichthin. „Der Kranke wird natürlich in Behandlung genommen werden, aber wozu gleich Lärm schlagen? Ich will den Kapitän benachrichtigen.“

Robert griff wieder an seine Mütze, und der Obersteuermann sah ihm, als er in das Logis zurückging, böse nach. „Was bis jetzt auf allen Schiffen gelungen ist“, dachte er grimmig, „das mußte gerade hier fehlschlagen. Es war mir unmöglich, unter den Matrosen verschiedene Parteien zu bilden, ich konnte keinen einzigen auf meine, das heißt auf die Seite des Kapitäns bringen. Aber weshalb entzieht er auch den Kerlen das letzte, warum knausert er um ein paar Dollar für Grog? – Verdammt, daß ich ihm jetzt die Geschichte melden muß.“

Er zögerte noch so lange wie möglich und ging erst, nachdem seine Wache abgelaufen war, zum Kapitän in die Kajüte. Dort sagte er, daß sich einer der Auswanderer krank gemeldet habe.

Thomas Wright blickte auf. „Was ist es, Mr. Pikes?“

Der zuckte die Achseln. „Kommen Sie selbst herüber, Herr Kapitän. Faulheit scheint es nicht zu sein. Der Mann hat volles Bewußtsein, aber die Lippen sind blau, das Gesicht leichenblaß und die Augen eingesunken. Er klagt über Gliederreißen.“

Der Kapitän zog die Mundwinkel herab. „Es ist gut“, sagte er rasch. „Ich komme.“

Und fünf Minuten später erschien er im Logis, wo ihn ein unheimliches Schweigen empfing. Der Obersteuermann begleitete seinen Vorgesetzten und führte ihn an die Koje des Kranken. „Hier, Herr Kapitän. Der Mann ist offenbar leidend.“

Thomas Wright beugte sich über den Unglücklichen und untersuchte sorgfältig dessen Zahnfleisch. Mit einem leisen „damned“ richtete er sich wieder auf. „Es soll sofort im Raum zwischen den Fässern ein Lager zurechtgemacht werden“, befahl er, „und dorthin bringt ihr den Kranken mit dem nötigen Bettzeug. Der Koch soll ihm Pflaumen so zubereiten, daß er sie trinken kann, außerdem muß ihm der Mund dreimal täglich mit Löffelkrautspiritus ausgewaschen werden. Macht, daß ihr hinunterkommt, und friert den Kranken, so legt eine Wärmflasche an seine Füße. Das ganze Logis wird sofort mit Karbolessig gescheuert.“

Er sprach die Worte in festem, befehlendem Ton, er war so vollständig der Herr der Lage, daß niemand daran dachte, sich dieser grausamen Anordnung zu widersetzen. Begleitet von einem „Zu Befehl, Herr Kapitän“ – des Obersteuermanns, verließ er das Logis.

Der Kranke kümmerte sich um nichts. Leise wimmernd lag er da.

Sheppard war der erste, der wieder Worte fand. „Habt ihr nun den Beweis?“ raunte er. „Es ist Skorbut, und der arme Teufel soll da hinunter in die Eisluft, um so schnell wie möglich zu – sterben.“

„Nun, nun“, begütigte ein anderer. „So schlimm braucht man es ja nicht gleich zu sehen. Es geschieht, um uns zu schützen.“

Sheppard zuckte die Achseln. „In drei Tagen haben wir einen Toten“, sagte er. „Bis dahin aber werden noch mehr Leute erkrankt sein, paßt nur auf, was ich sage. Wer zwanzig Jahre lang zur See gefahren ist, der kennt die Geschichte.“

Morris spuckte grimmig den Kautabak auf den Fußboden. „Ist es nicht schändlich“, flüsterte er, „daß der Kapitän mit Gewalt Walfische jagen will? Alle diese Eisinseln, an denen wir vorüberkommen, sind voll von Walrossen, die Seehunde gar nicht zu zählen, – aber nein, der Kapitän hat es nur auf Walfische abgesehen.“

„Ich weiß weshalb“, fuhr Sheppard fort. „Dies ist seine letzte Reise. Er will dann den ›Vogel Greif‹ verkaufen und in New York Häuserspekulant werden. Vorher aber will er noch einen guten Fang von Spermfischen machen. Diese Tiere liefern ja den teuern Walrat für Kirchenlichter, also ist eine Ladung davon ein kleines Vermögen für sich allein. Daß wir darunter leiden, den geizigen Kapitän reich zu machen, daß vielleicht mehrere von uns dabei drauf gehen, – was fragt er danach?“

Inzwischen hatten mehrere Matrosen den Kranken aufgenommen, in Wolldecken gehüllt und hinuntergetragen in den Raum, wo er auf altem Segeltuch gebettet wurde. Die Luft war hier schrecklich. Über einer Ladung von Ballast lagen die für den Tran bestimmten Fässer, die einen so abscheulichen Geruch ausströmten, daß es fast unmöglich war, in ihrer Nähe zu atmen. Dazu kam die Kälte des ungeschützten, unter der Oberfläche des Wassers liegenden Raumes, die feuchte, drückende Luft und die ständige Dunkelheit, die durch keinen Tageslichtschimmer erhellt wurde. Hier gesund zu werden, schien ganz unmöglich.

Nachdem der Umzug des Kranken beendet war, mußten die Auswanderer das Volkslogis von oben bis unten reinigen. Die Matrosen von der Freiwache halfen unaufgefordert mit, und es schien fast, als ob die Ruhe wieder einigermaßen hergestellt sei, da brachte ein Zwischenfall neuen Zündstoff. Einer der Auswanderer wollte die Luke öffnen und zu seinem kranken Gefährten in den Raum hinabklettern, um nach ihm zu sehen, aber der Obersteuermann vertrat ihm rasch den Weg „Niemand darf hinunter!“ befahl er. „Der Kapitän hat es verboten.“

Der Mann wagte keinen Widerspruch, aber die Sache wirkte auf die Leute sehr entmutigend, und Sheppard nahm die Gelegenheit wahr, das Feuer zu schüren. „Der da unten krepiert wie ein Hund“, sagte er, „und nach ihm kommen andere. Vielleicht wandern wir alle in den Raum hinab, um dann in ein paar Tagen den Haifischen vorgesetzt zu werden. Ihr wollt es ja nicht besser haben.“

„Es ist zu gewagt!“ meinten einige. „Wir haben heute den letzten Tag im Februar“, sagten andere, „in wenigen Tagen muß ja unser Ziel erreicht sein, in jedem Augenblick kann sich die erste Walfischherde zeigen, – warum sollen wir also in zwölfter Stunde noch ein Wagnis unternehmen?“

Dabei blieb es, und die Leute taten nach wie vor ihre Arbeit, aber unter drückendem Schweigen, das der Kapitän offenbar sehr wohl bemerkte. Er hatte gewiß seine bestimmten Gründe, als er befahl, die Harpunen hervorzuholen, instand zu setzen und Leinen daran zu befestigen. Ebenso ließ er größere Stücke Fleisch kochen und mit Schiffsbrot und Wasser in Körbe packen, damit alles bereit sei, die Boote zu besteigen, wenn sich ein Walfisch zeigen sollte.

Es kam aber keiner. Walrosse und Pinguine auf allen Eisschollen, träge Seehunde, die sich im kümmerlichen Sonnenschein ausruhten, Eisbären, die ihre furchtbaren Pranken gegen das Schiff erhoben, weiße Füchse und Robben, alles war zahlreich vertreten, aber weit und breit von Walfischen nichts zu sehen. –

Der Kranke im Raum mußte noch leben, da keine Bestattung angeordnet war, aber keiner seiner Gefährten hörte etwas von ihm. In aller Stille waren noch drei weitere Männer hinuntergeschafft worden, und zwei andere klagten heimlich über Gliederschmerzen, aber sie flehten die übrigen an, davon dem Obersteuermann nichts zu sagen, das schreckliche Gefängnis unter Deck war ja schlimmer als selbst der Tod.

Am Abend des vierten Tages ließ der Kapitän sämtliche Harpunen in seine Kajüte bringen. Er selbst, der Obersteuermann und die beiden Untersteuerleute standen vielleicht nicht ganz zufällig dicht nebeneinander, als der Befehl gegeben wurde, zwei Stücke Segeltuch sowie zwei Trossen Bindgarn bereit zu halten und an zwei Brettern kleine Säcke mit Steinkohlen zu befestigen.

Totenstille folgte den Worten. Sheppard streckte verstohlen zwei Finger aus. „Zwei Leichen!“ sagten seine Augen.

Und jeder hatte ihn verstanden. Der Befehl mußte lauter und nachdrücklicher wiederholt werden, bevor er befolgt wurde.

Es war ganz klare, heitere Luft, natürlich unter schneidender Kälte, da man sich dem 75. Grad nördlicher Breite nahe befand. Riesige Eisschollen dehnten sich rechts und links, Eisberge segelten in majestätischer Pracht nickend und winkend von fernher vorüber, eine blutrote Sonne, Kälte verheißend und machtlos, sank gegen den Horizont herab, fast gänzliche Windstille lag über der eingefrorenen Welt.

Der Obersteuermann befahl vier Matrosen, in den Raum hinabzusteigen und die Leichen, in ihre Decken gehüllt, heraufzutragen. Als jedoch die Luken geöffnet wurden, ertönten aus dem Innern des Schiffes schwache, wimmernde Laute, die einen Stein hätten, rühren müssen. Die unglücklichen Kranken baten um Gottes willen, sie in freier Luft, unter Menschen und wie Menschen sterben zu lassen, aber nicht in dem gräßlichen, lichtlosen, von solcher Pestluft erfüllten Raum.

„Erbarmen! Erbarmen!“ jammerte es. „Um Gottes willen, Erbarmen!“

Wie ein Mann drangen die Matrosen bis zur großen Luke vor. Ohne eine Frage, eine Erklärung wollten sie die sterbenden Menschen an Deck bringen, – da ertönte die Stimme des Kapitäns. „Die Kranken bleiben im Raum! – Holt die Leichen!“

Ein Schrei der Entrüstung antwortete ihm. „Das ist Barbarei!“ rief Sheppard. „Auf, Jungens, das läßt sich kein redlicher Mann. gefallen!“

Der Kapitän hatte sich blitzschnell zur Kajüte gewandt und stand dann vor dem ganzen erbitterten Haufen seiner Leute, ehe noch einer Zeit fand, sich zu entschließen. In der Rechten hielt er die blitzende Harpune.

„Der erste, der ohne meinen Befehl in den Raum hinabsteigt, hat das Eisen im Leibe!“ sagte er so kaltblütig, als habe er die gleichgültigste Maßnahme angeordnet. „Vier Mann vor! Ihr da und ihr!“

Er bezeichnete die Männer, welche die Toten heraufschaffen sollten, mit ausgestreckter Hand. „Beeilt euch!“ fügte er hinzu.

„Erbarmen, Erbarmen!“ wimmerte es unten. „Gott im Himmel, vergib uns unsere Sünden, erlöse uns vom Übel!“ –

Robert drängte sich vor. Sein Gesicht war leichenblaß.

„Herr Kapitän“, rief er außer sich, „Sie versuchen Gott!“

Sheppard jauchzte. „Hast du endlich genug, Kamerad? – Auf, laßt uns die Kranken heraufholen, selbst wenn dafür einer von uns harpuniert werden sollte wie ein Tier. Dann wird der Mörder von den übrigen in Stücke zerrissen.“

Wilde Blicke und wilde Rufe antworteten von allen Seiten. „Herr Kapitän“, rief Robert, „Sie haben mir gedroht; und ich werde der erste sein, der hinabsteigt. Ich setze mein Leben ein für meine gerechte Überzeugung!“

Er betrat die Leiter und kletterte in den Raum, während Thomas Wright, rasend vor Zorn, die schreckliche Waffe durch die Luft schleuderte.

Das alles geschah innerhalb weniger Minuten.

Sheppard, der ununterbrochen die Bewegungen des Kapitäns verfolgt hatte, hob im gleichen Augenblick, als die Waffe geschleudert wurde, eine Stange, die er schon vorher ergriffen hatte, und die Harpune, kräftig getroffen, flog wie vom Bogen geschnellt durch das Takelwerk und weit hinaus in das stille, eisglitzernde Wasser. Ebenso schnell hatten drei oder vier Matrosen vor der Tür der Kajüte Posten gefaßt.

Der Kapitän und seine Getreuen hatten nur die Wahl, entweder ihre Sache verloren zu geben oder sich mit der Mannschaft in einen Faustkampf einzulassen. Es war Mr. Pikes, der Obersteuermann, der den schäumenden Kapitän an beiden Schultern ergriff und ihn hinderte, sich auf Sheppard zu stürzen.

„Ruhig, um Gottes willen, ruhig!“ mahnte er. „Noch ist kein Verbrechen geschehen, noch läßt sich alles in Güte ausgleichen. Herr Kapitän, lassen Sie die Leute, damit erst die Leichenbestattung vor sich gehen kann. Wollen wir denn unsere toten Kameraden ohne alle Feierlichkeit über Bord werfen?“

Sheppard lachte. „Die Harpunen heraus, oder wir weichen keinen Schritt.“

„Holt sie!“ befahl Mr. Pikes, der für den halb besinnunglosen Kapitän eintrat. „Dann aber gebt Ruhe.“

Sheppard und Morris betraten die Kajüte, um die schweren Wurfgeschosse in das Mannschaftslogis hinüberzubringen. Sie nahmen auch die beiden Revolver des Kapitäns an sich.

Als die beiden Männer das Deck betraten, sahen sie, wie Robert mit mehreren andern die Kranken heraufschaffte. Beide lagen im Sterben, aber sie dankten dennoch durch rührende Blicke und halblaute Worte ihren Helfern.

Inzwischen waren auch die Toten eingehüllt und auf ihrem letzten, mit einer Last von Kohlen beschwerten Lager befestigt worden.

„Herr Obersteuermann“, sagte Sheppard ruhig, „wollen Sie das Schiff beilegen lassen?“

Mr. Pikes antwortete ihm keine Silbe. Er redete dem Kapitän zu, sich mit Fassung in das Unabänderliche zu fügen und scheinbar nachzugeben. „Über kurz oder lang bietet sich die Gelegenheit zu einem Handstreich!“ fügte er flüsternd hinzu, „wir lassen dann die Rädelsführer in Eisen legen und haben gewonnenes Spiel. Gehen Sie jetzt in die Kajüte.“

Thomas Wright schien das einzusehen, oder er war vielleicht vor Zorn unfähig sich zu fassen, jedenfalls gehorchte er wie ein Kind, und nachdem er sich entfernt hatte, gab der Obersteuermann die erforderlichen Befehle, das Schiff beizulegen. Als der „Vogel Greif“ mit weitausgespannten Flügeln wie eine Möwe auf dem Wasser lag, regungslos und von den Sonnenstrahlen rosig überhaucht, da traten alle diese wetterharten Männer, diese rauhen und zügellosen Burschen still und ernst an die Bordwand.

Heute wurden zwei Männer aus ihrer Mitte dem Meer überliefert, – nach wenigen Stunden sollten ihnen zwei weitere folgen, und vielleicht stand in kürzester Frist auch ihnen das gleiche Schicksal bevor. Niemand konnte voraussehen, wie bald ihn die Seuche befallen und dem Tode in die gierig geöffneten Arme werfen würde. –

Es ist etwas unendlich Ergreifendes, so ein Seemannsbegräbnis. Ernst und still waren die beiden Leichen aufgehoben und halb über die Bordwand hinausgelegt worden. Langsam, feierlich schwebte das Sternenbanner der Vereinigten Staaten am Großmast auf Halbstock, dreimal empor und dreimal wieder herab, – letzte Grüße, letztes Lebewohl für die toten Kameraden.

Und dann trat Robert vor. Sein offenes Gesicht war blaß vor innerer Bewegung. „Matrosen“, sagte er, „unser Kapitän ist nicht, erschienen, um für die Toten wie üblich ein Gebet zu sprechen. So laßt es mich an seiner Stelle tun, da doch die beiden Toten meine Landsleute waren, arme deutsche Auswanderer, denen eine Gesellschaft von Seelenverkäufern auch noch das Letzte nahm, das sie besaßen, Gesundheit und Leben. Laßt mich Gott bitten, daß dem schändlichen Treiben dieser Schurken bald ein Ende gemacht werde, um der vielen armen Menschen willen, die in ihre Hände fallen, und daß er diesen Unglücklichen ewigen Frieden schenken möge. Amen!“

Alle hielten die Mützen in der Hand, auf allen Gesichtern lag tiefer Ernst. Sie standen ganz unter dem Eindruck der Stunde.

„Los!“ befahl halblaut der Obersteuermann.

Soweit wie möglich streckten sich die Arme, ein letzter Blick, ein Gedanke wie ein Segenswunsch, und das Meer spritzte auf. Unaufhaltsam zog das mitgegebene schwere Gewicht die Toten in die Tiefe.

„Braßt voll, hinten!“ ertönte die feste Stimme des Obersteuermanns.

Jeder der Matrosen tat seine Schuldigkeit, die Raaen flogen herum, und das Schiff setzte langsam den alten Kurs fort, – dann aber sammelten sich alle vor der Tür der Kajüte. Sheppard ergriff das Wort.

„Wir bitten den Kapitän, uns jetzt anzuhören“, sagte er.

Mr. Pikes zeigte seine ruhigste Miene. „Seid vernünftig, Leute“, antwortete er. „Ein schnelles Wort ist bald gesprochen, wie ihr alle wißt, aber es wird oft bereut. Der Kapitän wollte euretwegen die rettungslos verlorenen Kranken im Raum lassen, um die Gefahr der Ansteckung zu bekämpfen. Ihr habt die Sterbenden eigenmächtig in das Logis heraufgetragen und müßt nun die Folgen auf euch nehmen. Was wollt ihr noch mehr?“

Sheppard lächelte spöttisch. „Eine Kleinigkeit, Herr Obersteuermann“, sagte er. „Wir verlangen, daß das Ruder gedreht wird. Wir wollen in solchen Breiten, wo Menschen zu leben gewohnt sind, unsere Arbeit tun. Wir hätten auch bei gehöriger Verpflegung und besonders mit den gewohnten Branntweinrationen die Fahrt bis nach Nowaja Semlja unweigerlich fortgesetzt, aber elendig umkommen, damit der Kapitän an uns eine Handvoll Dollar spart, das wollen wir nicht. Noch sind uns keine Walfische begegnet, und wer weiß, ob wir überhaupt welche treffen – vielleicht, wenn der Skorbut die ganze Jagd unmöglich gemacht hat. Also müssen wir umkehren.“

Mr. Pikes blieb ganz ruhig. „Umkehren, nachdem noch kein Cent verdient worden ist, Leute? Umkehren in dem Augenblick, wo uns vielleicht goldene Berge erwarten? Jede Stunde kann den Gewinn bringen, jeder Augenblick kann Walfische in Scharen an unser Schiff führen.“

Sheppard schüttelte den Kopf. „Oder auch den Tod für uns alle“, sagte er finster. „Wir sind entschlossen, umzukehren; wir wollen den Kapitän zwingen, seinen Kurs zu ändern. Gebt Raum, Sir, oder es geht nicht gut!“

Mr. Pikes ließ seine Blicke von einem zum andern gehen. „Das ist Meuterei!“ sagte er in ernstem, mahnendem Ton. „Habt ihr euch die Folgen genau überlegt, Leute?“

„Ganz genau. Der Kapitän und alle Offiziere müssen vor dem Hafen von New York einen Eid schwören, von dem Vorgefallenen mit niemand zu sprechen, oder – keiner sieht das Land wieder. Wir sind uns unserer Rechte und unseres Entschlusses vollkommen bewußt.“

Der Obersteuermann trat zur Seite. „So versucht euer Heil, Leute. Kommt als Bettler, vielleicht krank und elend nach New York zurück, werft euren eigenen Vorteil über Bord und ruiniert einen ehrlichen Mann, während die Gelegenheit günstig ist. Ich habe euch nichts mehr zu sagen.“

Er wandte sich ab. Sheppard streckte die Hand aus, um den Türdrücker der Kajüte zu ergreifen – – –

Da ertönte vom Vorschiff her ein lauter, fast jubelnder Ruf. Der Mann am Ausguck verließ seinen Posten und kam zu den andern gestürzt.

„Die Fische! – Die Fische!“

Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte das Wort die erregten Männer. Als hätten alle nur noch einen Gedanken, so folgten die Augen der Richtung, in die der Matrose mit ausgestrecktem Arm wies. Vergessen schien der wilde Entschluß offener Meuterei, vergessen war die Furcht vor der Krankheit, – untergegangen in der plötzlichen Hoffnung auf Gewinn.

„Die Fische!“ jauchzten zwanzig Stimmen, „die Fische!“

Mr. Pikes atmete auf wie ein Halbertrunkener, den eine unerwartete Hilfe dem Meer entriß. Er erkannte im Augenblick seinen Vorteil, er zögerte keinen Augenblick, ihn zu ergreifen.

Ohne den Kapitän zu fragen, befahl er, die Boote herabzulassen und die Körbe mit Lebensmitteln hineinzusetzen. Dann wandte er sich zu Sheppard. „Holt die Harpunen, Maat, – Ihr habt sie in Verwahrung, soviel ich weiß.“

Der Amerikaner sah mit düsteren Augen auf das Drängen und Treiben der anderen. Niemand beachtete ihn, niemand kümmerte sich um das Verhängnis, das im entscheidenden Augenblick den Sieg in die Hände des Gegners hinüberspielte. Gewinn – Geld – das war es, was den Leuten vorschwebte, was sie, einer den andern zurückdrängend, in die Boote trieb.

Sheppard kreuzte die Arme. „Holt die Harpunen, Mr. Pikes“, sagte er, „und gebt dem wilden Kapitän die schwerste in die Hand, damit er seine Mordlust befriedigen kann. Die Menge ist es niemals wert, daß sich ein ehrlicher Kerl um ihretwillen aufopfert – ich habe es bitter genug in diesem Augenblick erfahren müssen.“

Der Obersteuermann ließ die Harpunen verteilen und gab auch Sheppard eine in die Hand. „Geht mit, Mann“, ermunterte er ihn, „kühlt Euer heißes Blut auf der Jagd. Und dort, seht hin, eine Möweninsel! Tausende von Eiern, ungezählte frische Braten, – macht, daß Ihr fortkommt. Das Vorgefallene ist vergessen, ich schwöre es Euch im Namen des Kapitäns.“

Sheppard lächelte spöttisch. „Wir sind Todfeinde, Sir“, sagte er, „und jeder würde dem andern das Genick brechen, wenn es ihm möglich wäre. Sucht keinen Schleier darüber zu werfen! – Wessen Stunde zuerst schlägt, der packt das Glück beim Schopf.“

Er hob spielend die schwere Harpune zwischen zwei Fingern hoch, und als der Obersteuermann unwillkürlich zurücktrat, lachte er laut. „Ich bin kein Meuchelmörder, Mr. Pikes, aber ebensowenig fürchte ich auch einen ehrlichen Kampf, bei dem es Blut kostet. Das merkt Euch. Die da frei herumlaufen und wie vornehme Herren behandelt werden, das sind oft größere Schurken, als die armen Teufel hinter den Eisengittern des Sing-Sing.“

Er sprang in das letzte Boot, daß die Wellen spritzten, und Mr. Pikes murmelte hinterdrein einige Worte, die halb wie eine Verwünschung, halb wie Spott klangen. Dann sah er über das ruhige Meer.

Die Fische waren dem Schiff immer näher gekommen. Wie Rauchsäulen stiegen geräuschvoll die weißen Wasserstrahlen aus den Nüstern der gewaltigen Tiere empor. Wenigstens dreißig Wale schwammen dem „Vogel Greif“ entgegen.

„Das kam zur rechten Zeit!“ dachte der Obersteuermann erleichtert. „Jetzt einige ertragreiche Züge, etwas Jagdglück, und wir haben die Meute in unsern Händen. Die beiden Anführer Sheppard und Kroll werden bei nächster Gelegenheit in Eisen gelegt, und wenn einmal diese Hitzköpfe beseitigt sind, so zittern die übrigen vor einer ungeladenen Pistole.“

Er drehte sich um und klopfte an die Tür der Kajüte, aber niemand antwortete ihm. Konnte der Kapitän in solchem Augenblick schlafen? Unmöglich!

Er klopfte noch einmal. Wieder keine Antwort. – Einer unbewußten Furcht nachgebend öffnete er die Tür und sah den Kapitän ohne Besinnung auf dem Fußboden liegen. Der furchtbare Blutandrang hatte dem jähzornigen Mann das Bewußtsein genommen.

Mr. Pikes behielt seine ganze Geistesgegenwart. Er schlug dem Kapitän eine Ader und legte ihm Eis auf die Stirn, ohne irgend jemand zur Hilfe zu rufen. Dann, als der Kranke wieder zu sich kam, teilte er ihm die Nachricht von dem Erscheinen der Walfische mit und sah jetzt seinen Vorgesetzten ebenso überrascht und beglückt, wie es vorher die Mannschaft gewesen war. „Sind alle fort?“ fragte der Kapitän, sich gewaltsam sammelnd. „Haben die Leute endlich Ruhe gegeben? Sind die Anführer in Ketten gelegt worden?“

Mr. Pikes erzählte in kurzer, klarer Schilderung das Vorgefallene und kam dann mit seinem Vorgesetzten dahin überein, es gänzlich totzuschweigen. Kapitän und Mannschaft eines Schiffes, hoch oben auf dem 75. Grad nördlicher Breite, verlassen von aller Welt und allen Gefahren ausgesetzt – Kapitän und Mannschaft eines solchen Schiffes waren zu sehr aufeinander angewiesen, um nicht um jeden Preis Frieden halten zu müssen. Später, wenn man in befahrene Gewässer zurückkam, wenn man anderen Schiffen begegnete oder vielleicht irgendeinen Handstreich vollführen konnte, dann – –

Die Augen des Kapitäns und des Obersteuermanns trafen sich. Sie hatten sich vollkommen verstanden.

Und dann gingen sie wieder an Deck. Weder von den Walfischen noch von den Booten war das Allergeringste zu sehen.

Der Mann am Ruder gab die Richtung, welche die Jäger genommen hatten, als nördlich an, und das Schiff hielt jetzt diesen Kurs. Kapitän Wright ging in brennender Ungeduld rastlos auf und ab; er konnte sich kaum zurückhalten, mit dem letzten noch übrig gebliebenen Boot die Jäger zu begleiten und persönlich an der Verfolgung teilzunehmen, aber die Sonne sank ins Meer herab, ohne daß auf der glitzernden, eisigen Fläche das mindeste zu entdecken gewesen wäre. Selbst der ruhige Mr. Pikes zeigte auf seiner Stirn mehrere Falten.

Wo nur die Leute blieben! – Es waren auf dem Schiff außer den beiden obersten Offizieren nur noch vier Mann, – mit diesen allein den Hafen von New York jemals wieder zu erreichen, war eine Unmöglichkeit.

„Lassen Sie alle fünf Minuten einen Kanonenschuß abfeuern“, befahl der Kapitän, „und dazwischen eine Rakete steigen.“

Mr. Pikes wiederholte den Befehl, aber die Unruhe wurde dadurch nur noch vermehrt. Der Schuß verhallte mit hundertfachem Echo; die Rakete, blaue und goldene Lichter über das Meer ausgießend, zeigte den erstarrten Blicken der Männer fast im gleichen Augenblick die Lösung des Rätsels: Eisberge umgaben von allen Seiten das schwer bedrohte Schiff.

Zwischen den Schüssen war es totenstill auf Deck. Nur aus den Kojen der Kranken und Sterbenden drang leises Wimmern herüber – –

„Wir müssen das Schiff backlegen“, entschied nach einer Pause der Kapitän. „Mir scheint, daß der Wind etwas stärker geworden ist, und außerdem wissen wir nicht, welchen Kurs die Boote steuern. Es ist nicht unmöglich, daß wir uns voneinander entfernen.“

Mr. Pikes griff an die Mütze. „In diesem Fall würden Sie und ich selbst mit Hand anlegen müssen, Herr Kapitän“, sagte er.

„Das macht nichts, Sir. Man hat es ja schon oft getan.“

Und Thomas Wright erkletterte trotz des verwundeten Armes die Masten, um mit dem Obersteuermann und den übrigen vier Leuten das erforderliche Segelmanöver auszuführen. Abwechselnd krachten die Schüsse und stiegen die Raketen und Leuchtkugeln auf, aber niemand beantwortete die Zeichen.

Ein Eisberg, hoch wie ein Haus, schwamm so hart an dem Schiff vorüber, daß es knirschte und rauschte, daß Splitter davonflogen, – Möwen glitten mit schwerem Schlag durch die Luft, der Sturmvogel umkreiste das Takelwerk und stieß eigentümliche, kurze, wie ein Signal klingende Töne aus, – aber nichts zeigte sich.

Da endlich, gegen Mitternacht, durchdrang ein Laut die tiefe Finsternis. Ein langgezogenes „Ahoi! Ahoi!“ scholl deutlich zu den beiden horchenden Offizieren herüber, und beide sprangen hocherfreut von ihren Sitzen auf. Die Leuchtkugeln folgten ununterbrochen, die Zurufe wurden erwidert und das Feuer in allen Öfen geschürt. Welch ein Fang war jetzt wohl gemacht worden, welcher Gewinn stand in Aussicht!

„Herr Kapitän“, sagte bescheiden der Obersteuermann, „sollte es nicht gut sein, wenn diesmal Branntweinrationen verteilt würden?“

Thomas Wright schüttelte den Kopf. „Damit die Kerle glauben, daß sie mir Furcht eingeflößt haben, Mr. Pikes? – Arbeiten sollen sie, und die Pistolen kommen nicht mehr aus meinem Gürtel. Übrigens ist nichts zu fürchten, wenn klingende Belohnung in Aussicht steht.“

Er ging bis zum Fallreep den Ankommenden entgegen und beugte sich vor, um zu sehen, wie groß die Ausbeute gewesen war. „Hallo, Jungens,“ rief er, ganz gegen seine Gewohnheit, „was bringt ihr denn?“

Ein leises Lachen antwortete. Das war Sheppards Stimme, aber er sprach kein Wort.

„Los“, drängte Robert, „antworte doch!“

„Tu du es. Ich würde den Schuft am liebsten mit der Harpune anreden.“

„Nun, Leute“, fragte noch einmal der Kapitän, „was habt ihr gefangen?“

„Nichts, Sir!“ antwortete Robert durch die tiefe Stille: „Nachdem unsere Boote ziemlich weit vom Schiff entfernt waren, haben wir die Walfische aus den Augen verloren und trotz aller Bemühungen nicht wieder auffinden können.“

„So hat also keine Jagd stattgefunden?“

„Keine, Herr Kapitän.“

Thomas Wright erschrak, aber ohne sich den Leuten gegenüber etwas merken zu lassen. „Schadet ja nichts!“ rief er ermunternd. „Wenn erst einmal der Fisch in der Nähe ist, so trifft man ihn bald genug wieder. Morgen wird die Jagd neu beginnen und dann glücklicher sein!“

Er ging in die Kajüte, um sich von seinem Ärger einigermaßen zu erholen, während die Matrosen halberfroren, müde bis zum Umsinken, das Logis aufsuchten. Sheppards erster Blick ging zu den Kojen der Kranken.

„Beide eiskalt!“ flüsterte er in Roberts Ohr. „Gestorben wie ihre Vorgänger, allein und ohne Pflege! – Hörst du den Sturmvogel? Seine Stimme bringt Unglück; er ist ein Warner, der nur verfluchte, dem Untergang geweihte Fahrzeuge umkreist.“

Robert lächelte gezwungen. Er dachte zurück an die Erzählung seines alten Freundes, wie hoch in der Luft die Möwe lachte, als Mohr, von tollem Übermut getrieben, den fliegenden Holländer herbeirief. „So schicke dem Schreier eine Kugel durch die Brust, dann schweigt er bestimmt!“ antwortete er.

Sheppard hob erschrocken die Hand. „Um Himmels willen nicht! Wer den Sturmvogel tötet, der zieht das Verhängnis auf sich herab. Gib nur acht, – wir sehen keinen Fisch wieder, wir gehen hier oben elend zu Grunde.“

Robert antwortete nicht, und die beiden krochen so schnell wie möglich unter ihre Wolldecken, um wenigstens die erstarrten Glieder einigermaßen aufzutauen. Am folgenden Morgen waren wieder zwei Matrosen unfähig aufzustehen, obgleich bei den abgehärteten Seeleuten die Krankheit nicht so heftig auftrat, wie bei den unglücklichen deutschen Auswanderern. Sie mußten sich krank melden, aber sie baten die andern, zu verhindern, daß sie in den Raum geschafft würden.

Sheppard nickte, – sonst zeigte keiner, daß er das angstvolle Flehen verstanden habe. Robert, der gerade Ausguckwache hatte, war nicht dabei.

Der Kapitän versuchte diesmal keine Zwangsmaßregeln. Er gab den noch vorrätigen Löffelkrautspiritus heraus, ließ Pflaumen abkochen und bewilligte den Kranken etwas Zucker, im übrigen kümmerte er sich nicht um sie. Auch das Begräbnis der beiden in der letzten Nacht Gestorbenen wurde auf seine Anordnung möglichst abgekürzt, damit man, wenn sich Fische zeigen sollten, die Verfolgung sofort aufnehmen könne.

„Heute haben wir einen hellen, klaren Tag, Jungens“, sagte er, „da kann uns gar nichts fehlen. Paßt nur auf, sobald sich das Blasen der Fische bemerkbar macht!“

Er ließ auch zur Vorsicht die großen Trankessel und mehrere Fässer an Deck bringen. Gegen Robert und Sheppard veränderte er keine Miene.

Es mochte vielleicht neun Uhr morgens sein, als der Ausguckmann dasselbe Zeichen gab wie gestern. „Die Fische! Die Fische!“

Zwischen den Eisriesen, die im stillen Wasser überall majestätisch dahinsegelten und langsam der schwachen Windrichtung folgten, zeigten sich die blasenden Walfische. Es war ein schönes und anregendes Schauspiel, der goldene Sonnenschein, der die Eisriesen umspielte und mit tausend diamantenen Tropfen überflutete, die emporgeschleuderten Wasserstrahlen aus den Nüstern der riesenhaften Tiere und das stille, beinahe unbewegte Meer mit seinen zahllosen treibenden, größeren und kleineren Eisschollen. Man konnte begreifen, daß sich die Jagdlust der Männer bis zum Taumel steigerte.

In zehn Minuten stießen die Boote ab. In dem Fahrzeug des Kapitäns waren außer Robert noch drei Matrosen. In atemloser Eile ging es den blasenden Fischen entgegen.

Thomas Wright stand aufrecht mit der Harpune in der Hand. Sein rotes Haar schien phosphorisch zu leuchten, seine Augen glühten. Eine starke, wilde Leidenschaft sprach aus jeder Bewegung.

Immer näher kamen die Boote den Fischen. Schon sah man die mit Moos und Schlingpflanzen überwachsenen, von Muscheln Wassermäusen, Spinnen und Käfern bewohnten breiten Rücken der Wale deutlich durch das kristallklare Wasser schimmern, schon erwarteten zwanzig Arme den Augenblick, um die tödliche Waffe in das Fleisch des Opfers zu bohren, da – hörte das Blasen auf, das Wasser beruhigte sich, die grünen, inselgleichen Erhöhungen über der Oberfläche verschwanden, und von den Fischen war nichts mehr zu sehen.

Ganz wie am Tage vorher entzogen sie sich den Blicken der Fänger, als eben die Jagd beginnen sollte. Thomas Wright wurde blaß bis in die Lippen.

„Ihnen nach!“ rief er wütend. „Sie können nicht weit sein, und ich will unter keinen Umständen ohne Beute zum Schiff zurück.“

Sein Eifer hatte die übrigen angesteckt. Alles ruderte um die Wette, alles überbot sich, zwischen den Eisschollen hindurchzusteuern und die Spur der entflohenen Tiere zu verfolgen, aber – ohne Erfolg. Weit und breit war kein Fisch zu sehen.

„Wir müssen uns geirrt haben!“ rief der Kapitän. „Vielleicht hinter diesen Eisblöcken. Zwei Boote in gleicher Linie. Dort werden sie sein!“

Ob er sich und die andern täuschte, niemand konnte es wissen. Sein ganzes Gesicht war aschfahl, als auch hinter dem bezeichneten Eisberg kein Walfisch gefunden wurde, „Damned“, rief er, „steckt denn der Teufel in den Tieren?“

Sheppard und Morris wechselten einen höhnischen Blick. „Der Sturmvogel!“ raunte der erste. „Hast du ihn gestern gehört?“

Und als wolle das Verhängnis seine Worte bestätigen, so zeigte sich in diesem Augenblick der Warner hoch oben in der Luft und blieb lange flügelschlagend gerade über den Köpfen der Leute stehen. Sein Schrei, heftig und ruckartig, tönte weit über das Wasser.

Thomas Wright sah wild empor. „Verfluchter Vogel, was willst du?“ rief er zähneknirschend, während er zur Büchse griff. „Da – nimm das!“

Der Schuß krachte, und das getroffene Tier stürzte unmittelbar neben dem Boot des Kapitäns ins Meer. Nur der rechte Flügel war getroffen worden, daher lebte es und setzte, heftig flatternd, sein Geschrei in verstärktem Maße fort. Die Augen sahen dem Kapitän gerade ins Gesicht, der Schnabel hatte sich gegen ihn geöffnet.

„Der Wahnsinnige“, flüsterte Sheppard, „er selbst hält über sich Gericht.“

Von allen Booten sahen die Matrosen stumm erschreckt herüber. Aller Augen waren auf den Kapitän geheftet, der blind vor Zorn vorwärts stürzte und offenbar den Vogel mit bloßer Faust erwürgen wollte, denn er griff so heftig und unvorsichtig über den Bootsrand hinaus, daß er das Gleichgewicht verlor und kopfüber ins Wasser fiel.

Die Eisschollen, neben dem Boot treibend, gerieten in größere Bewegung, schlossen sich über- und nebeneinander, schaukelten auf den blau- oder grünschillernden Wellen – von Thomas Wright war keine Spur zu sehen.

Totenstille herrschte einen Augenblick lang in den Booten. Unsicher sahen sich alle an. Sheppard hob sein Ruder, wie um zu sagen: „Wer ihn auftauchen sieht, der schlage zu!“

Aber nur einen Augenblick lang lag der Druck auf den Männern. Dann war Robert dem Kapitän nachgesprungen und wie eine Ente in das Eiswasser hinabgetaucht.

Sheppard ließ das Ruder fallen. „Wie schade, wenn um dieses Schurken willen der brave Junge ertrinken sollte!“ rief er.

Morris schüttelte den Kopf. „Die beiden sind verloren!“

Es schien aber, als sollte sich die schlimme Vermutung nicht bestätigen. Roberts Kopf kam in einiger Entfernung vom Boot an der Oberfläche zum Vorschein, und bald danach auch der des Kapitäns, der jedoch besinnungslos zu sein schien. „Hilfe! Hilfe!“ rief Robert mit lauter Stimme. „Kommt, so rasch ihr könnt, hierher.“

Ohne Zögern wurden alle Ruder eingesetzt, und schon in weniger als einer Minute nahm das vorderste Boot die beiden Verunglückten an Bord. Robert war unverletzt, aber der Kapitän blutete aus mehreren Kopfwunden, besonders jedoch aus der Wunde am Arm, deren Verband sich gelöst hatte. Er öffnete wohl hin und wieder die Augen, ohne aber etwas anderes als verworrene Worte zu sprechen.

Robert preßte, nachdem er den Rockärmel aufgeschnitten hatte, Daumen und Zeigefinger auf die verletzte Ader. Dann band er mit Hilfe einiger anderer um den ganzen Arm ein festgedrehtes Tuch. Ohne daß weiter gesprochen worden wäre, kehrten die Boote zum Schiff zurück.

Im Wasser schrie immer noch der angeschossene Sturmvogel. Als das letzte Boot an Bord geheißt war, sahen alle in der Ferne die speienden Fische.

Am folgenden Morgen und an noch vielen anderen wiederholten sich die Ereignisse der beiden letzten Tage. Einer nach dem andern erkrankten die Matrosen, Leiche auf Leiche wurde in das Meer versenkt, und die Stimmung der Leute sank immer mehr.

Der „Vogel Greif“ kreuzte auf und ab, verfolgte nach verschiedenen Richtungen meilenweit die Spur der Fische und kämpfte beharrlich gegen Wind und Wetter, immer noch nach dem Willen des starrsinnigen Kapitäns, der unter allen Umständen mit einer reichen Ausbeute heimkehren wollte.

Es war, als hätten sich geheimnisvolle Mächte verschworen, an jedem neuen Tage Scharen von Fischen in die Nähe des Schiffes zu führen, immer wieder die Hoffnung der Leute aufzustacheln und sie dann ebenso häufig auf das grausamste zu täuschen. Manche von den Matrosen weigerten sich bereits, diese schreckliche Jagd mitzumachen, sie blieben zur Bedienung des Schiffes zurück und sahen dann den andern nach, wie sie in rasendem Eifer die Boote vorwärts trieben, um den blasenden Tieren näher zu kommen, und wie dann in dem Augenblick, als die Harpunen geschwungen, werden sollten, – die Fische verschwanden.

„Geht das mit rechten Dingen zu?“ fragten sie sich.

Ein Kopfschütteln war die Antwort. „Ich glaube es nicht, und ich weiß auch, woran die Sache liegt. Der Kapitän bringt dem Schiff Unglück.“

„Pst!“ warnte der erste. „Deine Worte können dich den Hals kosten.“

„Ach, was gebe ich viel auf den herzlosen Menschen! – Sag doch, bist du kürzlich unten im Raum gewesen?“

Der andere schüttelte sich. „Seit wir die armen Kerle da unten ächzen und um eine ruhige Sterbestunde bitten hörten“, antwortete er, „gehe ich nicht hinunter.“

Sein Kamerad neigte sich noch dichter zu ihm. „Du“, raunte er, „die da unten ächzen noch. Glaub es, oder glaub es nicht, aber wenn dich der Steuermann hinunterschickt, so sprich vorher ein Gebet, denn ich sage dir, daß es im Raum nicht geheuer ist. War auch eine Schändlichkeit sondergleichen, die armen Kerle in der Pestluft ersticken zu lassen.“

Nach einer Pause spuckte der erste den Kautabak über Bord und nickte geheimnisvoll. „Daran liegt es auch, daß wir keine Fische fangen“, flüsterte er. „Der Wüterich konnte ja nicht einmal dem unschuldigen Vogel das Leben schenken.“

„Sheppard sagt, er möchte gern in New York ein Häuserspekulant werden, so ein Halsabschneider, der den Leuten das letzte wegnimmt und damit Wucher treibt, wenn er wirklich jemals seine Heimat wiedersieht!“

„Ja, wenn! – Da hast du recht. Sieh, die Boote kommen schon zurück, es besteht kein Zweifel, daß über Schiff und Besatzung ein Fluch liegt. Wäre der Mörder von Bord, so könnte es schon anders vorwärts gehen.“

„Pst! Laß das Sheppard nicht hören. Was kommen soll, das kommt doch!“

Die Unterhaltung wurde hier durch das Auftauchen der Boote gestört. Nur noch zwölf Matrosen, der Obersteuermann und der Kapitän waren an Bord des „Vogel Greif“, die übrigen waren der schrecklichen Krankheit erlegen, während noch zwei andere, der eine Untersteuermann und ein Matrose, krank umherschlichen.

Die Stimmung war äußerst gedrückt, obwohl Sheppards unausgesetzte Hetzereien jetzt selten ein williges Ohr fanden. Der Gedanke, nur mit elf anderen den Gewinn einer vollen Ladung zu teilen, der Gedanke, vielleicht durch diese einzige Reise reich zu werden, berauschte die Männer. Die sehnlichst erhoffte Jagd konnte ja nicht immer täuschen! Speiende Fische zeigten sich überall, kamen bis auf wenige Meter an das Schiff heran, folterten in der Nacht durch ihr Blasen die aufgeregten Männer und schwammen in langen Zügen an den Eisbergen vorüber – sie mußten doch einmal gefangen werden können!

Und dann malte sich jeder das Bild weiter aus. Vier- bis fünfhundert Dollar würden auf seinen Anteil fallen, er brachte vielleicht ein kleines Vermögen mit nach Hause! – Nein, nein, jetzt nicht weich werden, nicht unverrichtetersache heimkehren! Morgen hatte man vielleicht schon den ersten Fisch an der Harpune, – bei Tagesanbruch kam das langersehnte Glück! – –

Sheppard nickte, wenn ihm solche Einwendungen entgegengehalten wurden. „Well, also ihr glaubt, daß sich das Glück unserem verfluchten Schiff zuwenden könnte?“ fragte er. „Unsere toten Kameraden haben ihren Mörder bei Gott verklagt, und um ihretwillen wird der ›Vogel Greif‹, wenn ihr nicht endlich zur Einsicht kommt, hier mit Mann und Maus untergehen. Jetzt sind wir vier Monate lang unterwegs, – woher sollen denn die Lebensmittel genommen werden, um uns wieder nach New York zu bringen? Und wenn auch noch der Obersteuermann stirbt, wie wollen wir es machen, mit so schwacher Mannschaft das Schiff zu bedienen?“

„Sieh doch nicht so schwarz!“ hieß es dann. „Der erste Steuermann ist ja ganz gesund.“

„Heute noch!“ rief der Amerikaner. „Aber wißt ihr, was morgen geschieht?“

„Morgen fangen wir vielleicht den ersten Wal!“

Sheppard lachte spöttisch. „Denkt an mich, – ihr fangt ihn nie!“

Die beiden Matrosen, deren Gespräch wir neulich belauscht hatten, nickten finster. Heute schwiegen sie noch, aber bei der nächsten Gelegenheit traten sie offen auf Sheppards Seite. „So kann die Sache nicht länger gehen“, sagte der eine. „Wenn nur die größere Hälfte der Mannschaft zu uns hielte, dann ließe sich noch etwas hoffen, aber unter den augenblicklichen Verhältnissen steuert die Geschichte in den Abgrund, das ist sicher.“

„Morris steht zu uns!“ flüsterte Sheppard. „Wollen wir einen Handstreich wagen?“

Der eine Matrose hob den Arm, wie zum Schlag. „Du meinst so?“ fragte er bedeutsam.

„Ja“, antwortete der Amerikaner kurz und kalt. „Wenn es darauf ankommt, ob vierzehn Menschen zu Grunde gehen sollen oder ob einer ins Gras beißt, so kann die Entscheidung nicht zweifelhaft sein.“

Jetzt war das Eis gebrochen, und die vier Verbündeten hielten heimlich Rat, wie der verbrecherische Plan am leichtesten auszuführen sei. „Wenn wir nur den Kroll zu uns herüberziehen könnten“, meinte der eine, „das wäre schön. Dieser Bursche fürchtet sich vor dem leibhaftigen Satan nicht!“

Sheppard schüttelte den Kopf. „Aber ebensowenig wird er gutheißen, was er nun einmal Mord nennen würde!“ sagte er. „Laßt ihn ganz aus dem Spiel, – womöglich könnte er den Kapitän noch warnen. Hat er ihn doch neulich unter Gefahr seines eigenen Lebens aus dem Wasser gezogen.“

„Laßt ihn ganz beiseite“, meinte auch Morris. „Wir vier können es gut allein, und wenn einmal der rothaarige Judas den Haifischen vorgeworfen ist, so kommt das Schiff aus dem Bann los. Wir fangen Fische, bis die Ladung voll ist, und sind wohlhabende Leute. Der Obersteuermann muß nach unserer Pfeife tanzen.“

Die vier Verbrecher reichten sich die Hände. „Heute noch?“ fragte Sheppard.

„Je eher, desto besser, denke ich. Der Kapitän muß jetzt Wache halten, so gut wie irgendeiner von uns, also überfallen wir ihn, während Mr. Pikes schläft.“

„Nun gut. Am besten zwischen zwölf und ein Uhr nachts, weil dann die ermüdeten Leute fest schlafen, und also der Kapitän nicht sofort Hilfe herbeiholen kann. Eins nur beunruhigt mich.“

„Was denn?“ fragte Morris.

„Daß wir nach dem Tode des Kapitäns nur einen Steuerkundigen an Bord haben. Der zweite Steuermann lebt zwar noch, aber er kann es nicht mehr lange machen. Wir wären also verloren, wenn Mr. Pikes das Geringste zustieße!“

Morris zuckte die Achseln. „Das muß gewagt werden“, sagte er.

„Und das soll es“, nickte Sheppard. „Also um Mitternacht.“

Sie gaben sich noch einmal das Versprechen gegenseitiger Treue, dann gingen sie ihrer Arbeit nach. An diesem Tage wurde nicht versucht, Walfische zu jagen, obwohl sich die Tiere ebenso zahlreich wie sonst in der Nähe des Schiffes zeigten. Kapitän Wright stand an der Schanzkleidung und sah düster über das Meer. Wie war der Mann verändert!

Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, das früher so braune, frische Gesicht erschien fahlgrau, und wie gebrochen war seine ganze Haltung. „Heute ist Montag“, dachte er, „und an diesem Tag soll man keine Entschlüsse fassen, nichts anfangen und nichts vollenden, aber morgen – morgen will ich noch einmal diese unheimliche, schreckliche Jagd beginnen, und ihr Ausgang soll mein Schicksal bestimmen! Wird wieder keiner dieser gespenstischen Fische gefangen, so kehre ich um und begnüge mich mit Robben und Walrossen. Damned! – Es ist die schwerste Stunde meines Lebens, wo ich befehlen muß, das Ruder zu wenden, und wo mir diese Satansbrut ins Gesicht lachen darf.“

Seine Lippen preßten sich aufeinander. „Ich kann mein Ziel noch nicht erreichen“, dachte er, „ich kann nach den schweren Verlusten dieser Unglücksfahrt das Schiff noch nicht aufgeben. Der Teufel hole die verwünschten Tiere, die mich an der Nase herumführen.“

Er sah nach allen Seiten, und seine bleichen Lippen zuckten vor Erregung. „Vier – sechs – zehn Fische!“ murmelte er, „und dort noch einer, und dort, aber was nützt es mir, sie zu verfolgen? – Oh, der Wahnsinn könnte mich erfassen, sooft ich daran denke!“

Seine Blicke schweiften wie im halben Irrsinn über das Wasser. „Der dort kommt immer näher“, dachte er, „immer näher! Er fordert mich heraus – ob ich das Boot aussetzen lasse und ganz allein die Jagd beginne? Wahrhaftig, das Tier schwimmt bis unter den Bug des Schiffes! Es ist ein Riese seiner Art, wenigstens zwanzig Meter lang, und was für ein Umfang! – Ich werde ihm eine Kugel in den Kopf jagen, nur um ihn zu töten!“

Er schlich auf Zehenspitzen zur Kajüte, als könne das Geräusch seiner Tritte den Fisch verscheuchen, und nahm von der Wand die doppelläufige Flinte. Aber als er zwei Minuten später zu der verlassenen Stelle zurückkehrte, scholl ein heiseres, halblautes Gelächter über das Deck.

„Schon den Gedanken lesen einem diese Teufelstiere aus dem Hirn heraus!“ knirschte er. „Ich möchte mich ins Meer stürzen und auf dem untersten Grund suchen, um sie mit bloßen Fäusten anzufallen!“ –

Er warf das Gewehr weg. Seine Augen funkelten wie die eines Tigers, seine Nägel gruben sich in das eigene Fleisch, bis das Blut, hervorkam.

„Wenn mich doch der deutsche Bursche nie gerettet hätte“, dachte er in maßlosem Groll. „Was nützt es, zu leben, wenn der Einsatz verloren ist? Diese Meuterer werden mir von morgen an offen Hohn sprechen!“

Er verbarg das Gesicht hinter der vorgehaltenen Hand. Niemand sollte sehen, wie es in seinen Zügen arbeitete, wie die rasende Verzweiflung darin Raum ergriff.

Und weiter und weiter lief der Zeiger des Chronometers, der Tag neigte sich dem Abend zu. „Morgen noch!“ dachte er, „morgen noch, und dann – gebe ich das Spiel verloren.“

Der Kapitän wanderte auf und ab, bis um acht Uhr abends seine Wache, zu der auch Robert gehörte, abgelöst wurde und er sich in der Kajüte auf das Sofa strecken konnte. Wirre Bilder durchzuckten seine erhitzten Sinne. Bald sah er seine vierzehn toten Matrosen, wie sie ihn aus hohlen Leichengesichtern anstarrten und kläglich um Erlösung aus dem dumpfen Raum flehten, wie sie ihm zunickten und die Knochenhände erhoben: „Daran ist allein dein unmenschlicher Geiz Schuld, deine Härte, mit der du uns das Notwendigste zum Leben vorenthieltest, nur weil wir dir wehrlos ausgeliefert waren, weil uns die Möglichkeit fehlte, das Gesetz gegen dich zur Hilfe zu rufen!“ –

Und wieder lachten die Toten. „Merkst du nichts? – Wir rächen uns da, wo es dich am empfindlichsten trifft, an deinem Geldbeutel; wir machen mit den Fischen gemeinsame Sache und zwingen dich, das zu tun, was du aus Menschlichkeit, um sterbender und leidender Unglücklicher willen, nicht wolltest!“ –

Im Traum wälzte sich der gefolterte Mann unruhig von einer Seite zur andern. Er erwachte endlich in Schweiß gebadet, zuckend an allen Gliedern. Nur langsam konnte er sich aus dem heftigen Anfall erholen und die Gegenwart in sein Gedächtnis zurückrufen. Ja, ja, er hörte es, das Blasen der Fische rings um das Schiff, er hörte es mit unbeschreiblicher Wut.

„Diese Qual muß ein Ende haben“, dachte er, „oder es ist mein Tod.“

Als ihn Mr. Pikes weckte, hatte er keinen Augenblick ruhig geschlafen. Fieber glühte auf seiner Stirn, seine Hände zitterten. „Es ist gut, Sir“, sagte er, „ich komme gleich. Alles in Ordnung, nicht wahr?“

Der Obersteuermann griff an die Mütze. „Alles beim alten, Herr Kapitän“, antwortete er doppelsinnig.

Thomas Wright unterdrückte einen Seufzer. „Ich verstehe Sie recht gut, Mr. Pikes“, begann er wieder, „und ich weiß auch, daß Sie recht haben. Morgen mit Einbruch der Dunkelheit wird das Schiff gewendet, wenn nicht – – die Jagd begonnen hat.“

Der Obersteuermann trat einen Schritt näher. „Herr Kapitän“, sagte er, „wenn es möglich wäre, Einfluß auf Ihre Entschlüsse auszuüben, so würde ich dringend raten: Lassen Sie uns schon heute, schon jetzt umkehren! – Auf den Gesichtern der Leute steht nichts Gutes!“

Thomas Wright schüttelte den Kopf. „Heute, am Montag, Sir? Ich kann es nicht, und ich muß auch noch den morgigen Tag haben, um meine Frage an das Schicksal stellen und seine Antwort erhalten zu können. Morgen soll noch eine Jagd stattfinden, eine letzte, angestrengte Jagd, und das Ergebnis soll als Urteilsspruch gelten. Fangen wir auch nur einen Fisch, ja, haben wir auch nur mit einem Wal einen Kampf zu bestehen, so bleibe ich noch, anderfalls – –“

Eine Handbewegung vollendete den Satz. – „Haben Sie übrigens bei der Mannschaft irgendwelche besonderen Merkmale beobachtet, Sir?“ fügte er hinzu.

Der Obersteuermann zuckte die Achseln. „Nichts Bestimmtes, Herr Kapitän, aber dennoch – ich weiß nicht – –“

Der Kapitän reichte ihm die Hand. „Gut, gut, Mr. Pikes“, sagte er freundlich. „Sie erfüllen Ihre Pflicht zu meiner vollen Zufriedenheit. Das werde ich Ihnen nicht vergessen. Was Ihre Vermutungen betrifft, so wäre es wohl das beste, wenn wir beide bis morgen abend nicht mehr zu Bett gingen, damit keiner von uns den Meuterern allein gegenübersteht. Was halten Sie davon, Sir?“

„Ich bin vollständig Ihrer Meinung, Herr Kapitän. Doch dürfen wir die Leute nicht aufmerksam machen. Also bleibe ich bei halbangelehnter Tür in der Kajüte, falls meine Gegenwart an Deck notwendig werden sollte.“

Thomas Wright nickte. „Well“, sagte er, „ich werde gleich erscheinen.“

Der Steuermann zog sich zurück, und zwei Minuten später hatte der Kapitän seine Wache übernommen. Robert stand am Ruder, als er das Deck betrat.

Der schwache Wind der letzten Tage war in vollkommene Windstille übergegangen. Die Segel hingen schlaff herab, das Meer glich in seiner Unbeweglichkeit einem schwarzen, nur von einzelnen Lichtstrahlen überglänzten Spiegel, dessen Ruhe und Einförmigkeit drückend wirkte. Kern Laut ringsumher unterbrach die Stille.

Kapitän Wright blickte prüfend zu den Welken auf. Eine tiefschwarze, breite Bank, nach oben von grauen Streifen umsäumt, stand regungslos wie ein Fels im Norden. – „Aha“, murmelte der Seemann, „ich dachte es doch. Diese Ruhe konnte nur ein Vorbote sein.“

Er ließ die leichten Segel wegnehmen und beobachtete dann den dunklen Horizont. Über der Wolkenbank erhob sich allmählich ein breiter, scharf begrenzter Lichtbogen, der in steter, wellenförmiger Bewegung einmal zu wachsen, ein andermal schwächer zu werden schien. Die Mitte des Bogens in schönstem, prachtvollstem Rot nahm plötzlich eine glänzendere, durchsichtigere Färbung an, es bildete sich eine Feuerkugel, aus der in schneller, blendender Reihenfolge einzelne blitzartige Strahlen hervorschossen, die nun stärker und immer stärker die schwarze, untere Bank durchdrangen. Sich nach allen Himmelsrichtungen ausdehnend, flatternd wie ein windbewegtes Band, sich krümmend in plötzlichen, anmutigen Windungen wie eine Schlange, so sah man diese purpurnen, lichtdurchschimmerten Streifen an ihren äußersten Spitzen bald in grünen, bald in blauen oder gelben Farbtönungen. Ein eigenartiges zischendes Geräusch, ein Knattern und Rollen wie von zerplatzendem Feuerwerk begleitete diese Naturerscheinung, die in solcher Schönheit nur an den beiden Polen der Erde beobachtet werden kann.

Das Nordlicht, in unseren Breiten ein dunkler und ein rötlicher, am Himmel feststehender Streif, dem man keine besondere Schönheit abgewinnen kann, bietet in den Polarregionen ein so wunderbares Schauspiel, wie man es kaum beschreiben kann.

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein. Noch stand das Nordlicht am Horizont und noch schlief der Wind. Kapitän Wright lehnte mit gekreuzten Armen an der Kombüse und beobachtete die Erscheinung, die selbst er, der langjährige Grönlandfahrer, in so seltener Pracht noch niemals gesehen hatte. Vielleicht hatte er, seinen Gedanken überlassen, im Augenblick ganz vergessen, daß ihn meuternde und erbitterte Matrosen umgaben, vielleicht war er zu unerschrocken, um überall Verrat und Gefahr zu fürchten, jedenfalls bemerkte er nicht, daß zwischen der Kombüse und dem Mannschaftslogis mehrere dunkle Gestalten am Boden kauerten, und daß ab und zu ein leises, kaum vernehmbares Flüstern die Nacht durchdrang. Seine Augen suchten in den Segeln nach dem ersten stärkeren Luftzug, und seine Ohren horchten mit stillem Grimm auf das ferne Geräusch der blasenden Walfische.

Er stand unbeweglich gegen die Wand der Kombüse gelehnt.

„Damned!“ flüsterte hinter ihm, von dem Geräusch des Nordlichts übertönt, Sheppard, „wie lange will er uns noch den Rücken kehren?“

„So gib ihm den Stich zwischen die Schultern!“ raunte Morris. „Ein kaltes Eisen schmeckt auch da nach Tod.“

„Wenn es richtig trifft!“ nickte Sheppard. „Mir ist der Hals lieber.“

„Pah!“ meinte einer der Deutschen, „warum greifen wir ihn nicht offen an? Freunde hat er nicht, und sich gegen uns alle wehren, kann er ebensowenig.“

„Das zwar nicht, aber Freunde könnte er doch finden. Zum Beispiel Kroll! Wo steckt der?“

„Pst! Er hat die Wache am Ruder. Hört zu, Leute, ich will in dem Augenblick, wenn sich der Kapitän zufällig hierherwendet, den Stich in die Brust wagen, – dann aber müßt ihr mir beistehen. Morris schießt die Pistole auf ihn ab, damit er endgültig genug hat, du August, verriegelst die Tür der Kajüte, und du, Emil, wirfst dich denen entgegen, die etwa an Deck stürzen und ihm beistehen wollen. Vor allen Dingen aber, – das laßt euch um Gottes willen gesagt sein! – vor allen Dingen ist die Person des Steuermanns unverletzlich. Wir spielen um hohen Einsatz, wenn wir mitten im Eismeer den einen der beiden Steuerkundigen töten, das wißt ihr alle, und darum denkt daran, was ich euch sage: Mr. Pikes ist selbst in einem Handgemenge unverletzlich.“

Die Verbündeten gaben leise ihre Zustimmung, und dann warteten alle, bis der Kapitän seine jetzige Stellung ändern würde.

Sie hatten, nicht lange zu warten. Ein weißlicher Schaum bildete sich an dem glockenförmigen Bug des „Vogel Greif“, ein kalter Hauch wehte über die Stirnen der Männer, und ein leiser, pfeifender Ton fuhr durch das Takelwerk. Die Erscheinung war ein Vorläufer des Sturmes.

Kapitän Wright ging mit langsamen Schritten über das Deck. „Da hätte ich höchstwahrscheinlich schon den Ausspruch des Schicksals“, dachte er. „Morgen wird es mir kaum möglich sein, mit der geringen Anzahl Leute die nötigen Segelmanöver auszuführen, viel weniger kann ich an eine erfolgreiche Jagd denken. Damned, das Verhängnis ist gegen mich!“

Diese Worte – ein Fluch – sollten seine letzten sein. Er hatte sich beim Zurückgehen der Kombüse wieder genähert, und diesen Augenblick benutzte Sheppard, um wie eine Tigerkatze vorzuspringen und ihm das Messer bis ans Heft in die Brust zu stoßen.

Ein wilder, gellender Schrei aus dem Munde des tödlich Getroffenen weckte im gleichen Augenblick die ganze Mannschaft.

Morris, der erhaltenen Anweisung getreu, erhob die Pistole, um auf den noch im Sterben ringenden Kapitän zu schießen, als von der Kajüte her Mr. Pikes, bewaffnet und angezogen, dem Kampfplatz zustürzte.

„Schufte“, rief er. „Feige Schurken, ihr –!“

Weiter kam er nicht. Der Schuß krachte, und ins Herz getroffen stürzte Mr. Pikes neben dem sterbenden Kapitän auf das Deck. Ströme von Blut liefen über die Planken, – noch wenige Augenblicke starren, wortlosen Entsetzens, dann waren beide Verwundeten tot.

Der erste, der sich aufraffte, war Sheppard. „Unglücklicher“, rief er, „was hast du getan? – Jetzt sind wir alle verloren.“

Morris stand totenbleich da. Seine Hände zitterten, seine Augen rollten wild. „Ich habe geschossen“, antwortete er mit heiserer Stimme, „wie du es befahlst, Sheppard. Kann ich dafür, wenn mir ein anderer in den Weg läuft?“

Niemand widersprach ihm. Bleiche, entsetzte Gesichter sahen sich an; tödlicher Schreck sprach aus ihnen. Die Frage „Was nun?“ drängte sich unwillkürlich jedem einzelnen auf.

Auch Robert sah von einem zum andern. Da trafen sich seine und Sheppards Blicke. „Was willst du?“ rief mit steigender Wut der Amerikaner. „Mich einen Mörder nennen, uns alle ans Messer liefern, wenn das Schiff jemals einen Hafen wiedersieht, nicht wahr? – Geh fort, hole ein Rumfaß, ich befehle es dir.“

„Sheppard, im Angesicht der Toten willst du trinken?“

Der Amerikaner lachte. „Auf diesem Schiff regiert der Teufel“, rief er. „Es wird früh genug als Wrack am Strande liegen, also laßt uns die paar Tage genießen, so gut es geht. Den Rum her, sage ich.“

Zwei von der Mannschaft, gierig und unbändig wie er selbst, waren bereits in den Vorratsraum hinabgestiegen, hatten die Tür mit Axtschlägen geöffnet und schleppten jetzt eins der Branntweinfässer herbei. Um keine Zeit zu verlieren, schlug man auch hier den Boden heraus, so daß sich Blut und Branntwein an Deck miteinander mischten. Dann begann das Gelage.

Nachdem die Leute vier Monate lang den gewohnten und beinahe unentbehrlichen Alkohol jeden Tag vermißt hatten, stürzten sie jetzt wie die wilden Tiere darüber her, so daß sie schon nach einer Viertelstunde vollständig betrunken waren, und in diesem Zustand schreckten sie vor keiner Abscheulichkeit mehr zurück.

„Faßt an!“ rief Sheppard. „Über Bord mit den Toten!“

Ein rohes Lachen antwortete ihm. „Eins, zwei, – – drei!“

Das Wasser spritzte hoch empor, das Meer zog weite Kreise, und ein Hai, der dem Schiff schon längere Zeit gefolgt war, öffnete gierig das Maul mit den sechs Reihen nach innen gebogener, sägenförmig ausgefeilter Zähne – – – noch einmal wiederholte sich das barbarische Schauspiel, dann wurde notdürftig das Blut abgewaschen und weitergetrunken, bis alle Teilnehmer des entsetzlichen Gelages unfähig waren, auch nur noch die Hände aufzuheben.

Fünf von den Männern lagen regungslos an Deck und hätten unbedingt erfrieren müssen, wenn nicht die andern so barmherzig gewesen wären, sie in das Logis zu schleppen. Als die wilden Stimmen verhallt waren, hielten die Besonnenen einen verzweifelten Kriegsrat.

„Was soll aus uns werden?“ fragten die Mutlosesten. „Dieser Sheppard wird jetzt wie ein Teufel an Bord regieren und uns alle, sobald es ihm gefällt, dem Kapitän nachschicken.“

„Morgen haben wir Sturm!“ warf ein anderer ein. „Es ist gleichgültig, was wir wünschen und was wir beschließen, – das Schiff wird ein Wrack sein, ehe noch die nächste Nacht vergeht. Sheppard muß uns vor Gott verantworten, – uns rettet nichts.“

Eine unheimliche Stille folgte diesen nur zu wahren Worten, dann fuhr der Sprecher fort: „Ist einer unter uns, der etwas von Steuerkunde versteht?“

Alle schüttelten die Köpfe. „Aber der zweite Steeurmann lebt ja noch!“ rief plötzlich Robert.

Man eilte zu seiner Koje. Der Mann war noch warm, aber – vor einer Viertelstunde etwa gestorben.

„Es nützt nichts!“ sagte verzweifelt der Matrose. „Wir sind verloren. Hört ihr, wie es durch das Takelwerk heult?“

Wirklich pfiff und ächzte der Wind in den Segeln. Das Schiff flog wie eine Möwe über die Wellen. Niemand achtete auf den Kurs, niemand befahl und niemand gehorchte. Bange Todesstille herrschte in dem kleinen Kreis.

„Wäre nur Sheppard erst einmal nüchtern“, meinte Robert. „Er versteht vielleicht das Notdürftigste; denn er hat ja die ganze Sache eingeleitet.“

Der andere schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht, und ebenso sicher ist es auch, daß Sheppard nicht mehr nüchtern werden wird, bis er zur Hölle fährt. Du kennst diese Sorte von Seeleuten nicht, sie sind wilde Bestien, wenn der Alkohol ihren Verstand umnebelt. Sheppard hätte bei täglichen, mäßigen Rationen seine Arbeit treu erfüllt und wäre vernünftig geblieben, bei vollen Fässern aber wird aus ihm ein Teufel, der alle Vernunft verlacht. Er trinkt, trinkt – und geht bewußtlos mit den letzten auseinanderbrechenden Planken des ›Vogel Greif‹ in die Tiefe. Uns zieht er nach sich, das ist das Schlimmste.“

Roberts Augen glühten. „So laßt uns jetzt gleich die Fässer an Deck rollen“, rief er, „und laßt das Teufelsgebräu aus den Speigatten laufen. Dann bleibt Sheppard nüchtern, ob er will oder nicht.“

Der Kamerad lächelte. „Willst du ihm sagen, daß du es warst, der den Branntwein verschüttet hat?“ fragte er.

„Ja. Weshalb nicht?“

„Weil er dich auf der Stelle totschlagen würde, mein Freund!“

„Das ist wahr!“ sagte eine andere Stimme. „Wir können es nicht tun. Alles, was uns übrig bleibt, ist – Gott um Gnade bitten. Wüßten wir wenigstens, wo wir im Augenblick sind und ob eine Küste in der Nähe ist.“

Der erste Matrose nickte. „Das glaube ich euch sagen zu können, Kameraden. Die letzten Wale, die ich gestern abend gesellen habe, waren Breitnasen, – eine Gattung, die man vor allem an der nördlichsten Küste von Lappland trifft. Dort also müssen wir sein.“

Robert atmete auf. „Lappland!“ wiederholte er, „das ist immer noch besser als Grönland oder Nowaja-Smelja, die beide an ihren Eismeergrenzen ganz unbewohnt sind. Werden wir an die Küste getrieben und kommen mit dem Leben davon, so besteht doch einige Aussicht, daß uns ein Stamm der Wanderlappen begegnet, – daß wir zu Menschen gelangen.“

Die übrigen seufzten. „Was für einen Mut du hast, Kamerad! Als ob man daran denken dürfte, lebend den Strand zu erreichen.“

Roberts frisches Gesicht sah aus wie lauter Jugendkraft und Zuversicht. „Matrosen“, sagte er, „das ist nicht der Weg, der zum Ziel führt. Wir müssen an die vielen Schiff brüchigen denken, die schon gut an Land gekommen sind, und müssen alle unsere Kraft einsetzen, um den Tod zu schlagen. Jeden Augenblick kann das Schiff auf die Klippen laufen, darum laßt uns gerüstet sein. Einer muß an den Ausguck. Wen wählt ihr dazu?“

Der erste Matrose reichte ihm die Hand. „Geh du selbst, Kamerad. Dein Herz und deine Augen sind jung, geh du! An Rettung ist nicht zu denken, aber warne uns rechtzeitig, daß man im letzten Augenblick ein Vaterunser beten und wenigstens ruhig sterben kann.“

Robert hörte nicht auf das, was die Mutlosen sagten. Er kletterte trotz des wilden Wetters so ruhig über die Bordwand hinaus und an den Strickleitern empor, als sei es der schönste Sommerabend und kein Wölkchen am Himmel.

Der Wind flog durch sein dichtes Haar, riß und rüttelte an den schwachen Strängen, denen er sich so sorglos anvertraute, bog die Raaen unter seinen Füßen und peitschte das lose Takelwerk hoch oben am Messingknauf, den die Strafwache putzen muß und an dem er selbst so manches Mal gehangen hatte, aus reiner Lust am gefährlichen, übermütigen Spiel.

Er atmete tief auf und sah um sich, so gut es die Dunkelheit zuließ. Nichts als weißen, schäumenden Gischt, haushohe Wellen und schwarze, gähnende Abgründe konnten seine Augen unterscheiden.

„Jetzt sterben?“ dachte er. „Unmöglich, das kann Gott nicht wollen. Ich glaube, daß ich mich retten werde und vielleicht die anderen dazu. Dann gibt es eine Wanderschaft durch die Eiswüsten. Rentierblut oder vielleicht sogar Tran als Nahrung, Kampf mit Bären und Wölfen, endlose Einsamkeit in Schnee und Kälte, – dann heißt es jeden Augenblick um das Da sein kämpfen und ihm jeden Fußbreit Boden ablisten. Mag es schwer werden, mögen die Hände bluten und die Füße den Dienst versagen, ich will aushalten, aber – nur nicht sterben!“

Er schlug die Arme um den Körper und hielt scharfen Ausguck, bis der Morgen dämmerte, aber kein Land kam in Sicht. In unaufhaltsamer Fahrt stürmte der „Vogel Greif“ durch die Wogen vorwärts.

Als es heller Tag geworden war, kam der Neger, um Roberts Wache zu übernehmen. Drinnen in der Kajüte brannte ein behagliches Feuer, ebenso war Kaffee gekocht worden und etwas kaltes Fleisch hervorgesucht. Die fünf Betrunkenen taumelten und krochen überall umher, um sich mühsam der letzten Vergangenheit zu erinnern und dann wieder an die Branntweinfässer zurückzukehren. Vergeblich waren Roberts Bitten, vergeblich seine eindringlichen Vorstellungen. Sheppard brummte einen Fluch. „Wer kann gegen das Schicksal“, sagte er, „wer kann sich gegen den Teufel behaupten? Das Schiff ist ihm verfallen, seit der verfluchte Mörder, den nun die Haifische gefressen haben, den Sturmvogel erschoß. Da hilft nichts, also laßt uns lustig sterben, wenn doch einmal gestorben sein muß.“

Robert gab aber die Sache noch nicht auf. „Sheppard“, sagte er, „willst du nicht uns allen helfen, statt dich sinnlos zu betrinken und vielleicht aus dem tierischen Rausch nie wieder zu erwachen?“

„Geh zum Teufel mit deinem Geplärr!“

Und das zweite Rumfaß wurde in die Kapitänskajüte geschleppt, wüste Gassenhauer wurden angestimmt und weitergezecht und gejubelt, bis tiefe Stille eintrat, – bis da unten in dem kleinen, gemütlichen Raum wieder fünf leblose Körper auf dem Boden lagen wie gestern.

Aber die andern hatten keineswegs die Hände in den Schoß gelegt, sondern getan, was sich im Augenblick tun ließ. Man spannte schwere Seile quer über das Deck, um für die notwendigsten Maßnahmen einen einigermaßen festen Halt zu haben, dann wurden auch die großen Segel eingezogen und auf diese Weise die Fahrt des steuerlosen Schiffes etwas ermäßigt. Da sich kein Kurs verfolgen und kein Segelmanöver ausführen ließ, so kam es ja allein darauf an, der Strömung zu folgen und das Weitere abzuwarten.

Der Wind wurde gegen Mittag immer stärker. Das Barometer fiel plötzlich sehr tief, und der Orkan brach los, so daß sich das Schiff mit kahlen Masten ganz auf die Seite legte. Nachdem es sich ebenso schnell wieder aufgerichtet hatte, setzte es die Fahrt mit unheimlicher Geschwindigkeit fort, wohin, das wußte niemand. Der Druck des Windes war so groß, daß er keine hohe See mehr aufkommen ließ, sondern alles Wasser gleich in Schaum verwandelte.

Da klang durch das Toben des Sturmes ein Schrei, wie ihn ein Mensch nur in höchster Verzweiflung und Todesnot ausstoßen kann.

„Land! – Land! Gott im Himmel, das ist die Küste!“

Zwischen den aufgespannten Seilen hielten sich die Matrosen mühsam aufrecht. Aller Augen starrten auf die verhängnisvollen Eisblöcke, die sich in einer Entfernung von wenigen hundert Metern riesig und unbeweglich emportürmten. Nein, das schwamm nicht, das stand fest im Sturm und streckte seine letzten Ausläufer bis in das brodelnde, zischende Meer, dessen Wellen es zuweilen hoch überspülten und für den Augenblick ganz in sich vergruben.

Wie ein Pfeil schoß das Schiff geradewegs der Brandung entgegen. Noch einige Minuten, und es mußte in tausend Trümmer zerschellen.

Der alte Neger stand zufällig zwischen den Haltetauen neben Robert. „Jetzt ist es vorbei“, sagte er. „Der Tod erwartet uns.“

„Noch nicht!“ rief Robert unter Aufbietung aller seiner Kräfte, „noch nicht, Mongo! Es ist noch Hoffnung, solange wir leben.“

Fast im gleichen Augenblick stand das Schiff in einer fürchterlichen Brandung und lief mit solcher Wucht auf Grund, daß der Stoß die ganze kleine Besatzung zu Boden warf.

Die Masten drehten sich knarrend, schwankten und stürzten gleichzeitig über Bord, das ganze Achterdeck wurde wie ein Federball fortgeschleudert, für Sekunden sah Robert noch die Leichengesichter Sheppards und seiner Genossen, dann kam die Katastrophe.

Ein unheimlicher, donnerähnlicher Krach spaltete das Schiff von einem Ende zum anderen, weiße Sturzseen gingen darüber hin, Robert fühlte sich emporgehoben, vom Wirbel fortgerissen und geblendet von den rauschenden Fluten – –

Dann verlor er die Besinnung.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert der Schiffsjunge