6. In New York

6. In New York.

Von einer kurzen, glücklich verlaufenen Reise an Bord eines Dampfers, besonders aber davon, was ein Heizer auf hoher See erlebt, läßt sich nicht viel Interessantes berichten. Wir beginnen daher gleich in New York, nachdem im Hafen Anker geworfen und Robert entlassen worden war. Zwar gab sich der Kapitän alle mögliche Mühe, ihn wieder anzumustern und am liebsten ganz für sich zu gewinnen, aber Robert schlug das Anerbieten rund ab.


Immer schwarz berußt da unten im glühend heißen Maschinenraum stehen und von Zeit zu Zeit Kohlen in das Höllenfeuer schütten, – daran konnte er kein Gefallen finden. Hoch oben in den Mastspitzen, an Deck im sausenden Nordsturm, wo Menschenkräfte ein Nichts werden, das liebte er, das war sein Leben und dahin sehnte er sich zurück. Der Freiheitsdrang seiner Seele, verschärft durch vierzehntägige Gefangenschaft im Maschinenraum des Dampfers, brach mit ganzer Macht hervor, als ihm der Mastenwald im Hafen von New York zum erstenmal vor Augen kam.

Jetzt erst war sein Wunsch erfüllt, jetzt war er in der weiten Welt und sah und staunte, ohne gleich alle neuen Eindrücke ganz in sich verarbeiten zu können. Was ihm besonders auffiel, waren die riesigen amerikanischen Flußdampfer mit den drei hoch übereinander gebauten Decks, den riesigen Schaufelrädern und dem etwa hundert Meter langen Schiffsrumpf. Daneben lagen die großen Chinafahrer, diese Riesensegelschiffe, gegen die sich die ›Blume von Frankreich‹ wie eine Nußschale ausnahm. Die Unterrah eines dieser gewaltigen Segler hätte schon für das französische Schiff als Mastbaum dienen können.

Auf den Dämmen an der Hafenmauer sah er dasselbe Treiben wie auf dem Baumwall in Hamburg, nur in viel größerem Umfang und außerdem malerisch belebt durch die verschiedenen Nationaltrachten der Farbigen in allen Abstufungen, der Chinesen und Orientalen. In Hamburg hatte er diese Gesichtszüge und diese Rasseeigentümlichkeiten schon kennengelernt, aber doch nur unter der alltäglichen Kleidung der Seeleute, jetzt dagegen sah er Chinesen mit langem Zopf und spitzen Schnabelschuhen, Türken mit Turban und buntemKaftan, sah Armenier im langen, dunkelbraunen Rock und Japaner mit ihrer hellen, weiten, auf große Hitze berechneten Kleidung. Alle diese Leute suchten und fanden Arbeit, schlossen und lösten neue oder ältere Verbindungen, sprachen in babylonischer Verwirrung gruppenweise durcheinander und waren mit den üblichen Arbeiten beschäftigt, die es eben nur im Hafen gibt: sie löschten und luden die Schiffe und waren an den Kränen und Umschlagplätzen tätig.

Überhaupt hatte Robert von der Großartigkeit der technischen Entwicklung in Amerika bis jetzt noch keinen Begriff gehabt. Wie staunte er, als er die großen Getreide-Verladebrücken sah, riesige Eisenkonstruktionen, auf denen Eisenbahnwagen bis über die Schiffe geschoben wurden, dann öffnete sich eine Klappe, und der Weizen fiel direkt in den Laderaum.

An anderer Stelle hob ein eiserner Kran spielend die schwersten Lasten aus dem Schiffsraum heraus. Riesige Ketten, jede mit einem armesdicken Haken versehen, fuhren rasselnd in die Tiefe und wurden dort an der Kiste oder Tonne, die heraufzubefördern war, festgelegt. Dann, auf ein gegebenes Zeichen, drehte ein Mann einen Hebel, und die Last hob sich federleicht empor, worauf wieder ein anderer Hebel den ganzen, fast zehn Meter hohen und ebenso breiten eisernen Kran um seine eigene Achse drehte, so daß nun die Tonne über dem bereitstehenden Wagen in der Luft schwebte und nur durch einen Druck herabgelassen zu werden brauchte.

Was zehn Männer kaum in einer Stunde vollbracht hätten, das wurde hier durch das Ineinandergreifen der technischen Einrichtungen spielend in wenigen Minuten getan.

Robert ging langsam, um alles zu sehen, alles zu beobachten, besonders aber, um das herrliche Gefühl der Freiheit so recht zu genießen. In seiner Tasche klapperten die Dollars, und unter seiner Mütze wirbelte es von den Plänen und Hoffnungen einer goldenen Zukunft. Jetzt erst konnte er tun oder lassen, was er wollte, konnte seinen Wunsch nach Abenteuern vollständig befriedigen und von Pol zu Pol die ganze Erde kennenlernen. Er war nun bald ein volles Jahr von Hause fort und hatte das siebzehnte Lebensjahr beinahe erreicht; seine besten Freunde hätten in dem lang aufgeschossenen, von der südlichen Sonne braun gebrannten Matrosen mit dem ersten dunklen Flaum auf der Oberlippe und dem ganzen gereifteren Aussehen wohl kaum das Kindergesicht wiedererkannt, das er vor Jahresfrist noch zeigte. Auch die Stimme war tiefer und die Schultern waren breiter geworden, mit einem Wort, Robert hatte sich recht gut herausgemacht, und der Gedanke, nach Hamburg zurückzukehren, lag ihm fern. Ja, wenn er das Geld seines alten Freundes in der Tasche gehabt hätte! – Aber mit leeren Händen vor den Vater treten? – Nein und tausendmal nein. Erst mußte er es zu etwas bringen, dann sollten die Pinneberger Augen machen und sich zuflüstern: „Der Robert Kroll ist doch ein Teufelskerl, hat richtig draußen in der Welt das große Los gewonnen.“

Dieser Gedanke schmeichelte ihm sehr, obwohl er dabei doch einiges Herzklopfen verspürte. Er wußte, daß das, was er wünschte, nicht das war, was er unter allen Umständen hätte tun müssen, nämlich seine alten Eltern um Verzeihung bitten und sich mit ihnen aussöhnen. Er wußte auch, wie ganz anders er in der Einsamkeit der unbewohnten Insel darüber gedacht hatte, aber – der Hang zu Abenteuern und ungewöhnlichen Erlebnissen riß ihn mit sich fort.

Er schlenderte im neuen, hübschen Seemannsanzug am Hafen entlang und rauchte eine Zigarre, deren Rauch ihm schon längst kein Unbehagen mehr einflößte. So etwa fünf oder sechs Tage lang konnte er von seinem kleinen Schatz noch leben, und bis dahin würde sich ja eine Heuer finden, möglichst nach unbewohnten wilden Küsten, vielleicht nach Afrika, wo die Ansiedlungen der Weißen zwischen den Bambushütten der Eingeborenen stehen, wo man mit kleinen Muscheln anstatt mit Geld bezahlt und die Schwarzen in ihrer ganzen Ursprünglichkeit kennenlernen kann. Er wollte sich überhaupt nur für eine Reise heuern lassen, um ganz sein eigener Herr zu bleiben. So sehr wie jetzt, da er eine schwere Zeit hinter sich hatte, war ihm die Reiselust, die Freiheitsschwärmerei noch niemals zu Kopf gestiegen.

Sein Herz blieb freilich davon unberührt. Er schrieb an die alten Eltern einen so kindlichen Brief, wie ihn nur ein liebevoller, gehorsamer Sohn schreiben konnte, und wie er ungekünstelt aus seiner innersten Seele kam. Dann brachte er das umfangreiche Schreiben, das natürlich vor allem einen Bericht seiner Erlebnisse enthielt, selbst zur Post und begann wiederum die Musterung am Hafen. Jedes Segel erregte ja seine Aufmerksamkeit, jede Welle grüßte er mit lachenden Augen.

Er saß auf einer zwischen zwei Steinen schwebenden Kette und beobachtete das Verladen eines Chinafahrers, als sich ihm wie zufällig ein Mann näherte, der in englischer Sprache um etwas Feuer bat. Robert hatte durch seinen Aufenthalt unter den Matrosen der Galliot und des Dampfers diese Sprache oberflächlich gelernt, daher reichte er sofort dem Fremden die Zigarre. Aber das Kraut, das der andere rauchte, mußte wohl nicht besonders viel wert sein, denn das Feuer verlöschte immer wieder, ohne gezündet zu haben.

Der Fremde bat endlich um einen Augenblick Geduld und warf die Zigarre fort, während er eine andere aus der Brusttasche nahm. „Wahrer Schund, was mir der Gauner da gegeben hat!“ brummte er in deutscher Sprache.

Robert lächelte. „Sollten wir zufällig Landsleute sein?“

„Ach, Sie sind Deutscher?“

„Aus der Nähe von Hamburg, ja!“

Der Unbekannte streckte mit der Miene eines angenehm Überraschten die Hand aus. „Das trifft sich ja gut“, sagte er zuvorkommend. „Auch ich bin Hamburger.“

Robert berührte, nachdem er die dargebotene Rechte kräftig geschüttelt hatte, seine Mütze und rückte etwas beiseite, um auf der Kette dem Fremden neben sich Platz zu machen, dann, als beide Zigarren lustig den blauen Dampf emporwirbelten, folgte erst ein allgemeines Gespräch, das jedoch der Unbekannte schon sehr bald und sehr geschickt auf Roberts persönliche Angelegenheiten hinüberzuspielen wußte.

„Sie sind, wie ich sehe, ein Seemann?“ fragte er. „Schon Vollmatrose?“

Robert lachte. „Streng genommen bin ich noch Junge“, antwortete er, „aber vielleicht gelingt es mir ja, eine Heuer als Leichtmatrose zu bekommen. Leisten kann ich's.“

„Das läßt sich denken. Sie sehen aus, wie ein kräftiger junger Mann von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren.“

Robert errötete ein wenig. Noch hatte ihn niemand mit ›Sie‹ angeredet, und viel weniger war er wie ein erwachsener Mann behandelt worden. – Wirklich, dieser Fremde gefiel ihm außerordentlich. „Ich bin aber doch erst siebzehn Jahre“, antwortete er bescheiden. „Um als Leichtmatrose anzukommen, muß ich schon großes Glück haben.“

Herr Hastedt, wie sich der Fremde nannte, lächelte mit einer Art von Gönnermiene. „So wissen Sie nicht, mein junger Freund, daß an tüchtigen Seeleuten immer Mangel ist?“ fragte er. „Zwanzig Heuer für eine, und wenn Sie heute noch anmustern wollen. Die Kapitäne suchen ihre Mannschaft mit der Laterne zusammen.“

Robert wußte nun zwar, daß diese Behauptung nicht ohne einigen Grund war, aber ganz so leicht hatte er sich die Sache denn doch nicht gedacht, überhaupt wollte er bei seiner zweiten Wahl vorsichtiger sein und erst alles genau kennenlernen, ehe er den Vertrag abschloß.

„Hm, hm“, meinte er und suchte seine Unerfahrenheit möglichst zu verbergen, „gute Schiffe haben wohl immer Besatzung genug. Es ist mehr der Ausschuß, der, wie Sie sagen, mit der Laterne suchen muß.“

Um die Mundwinkel des Fremden zuckte verhaltenes Lächeln, das er aber schnell zu unterdrücken wußte. „Aber nein“, gab er kopfschüttelnd zurück, „wirklich nicht. Versuchen Sie es, und die Erfahrung wird lehren, daß ich recht habe. Selbstverständlich“, fuhr er scharf betonend fort, „dürfen Sie dabei diejenigen Schiffe nicht mitrechnen, zu denen sich die Matrosen drängen wie die Fliegen um den Honigtopf. Sie wissen, welche ich meine.“

„Natürlich“, beeilte sich Robert zu antworten, „natürlich. Hauptsächlich sind das wohl –“

„Die Walfischfahrer“, ergänzte der Fremde unbefangen nickend. „Ich sehe, Sie haben sich ein hübsches Verständnis Ihres Faches schon erworben, mein junger Freund. Ja, ja, die Walfischfahrer sind glückliche Leute. Immer Jagd, anregende Beschäftigung, sehr gutes Leben und Geld wie Heu. Aber freilich, da anzukommen hält schwer.“

Roberts Herz schlug wie ein Hammer. Er wußte davon nicht das geringste, hatte sich über Walfischfahrer und Walfang nur oberflächlich unterrichtet, aber das durfte er ja nicht verraten, und doch brannte er vor Begierde, gerade auf ein solches Schiff zu kommen. Selbst wenn er nicht gewünscht hätte, möglichst viel Geld zu verdienen, so würde ihn die Sache selbst unwiderstehlich gereizt haben.

Äußerlich blieb er aber ruhig, und auch Herr Hastedt sah so gleichmütig über den Hafen, als sei nur vom Wetter die Rede gewesen. „Ich kenne manchen, der auf zwei oder drei Fahrten zum reichen Mann wurde“, fügte er hinzu.

Robert nickte. „Ja, ja das habe ich auch schon gehört. Die Heuer ist glänzend, und –“

Wieder fiel ihm der Fremde ins Wort. „Und so ein Anteil am Fang ist auch nicht zu verachten, da haben Sie sehr recht, mein Herr. Überhaupt arbeitet man williger und lieber, wenn es zum eigenen, als wenn es zum Nutzen anderer geschieht. Davon kann sich auch der beste Mensch nicht freisprechen.“

Robert hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Einen Anteil am Gewinn erhielten also die Matrosen auf den Walfischfahrern, sie waren gewissermaßen ihre eigenen Herren und arbeiteten in Teilung. Oh, wer das Glück hätte, auf ein solches Schiff zu kommen!

Aber er wollte sich nichts merken lassen, nicht den Neuling verraten. „Ja“, sagte er leichthin, „es war auch schon manchmal meine Absicht, eine solche Reise mitzumachen, aber das muß sich zufällig treffen. Gerade auf diesem Gebiet habe ich keine Verbindungen.“

Herr Hastedt blies den Rauch der Zigarre in Wolken von sich. „Ich wüßte im Augenblick auch nichts“, sagte er bedauernd. „Aber wie wäre es, wenn wir ein Glas Bier zusammen trinken würden?“

Robert war einverstanden, und die beiden neuen Bekannten schlenderten durch die Straßen bis zu einem Wirtshaus, das nicht gerade nach ausgesuchter Gesellschaft aussah. Das Schild war verräuchert und schwarz, die Fenster blind von Staub, und das Innere war des wenig einladenden Äußeren würdig. Dennoch aber drängten sich die Gäste Kopf an Kopf, obwohl freilich Robert keinen einzigen Matrosen oder sonst einen Seemann entdecken konnte.

Die Schenke lag in einer Nebenstraße, und ihre Gäste bestanden aus Bürgern ziemlich niederer Klasse.

Herr Hastedt bestellte für sich und seinen Begleiter Bier, dann nahmen die beiden an einem Nebentisch Platz, ohne sich in die Unterhaltung der übrigen zu mischen. Alle möglichen deutschen Mundarten klangen zu ihnen herüber, besonders die Hessen und Nassauer waren sehr stark vertreten, ebenso die Württemberger, deren ›Schwäbeln‹ Robert kaum verstand. Unter diesen Landsleuten, einfachen Handwerkern – es waren alles Auswanderer ärmster Kreise – befand sich ein älterer Mann, dessen Kupfernase den Trinker verriet und dessen Erzählungen die Zuhörer außerordentlich zu fesseln schienen.

„Geben Sie noch ein paar Geschichten zum besten, Herr Kapitän“, hieß es. „Wirklich, man sollte es kaum glauben, daß ein Mann dem Tode oft so nahe gewesen und so oft entronnen sein kann, wie Sie.“

„Mer gruselt sich so scheene derbei!“ sagte ein zweiter, dessen Sperlingsfigur und schäbig-eleganter Anzug den Schneider deutlich verriet. „Schießen Se los, Herr Gabedän!“

Der lächelte nach allen Seiten und tat dann einen gewaltigen Zug aus dem vor ihm stehenden Grogglas. „Auf Ihr Spezielles, wie wir Studenten zu sagen pflegten“, nickte er zu dem Schneider hinüber. „Ich war nämlich auch einmal, bevor ich zur See ging, da heim in Göttingen Student, bis mir die Bücherfresserei zu langweilig wurde und ich auf und davon lief. Mein älterer Bruder hatte eben sein Schiff zur Walfischjagd ausgerüstet, also eins – zwei – drei – plätscherte ich im Eismeer.“

Bei dem Worte ›Walfischjagd‹ hatte Robert unwillkürlich seinen Begleiter angesehen, aber dieser zuckte leicht die Achseln, als wolle er sagen: „Der Kerl lügt ja!“ –

Am anderen Tisch ging inzwischen die Unterhaltung lebhaft fort. „Ich sage Ihnen, solche Fahrt macht Spaß und ist das Merkwürdigste, was man erleben kann“, rief der als Kapitän Angeredete. „Ich bin einmal in Sibirien schiffbrüchig geworden und mußte monatelang an Land leben. Es war hinter Tobolsk, ganz in der Nähe der Behringsstraße, nur noch drei Meilen vom Mond entfernt.“

Einer der Zuhörer hüpfte vor Erregung auf dem Sitz empor. „Vom Mond?“ wiederholte er. „Das ist ja wohl nicht möglich!“

Kapitän Witt, so nannte sich der alte Mann, nickte mit dem ernsthaftesten Gesicht. „Wie ich Ihnen sage, meine Herrschaften. In dieser Gegend neigt sich der Himmel zur Erde herab, müssen Sie wissen, es ist gerade da, wo beide zusammentreffen, am Rande der Welt, wo alles dunkel wird und man nicht weiterkommen kann, weil man sonst ins Bodenlose fallen würde. Wenn sich der Mond auf seiner Wanderung gelegentlich in diese Sackgasse verläuft, so ist er der Erde auf drei Meilen Entfernung nahe, und wir wären fast einmal hinaufmarschiert, um den grinsenden Alten zu begrüßen, aber es ist ein unbehagliches Gefühl, so ganz in die Enge zu geraten und sich von der Erde zu entfernen. Man weiß nicht, wie es da oben eingerichtet ist und wohin die Fahrt geht.“

Die ganze Zuhörerschaft hatte andächtig gelauscht, und erst als Kapitän Witt schwieg, atmeten die Mutigsten wieder auf. „Gott, was man nicht alles erfährt!“ sagte einer. „Da lebt man so seinen Tag herunter und denkt an nichts Böses, während andere dem Mond gerade ins Gesicht sehen. Wie groß war er denn wohl, so aus der Nähe betrachtet?“

„Oh, ein ganz anständiger Kerl, sage ich Ihnen. Ich bin einmal vier Stunden lang mit der Uhr in der Hand unter ihm dahinmarschiert und hatte noch nicht die Hälfte seines Durchmessers erreicht. Ein Schritt hier auf der Erde macht zehn Meilen im Mond, müssen Sie wissen.“

„Zehn Meilen!“ echote die Versammlung. „Aber um Himmelswillen, wie erfährt man denn solche Dinge?“

Kapitän Witt trank sich neue Begeisterung aus dem Glas an, das inzwischen mehr als einmal gefüllt worden war. „Dazu haben wir unsere Instrumente“, antwortete er mit der Miene eines vortragenden Gelehrten. „Es läßt sich alles auf den Meter genau berechnen.“

„Aber wie lebt man denn in diesen Gegenden?“ fragte wieder einer aus der Zuhörerschaft. „Was zieht man an und was ißt man?“

Der Erzähler fuhr mit dem Rücken seiner Hand über den Mund. „Die Kleidung ist sehr einfach“, antwortete er. „Sie besteht aus Pelz und bedeckt den ganzen Körper; im Winter wird sie mit dem Haar nach innen und im Sommer nach außen getragen. Es ist daher einmal zu heiß und das andere Mal zu kühl, aber davon wissen die Russen nichts. Man findet überhaupt nirgends so abgehärtete und rohe Menschen wie gerade hier. Den Kohl essen sie ungekocht und als Leckerbissen dazu eine Talgkerze.“

Widerwillen und Entsetzen wurden am Tisch laut. Robert und Herr Hastedt sahen sich lächelnd an.

„Es ist erstaunlich, was sich diese Landratten aufbinden lassen!“ flüsterte der Fremde.

„Glauben Sie überhaupt, daß der Mann jemals im Eismeer gewesen ist?“ fragte Robert.

„Gott bewahre! Er hat nie ein Schiff unter den Füßen gehabt. Solche Tagediebe werden von den Wirten freigehalten, weil sie die Gäste durch ihre Aufschneidereien zum Bleiben und zum Trinken veranlassen.“

„Hören Sie nur, jetzt fängt er wieder an.“

Die Biergläser der beiden klangen leise aneinander. „Auf eine gute Heuer für Sie!“ flüsterte Herr Hastedt, und dann horchte man um des Spaßes willen nach dem anderen Tisch hinüber.

„Von einer Jagd im Eismeer sollte ich Ihnen erzählen, meine Herrschaften?“ ertönte des Kapitäns heisere Stimme. „Well! Das können Sie haben. Seehunde, Walrosse, Eisbären, Moschusochsen, Rentiere, Füchse, weiße Hasen, Schneehühner, – habe ich alle mit der Kugel oder der Harpune erlegt. Welches Abenteuer ziehen Sie vor?“

Die biederen Landleute und Handwerker bestellten massenhaft neues Bier nach, bevor sie noch näher zusammenrückten und sich endlich für das schaurigste Erlebnis des vielgereisten Berichterstatters entschieden.

Der räusperte sich, ehe er wieder die Stimme erhob, „Nehmen wir also das Walroß“, sagte er. „Das Tier wird ungefähr fünf Meter lang und mindestens zwanzig Zentner schwer. Seine Haut hat eine Dicke von anderthalb Zentimeter, Sie können mir deshalb glauben, daß sie einen kugelsicheren Panzer bildet. Und diese Häßlichkeit, sage ich Ihnen! Große Glotzaugen ohne Lider, fast meterlange Stoßzähne und der Rachen verdeckt von Borsten, die mindestens so dick sind wie Stricknadeln. Zu diesem teuflischen Aussehen kommt eine Stimme, deren Brüllen, Bellen und Pusten auch den mutigsten Mann erschüttern kann. Ich sage Ihnen, ich fürchte mich vor dem leibhaftigen Satan nicht, wenn er nur in fester, körperlicher Gestalt vor mir erscheint, so daß sich seine und meine Kräfte miteinander messen können, aber – diese Ungeheuer haben doch manches Mal das Blut in meinen Adern zu Eis erstarren lassen. Wenn man so auf dem meterdicken Eis wie auf dem sicheren Erdboden geht, und von unten her taucht plötzlich solch ein Höllenhund auf, um uns die Stoßzähne, mit Seegras und den Überresten getöteter Fische verziert, in den Leib zu jagen, da danke ich für das Vergnügen. Das ist des Spaßes etwas zu viel.“

„Meterdickes Eis?“ wiederholten ungläubige Stimmen. „Die kann das Walroß durchbrechen?“

„Ach – wie gar nichts. Das gibt ein kurzes Geprassel, vor Ihren Füßen entsteht plötzlich ein Loch, das schwarze Wasser darin schäumt und zischt, und mein liebenswürdiges Ungeheuer mit den langen Zähnen schiebt sich ganz gemütlich heraus, um sich über Sie herzumachen, – sehen Sie, das ist die Walroßjagd!“

„Puh! – Und das haben Sie erlebt? Mußten Sie vielleicht mit diesen gräßlichen Tieren kämpfen?“

„Das will ich meinen. Unser Schiff lag ziemlich weit von der Küste entfernt, an einer Stelle, die für den Fang der Walrosse sehr geeignet war, aber wir hatten das Unglück gehabt, bei einem plötzlichen Sturm mehrere Fleischfässer zu verlieren, und mußten daher soviel wie möglich an Land jagen, um den Ausfall zu decken. Na, das ging auch ganz nach Wunsch, denn die Rentiere sind dort sehr zahlreich, aber eines schönen Tages verfehlten wir den Rückweg und schoben den mit vier erlegten Tieren beladenen Handschlitten unglücklicherweise in das Packeis hinein, so daß uns der Boden immer wieder unter den Füßen brach. Es ging so nicht vorwärts, das sahen wir nur zu bald, und ließen daher den Schlitten allein, nachdem wir ihn auf eine feste Stelle gehoben hatten, um ihn später mit dem Boot an Bord zu holen. Aber kaum war die mühevolle Arbeit beendet, als unmittelbar vor uns mehrere Walrosse auftauchten und ihre unangenehme Gegenwart durch ein satanisches Gebrüll zu erkennen gaben. Wir wie der Blitz über das Eis davongelaufen, – es war, als sei uns der Teufel auf den Fersen. Wortlos ohne Verabredung, ohne Zeitverlust rannten wir drauflos, aber das führte zu nichts, weil die schlauen Tiere tauchten, unter dem Eis schwammen und alle Augenblicke rechts oder links von uns wie böse Geister von unten hervorbrachen. Unwillkürlich verteilten wir uns, um sie irre zu leiten, und das Manöver gelang über Erwarten gut. Unverletzt kamen alle an die Boote, aber – der Schlitten war zurückgelassen, und ohne ihn konnten wir nichts anfangen. Ihn später an Bord zu holen, war unbedingt notwendig.

Nachdem wir erst einmal tüchtig gegessen und uns gut bewaffnet hatten, besetzten wir die Boote mit je vier Mann und einem Harpunier, nahmen Gewehre, Messer und Lebensmittel mit uns und wollten jetzt aus Rache und einmal erweckter Jagdlust unsererseits die Walrosse verfolgen.

Gedacht, getan. Die Boote glitten am Rande des festen Eises dahin, bis zu der Stelle, die wir als Lagerplatz der Tiere kannten. Durch die Gläser entdeckten wir auch wirklich eine ganze schlafende Herde, aber außerdem auch den Wächter, der regelmäßig, wie bei vielen andern Tiergattungen auch, ausgestellt wird, um bei herannahender Gefahr ein Warnungszeichen zu geben.

Das kurze Gebrüll ertönte, und die Herde stürzte sich schon in einer Entfernung von wenigstens zwanzig Meter Hals über Kopf ins Wasser, aber – vier Walrosse schwammen uns geradewegs, wie zur Herausforderung, entgegen. Unser Harpunier, neben mir im Bug des ersten Bootes stehend, erwartete gefaßt die Tiere, und als das erste herankam, stieß er ihm die Harpune mit voller Kraft in den Körper.

Und nun folgte eine furchtbare Szene. Das Walroß sank schwer verwundet ins Wasser zurück, aber es richtete sich nach kurzer Pause wieder auf um ein anhaltendes, wildes Gebrüll auszustoßen. Daraufhin tauchten jetzt plötzlich die borstigen Köpfe an zehn Stellen zugleich auf und umzingelten das Boot, von dem aus ihr Kamerad verwundet worden war.

Für uns galt es nur noch, das nackte Leben zu retten. Wir alle stachen, schossen, schlugen und schleuderten mit jedem Gerät, das uns in die Hände kam. Dennoch aber wäre es um fünf unerschrockene Männer sehr bald geschehen gewesen! – Eins der Ungeheuer schob den riesenhaften Körper gerade unter den Kiel des Bootes, hob es hoch empor, so daß es zu schwanken schien, daß wir fast den Halt verloren, und – – –“

„Hören Sie auf!“ riefen schaudernd die zuhörenden Auswanderer. „Das kann ja kein Pferd ertragen.“

Auch Robert und sein neuer Freund sahen sich an. „Sollte er nicht trotz allem Seemann gewesen sein?“ fragte Robert „Sollte er nicht diese Jagd wirklich erlebt haben?“

Herr Hastedt zuckte die Achseln. „Ich kann mich irren“, meinte er. „Manchmal kommt es mir selbst so vor. Doch lassen Sie uns hören, wie die Sache ausläuft. Der Wirt versorgt ihn schon mit einem frischen Grog.“

„Weiter! Weiter!“ drängten einige unter den Zuhörern. „Der Kapitän sitzt ja gesund hier bei uns, also warum soll man sich fürchten? – Erzählen Sie weiter!“

Der Kapitän tat einen tiefen Zug. „Das Boot schwebte also gleichsam“, fuhr er fort, „schien zu zittern und im nächsten Augenblick umschlagen zu wollen, – zwei riesige, weiße Hauer bogen sich von unten herauf über den Rand, ein Schreckensschrei zerriß die Luft. Das Fahrzeug lag jetzt so auf einer Seite, daß das Wasser hineinzulaufen begann, immer stärker schob und drängte das schnaufende Tier unter dem Kiel.

Da richtete ich mich auf, nahm alle meine Kräfte zusammen und holte aus zu einem Axthieb, der einen Stein hätte brechen müssen. Richtig – das Walroß trieb mit gespaltenem Schädel tot an der Oberfläche des Wassers! – –

Es war aber auch in letzter Sekunde, wie man so sagt. Noch eine Minute länger, und wir alle hätten im Meer gelegen, den Ungeheuern zur sicheren Beute. Als die anderen Boote herankamen, zeigte sich, daß wir während des kurzen, erbitterten Kampfes neun Walrosse harpuniert, getötet und verwundet hatten. Die Fahrzeuge schwammen buchstäblich in Blut, im Wasser ringsumher sah man überall die sterbenden Tiere, und noch viel Mühe kostete es, die riesigen Körper mit Seilen einzufangen und am Boot zu befestigen.

Der Kampf war wild, die Gefahr groß gewesen, aber dennoch hatten wir bei dieser Jagd nicht allein unsern Schlitten geborgen, sondern erbeuteten auch außer den Häuten und Zähnen noch neun Tonnen Tran. Ja, ja, wenn man so an seine Jugend zurückdenkt und wie schön damals das Leben war, – man könnte ganz wehmütig werden. Jetzt spalte ich längst schon keinen Walroßschädel mehr!“

Es schimmerte etwas wie echte Trauer in den Augen des Kapitäns, als er diese letzten Worte sprach. „Die Zeit auf meines Bruders Schiff da oben im Polareis war die reichste und glücklichste, die ich durchlebt habe“, fuhr er fort. „Solange ich ein junger, kräftiger Mann war, konnten nur Kampf und Gefahr mich begeistern; ich habe oft gedacht, daß bei ewig gutem Wind und hellem Sonnenschein der Teufel Seemann werden möchte, aber nicht ich. Sich durchsetzen, mit allen Naturkräften kämpfen, List gegen List setzen und überwinden, was sich feindlich entgegenstellt, – das allein heißt leben.“

Robert hatte sich unwillkürlich vorgebeugt. Er glühte förmlich, seine Augen leuchteten, und seine Brust hob sich schneller. Was dort der alternde Mann mit dem Feuer langvergangener Tage aussprach, das war ja sein eigenes Glaubensbekenntnis, das empfand er ja genau so. Nur kein tatenloses Dahinleben, kein ängstliches Zurückbleiben in den engen Grenzen des Gewohnten, des Alltäglichen, nur kein Scheindasein ohne Kampf und Sieg!

Er nahm sein Glas und ging zu dem alten Kapitän hinüber, um mit ihm anzustoßen. Woher ihm der Mut dazu so plötzlich kam, begriff er selbst nicht, aber es war geschehen, kaum daß ihm der Gedanke gekommen war. „Ihr Wohlsein, Kapitän!“ sagte er freundlich. „Wer so viel erlebt hat wie Sie, der darf wirklich zufrieden auf seine Jugend zurückblicken.“

Anscheinend sehr angenehm überrascht, erhob sich der Erzähler und stieß kräftig mit Robert an. Seine und Hastedts Blicke begegneten sich dabei wie zufällig und nur auf Augenblicke, aber doch schien es, als hätten sich beide ein geheimes Zeichen gegeben. Während sich Hastedt gleichgültig zum Fenster wandte, schüttelte der Kapitän mit gewinnender Herzlichkeit die Hand des Jungen. „Ein Landsmann“, sagte er, „und ein lustiger Seewolf obendrein, was? Freut mich ganz besonders, Ihre werte Bekanntschaft gemacht zu haben!“

Robert errötete. „Sie erzählen so sehr fesselnd und anregend!“ sagte er etwas verlegen. „Kommt nicht noch ein bißchen mehr?“

Der Kapitän blinzelte ihm vertraulich zu, als wollte er sagen: „Diesen Eseln muß man es faustdick geben, bevor ihnen die Geschichte wirklich gefällt. Ich lüge ihnen natürlich die Haut voll, daß es nur so zischt.“

Laut sagte er aber mit ermunterndem Lächeln: „Ich muß mich also jetzt verteufelt in acht nehmen, da einer von meinem Handwerk dabei ist, nicht wahr? – Sie werden mir gehörig auf die Finger sehen, ob ich wohl in das Garn ein paar kleine Flunkereien hineinspinne?“

Robert lachte mit. „Erzählen Sie ruhig weiter! Ging die nächste Reise vielleicht an den Südpol und von da zur Sonne hinauf?“

Kapitän Witt blinzelte noch stärker. „Sie Allerweltskerl“, sagte er, „also Sie haben mir die Geschichte nicht geglaubt? – Aber das beweist nur, daß Sie ihre schätzenswerte Nase nicht in jede Windrichtung gesteckt haben, oder – waren Sie schon in Sibirien?“

Robert schüttelte den Kopf. „Leider nicht“, antwortete er. „Sehen möchte ich allerdings gern die ganze Erde, aber das läßt sich wohl schwerlich verwirklichen.“

„Hm, hm, Sie haben ja noch ihr ganzes Leben vor sich, können manchen Knoten segeln und manchen Hafen kennenlernen, junger Brausekopf. Aber Sie gefallen mir, wenn auch das Ei ein bißchen klüger sein möchte als die Henne, – in diesem Fall freilich als der Hahn. Setzen Sie sich zu uns, und rufen Sie auch Ihren Begleiter herüber.“

Herr Hastedt stellte sich vor, man brachte neues Bier, und der alte Seemann nahm den Faden seiner Erzählung wieder auf.

„Eisbären kennen Sie alle, nicht wahr, meine Herrschaften?“ fragte er. „Sie haben welche in den zoologischen Gärten gesehen, doch haben diese, in unzulänglichen Gehegen gefangenen Tiere nur wenig Ähnlichkeit mit den in Freiheit lebenden.“

Der Eisbär ist stark wie ein Löwe, hinterlistig wie ein Tiger und schwimmt dabei wie ein Fisch. Einmal hätte mich einer doch beinahe erwischt; ich kam wirklich nur mit genauer Not davon. Wir hatten nämlich an Bord nichts zu tun, es war Sonntag, und daher ging ich an Land etwas spazieren, um mir die Großartigkeit dieser eingefrorenen, ewig unter Eis begrabenen Natur aus nächster Nähe anzusehen. Nichts Böses ahnend, die brennende Zigarre im Mund und die Hände in den Taschen meines Pelzes, wandere ich so dahin, ziemlich weit vom Schiff entfernt. „Was sie jetzt wohl in der Heimat machen?“ denke ich und werde so ein bißchen wehmütig, als ich mir das Bild des Elternhauses deutlich vorstelle. Die blinde Großmutter im Lehnstuhl am Ofen, der Vater mit kurzer Pfeife die Zeitungen lesend und Mutter und Schwestern am Herd beschäftigt. Alles ist so gemütlich, die Blumen am Fenster blühen, die Nachbarn grüßen herein, und das Zimmer wird von dem Ofen angenehm durchwärmt. – Herrgott, denke ich, könntest du für ein paar Stunden dort sein, dich einmal wieder an frischem Fleisch und Gemüse satt essen und von dem alten Kachelofen gründlich auftauen lassen, – das wäre so etwas! Aber daraus wird ja nichts, mein Junge, du bist am Nordpol und bewunderst Eisblöcke, mehr ist für den Augenblick nicht zu haben.

Und wie ich gerade bei diesem trüben Gedanken ein bißchen stärker seufze, legen sich mir von hinten ein paar Pranken auf die Schultern und zwingen mich in die Knie. Ehe ich mich recht besinnen kann, packen scharfe Zähne meinen Kopf, – der glücklicherweise ziemlich rund und hart gewachsen ist und den außerdem die festgebundene Pelzkappe schützte, so daß das Maul des riesigen Tieres nicht groß genug war, um mich ernsthaft verwunden zu können. Dennoch aber schleppt es mich fort, – ohne Halten – wie eine Windsbraut – über Stock und Stein – über Eis und Gletscher, während ich schreie, Kinder, na, – jeder unter euch kann sich vorstellen, wie!

Meine Fäuste bearbeiten das zottige Fell, und meine Kehle springt fast von der unnatürlichen Anstrengung, aber der Bär kümmert sich um nichts, er segelt vorwärts wie eine Fregatte unter vollen Segeln, immer hast du nicht gesehen, hier über einen Eisblock, wo meine armen Beine den Sprung mitmachen müssen, daß ich fast glaube, sie gehören mir gar nicht mehr, – und dort durch einen Tümpel Schlampeis, daß das Wasser wie eine Schlange über meinen Körper kriecht, – Gott im Himmel, das war eine Fahrt. Trotzdem aber verlor ich das Bewußtsein nicht, sondern sagte mir, daß ich den Zähnen des Bären unrettbar verfallen sei, wenn er erst einmal die freie, offene Eisbahn erreicht haben würde. Dann konnte kein Mensch mehr mit ihm um die Wette laufen, und ich wurde gefressen wie ein Seehund oder ein Fisch. Bis zum Meer also hatte ich noch Hoffnung, von meinen Kameraden gehört zu werden, – ich schrie, daß mir das Blut aus Mund und Nase stürzte.

Na, sie haben es ja dann auch gehört, und die, denen damals bei der Walroßjagd mein Axthieb das Leben rettete, haben den Bären mit ihren Gewehren so tapfer verfolgt und von der freien Fläche abgeschnitten, daß er schließlich, um sein eigenes Leben zu retten, mich fallen lassen mußte. Ich lag wie ein Toter auf dem Schnee und wurde von einigen meiner Kameraden an Bord gebracht, während alle anderen den Bären jagten. Als ich zur Besinnung kam, lag ich blutüberströmt in meiner Koje; Kopf und Hals waren von den Zähnen des Tieres zerfleischt, Arme und Beine an den scharfen Eissplittern aufschlagen, und die Haut von den Fingern fast ganz abgeschält.

„Nun, dafür halfen Eis und Verbände. Ich konnte schon nach acht Tagen das Fell des erlegten Bären von den Füßen abziehen und machte mir daraus, nachdem ich es gereinigt und mit Alaun gerieben hatte, ein Paar Strümpfe, die wärmsten, die ich jemals besessen habe. Haare und Klauen blieben dran, also konnte ich auf dem blanken Eis laufen wie der beste Schlittschuhkünstler.“

Ein Murmeln um den Tisch gab das Erstaunen der Zuhörer zu erkennen. Kapitän Witt trank und blinzelte hinter dem Glas zu Robert herüber, als wolle er sagen: „Hast du gehört?“

„Mehr, Herr Kapitän, mehr!“ rief der Junge, dem die ganze Erzählung größten Spaß machte und der heimlich noch immer hoffte, auch etwas von der Walfischjagd zu hören. „Sie waren bei den Strümpfen aus Eisbärenfell stehen geblieben.“

Der Erzähler strich den Schnurrbart. „Im Gegenteil, mein Freund, ich lief auf diesen Strümpfen wie der Wind“, lächelte er. „Ich habe sogar einen lebenden Fuchs mit bloßen Händen gefangen und in den Käfig gesteckt, nur aus Langeweile. Wir stellten den kleinen Kerl in seiner Falle neben dem Schiff auf einen Eisblock, hatten aber nicht daran gedacht, daß in der Nähe der Kombüse der Block allmählich schmelzen müsse, und so fiel denn eines Tages der ganze Bau mit Geprassel in sich zusammen. Reineke schaute verdutzt durch die plötzlich entstandene Lücke auf das Eisfeld hinaus und rannte dann mit gestrecktem Schweif in rasender Geschwindigkeit davon. Wir lachten zu sehr, um ihn aufhalten zu können. – Diese vielen Füchse, weiße, graue und blaue, sind allerdings für die Mannschaft eines Grönlandfahrers oft eine große Plage, da sie in Mondscheinnächten oder beim Nordlicht so anhaltend bellen, daß an keinen Schlaf zu denken ist.“

Herr Hastedt sah verstohlen zu Robert hinüber. „Der alte Bursche ist doch im Eismeer gewesen“, flüsterte er. „Hätte es wirklich nicht gedacht, aber diese Einzelheiten überzeugen mich. Nun, wie steht's, Herr Kroll, machen wir noch einen kleinen Spaziergang zusammen?“

Robert schob ihm die Flasche zu. „Bleiben Sie doch!“ antwortete er. „Wir sitzen hier ja ganz gemütlich.“

Aber der Deutsch-Amerikaner hatte nach der Uhr gesehen und schüttelte jetzt den Kopf. „Bedaure wirklich, Herr Kroll, ich muß gehen. ›Time is money‹, wissen Sie. Ich freue mich aber, Ihre angenehme Bekanntschaft gemacht zu haben! – Kapitän, ich empfehle mich Ihnen!“

Er reichte den beiden die Hand, und Robert hörte auch, daß zwischen ihm und dem Erzähler noch einige englische Worte gewechselt wurden, schnell und leise, – er achtete nicht darauf – dann bezahlte Herr Hastedt das Bier, grüßte nochmals mit der Hand und ging.

„Vielleicht sehe ich Sie morgen oder übermorgen hier wieder!“ rief er noch von der Tür zurück.

Robert setzte sich wieder in den Kreis. Er hatte schon mehr getrunken, als gut war, ein ganz fremdes Gefühl des Übermutes und der Sorglosigkeit ergriff ihn. Heute wurde er zum erstenmal von Männern als Mann behandelt, er trank und sprach wie sie, er hatte den „Jungen“ gänzlich abgeschüttelt.

Sein Blick streifte herausfordernd die plaudernde Tischrunde. „Still!“ rief er, mit zwei Fingern auf die Tischplatte schlagend. „Still! Der Kapitän will von seinen Erlebnissen auf der Walfischjagd erzählen.“

Die andern schwiegen, aber Witt schüttelte den Kopf. „Für diesmal nicht mehr“, antwortete er. „Ich habe nur den einen Zug mitgemacht, und der endete, als wir den Wal jagten, so traurig, daß mich die Erinnerung noch heute schmerzt. Mein Bruder verlor dabei das Leben, und unser schönes Schiff ging in Splitter.“

Roberts Augen glänzten vor Begier, die Geschichte zu erfahren. „Kapitän“, sagte er, sich halb über den Tisch beugend, „so müssen Sie nicht sprechen. Habe ich eine Gefahr hinter mir, dann sehne ich mich nach der nächsten; ist ein Kampf beendet, so denke ich an den zweiten. Glauben Sie mir, auch ich habe trotz meiner Jugend schon böse Stunden durchlebt und dem Tod mehr als einmal ins Auge gesehen!“

Der Kapitän horchte auf. „Sie?“ sagte er. „Alle Wetter, das möchte ich genauer erfahren!“

Sein Wink veranlaßte den Kellner, Roberts Glas wieder zu füllen, ohne daß es besonders auffiel. Auch durch die andern aufgefordert, begann er eine Schilderung seiner Erlebnisse und redete und trank sich in einen Rausch hinein, der seine Wangen erglühen und seine Bewegungen unsicher werden ließ.

Besonders Kapitän Witt flocht Bemerkungen ein, die alle dazu dienten, das Selbstgefühl und die Lust des Jungen an abenteuerlichen Fahrten nur noch immer mehr zu stärken. Er schlug zuletzt mit der Faust auf den Tisch und schwur, noch die ganze Welt umsegeln zu wollen.

Der Kapitän streckte den Arm aus. „Keinen solchen Schwur“, sagte er ernst. „Das tut nicht gut, – die Schicksalsmächte hören es und fangen den Vermessenen in seinen eigenen Schlingen.“

Robert lachte. „Ich bin nicht abergläubisch!“ rief er. „Das kommt erst mit dem Alter. Haben Sie eine solche Geschichte von einem Schwur, den die bösen Gewalten gehört haben, selbst mitgemacht, Kapitän? Nein, nicht wahr? Nur Ihre Frau Großmutter hat es erzählt, und die hatte es von einer Tante!“

Ein stummes Kopfschütteln beantwortete die übermütigen Worte. Der Kapitän malte mit dem Zeigefinger in dem verschütteten Bier auf der Tischplatte und sprach keine Silbe, – nur Robert konnte nicht schweigen. „War es vielleicht die Geschichte von dem zersplitterten Schiff Ihres Bruders, Kapitän?“ forschte er. „War es das?“

Witt blickte auf. Der Ernst in seinen Zügen war echt, das Beben seiner Lippen ungewollt. „Ja!“ antwortete er langsam und deutlich. „Ja, es war der vermessene, gotteslästerliche Schwur, der Schiff und Mannschaft den Untergang bereitete. Es war mein Bruder, der sich im Eigensinn verging und den der Tod ereilte, als er seines Sieges gewiß zu sein glaubte.“

Robert stand auf. „Das muß ein tapferer, unerschrockener Mann gewesen sein“, rief er, „ein braver Seemann, dessen Andenken in Ehren bleiben soll. Stoßen Sie an, Kapitän!“

Der alte Witt nickte und trank. „Ich will's erzählen“, sagte er nach einer Pause. „Solch einem Heißsporn kann es gar nicht schaden, einmal eine tüchtige Lehre zu erhalten. Also hören Sie zu, meine Herrschaften, obgleich die Geschichte traurig genug ist.

Wir waren im nördlichen Eismeer und jagten den Wal, hatten aber nur sehr wenig Glück gehabt, nur eine kleine, unbedeutende Ausbeute an Walrossen oder Seehunden gemacht und keinen größeren Walfisch gesehen. Die Mannschaft murrte auch, daß es zu kalt sei, um an Deck arbeiten zu können, daß wir umkehren müßten und daß sie feste Heuer verlange, wenn der Kapitän noch immer an dieser äußersten Grenze der Eisregion bleiben wolle.

Mein Bruder aber war ein Trotzkopf ohnegleichen. ›Ich habe noch Lebensmittel für zweihundert Tage an Bord‹, sagte er mir einmal unter vier Augen, ›mein Schiff ist fest und meine Leute sind gesund, – wer weiß, ob es mir nicht bestimmt ist, das seit Jahrhunderten vergeblich gesuchte und von vielen sogar geleugnete offene Polarmeer zu erreichen. Wer weiß, ob ich nicht bis zum Nordpol komme, Wilhelm, und dann – wäre ich der bedeutendste und am meisten bewunderte Mann meiner Zeit geworden! Die Leute müssen sich fügen, wie ich will.‹

Bei solchen Worten schüttelte ich wohl den Kopf und zeigte ihm das Bedenkliche an der Sache, aber im Grunde lockte mich der Gedanke ebenso sehr wie ihn selbst. Und wenn unser Schiffstagebuch auch nur einen Breitengrad mehr nannte, als ihn bisher ein anderes Fahrzeug erreicht hatte, so war das immerhin der Mühe wert, nur nicht für die Leute, die keinen Ehrgeiz besaßen, sondern Geld verdienen wollten. Über den eigentlichen Strich der Walfischjagd aber waren wir hinaus, das wußten alle.

›Seit acht Tagen haben wir kein Schiff mehr gesehen!‹ hieß es. ›Man muß umkehren, oder man friert plötzlich ein und kann elend verhungern.‹

›Es besteht keine Gefahr!‹ tröstete mein Bruder. ›Lebensmittel sind genug an Bord, wir jagen mehr frisches Fleisch als wir brauchen, und für den Wasservorrat sorgt der Schnee, für das Brennmaterial die ungeheuren Massen Treibholz. Was wollt ihr also?‹

Bei solchen Gelegenheiten mußte der Untersteuermann ein paar Flaschen Rum herausgeben, und so hielten wir die Leute hin, während das Schiff den achtzigsten Breitengrad beinahe erreicht hatte. Da kam uns ein anderes Fahrzeug in Sicht.

Jetzt kehrte den Matrosen der gesunkene Mut zurück, und als schließlich der Däne, denn ein solcher war es, mit uns Seite an Seite lag, da ging die Geschichte ausgezeichnet, obwohl mein Bruder den Zufall heimlich verwünschte. An Bord des ›Kong Frederik‹ waren nämlich die Blattern ausgebrochen, Kapitän und Steuermann gestorben, und der Untersteuermann nicht erfahren genug, um unter so schwierigen Verhältnissen die Lenkung des Schiffes allein zu übernehmen. Der ›Kong Frederik‹ war verschlagen worden, und sein junger Führer bat uns dringend um einen Mann, der es verstände, das Schiff wieder nach Europa zu bringen.

Nun, das konnten wir tun, da uns zufällig mehr Leute zur Verfügung standen, als für unsere Zwecke erforderlich waren, aber mein Bruder, rasch entschlossen und tatkräftig wie immer, verabredete, bevor wir uns trennten, mit dem jungen Dänen eine Art von Tauschabkommen. Die Matrosen auf beiden Schiffen sollten gefragt werden, wer lieber auf dem ›Kong Frederik‹ nach Hause zurückgehen wolle oder Lust habe, auf unserem eigenen Schiff in diesen Breiten noch länger zu kreuzen. Am folgenden Morgen sollte die Übersiedlung stattfinden.

Ich hatte am Abend dieses Tages mit meinem Bruder eine längere und sehr ernste Unterredung. Sein Gesicht strahlte vor Freude. ›Wilhelm‹, sagte er, ›das Schicksal ist mir günstig, ich bekomme lauter neue Matrosen. Die Dänen sind überhaupt ein tollkühnes, mutiges Volk, sie fürchten sich vor dem leibhaftigen Satan nicht, und ganz besonders diese Mannschaft gefällt mir. Es sind lauter Seeländer, Kerle mit Eisenfäusten und eisernem Sinn. Solche brauche ich, alter Junge! – Ja, wenn es mir gelänge, das Polarmeer zu erreichen, wenn ich Zeit genug behielte, in das ewige Eis des Nordpols meinen Namen wie in Granit zu hauen, dann wollte ich gern sterben. Hundert Jahre – tausend Jahre nach mir käme vielleicht ein anderer dorthin und läse es, – ich wäre für die Jahrbücher der Geschichte unsterblich geworden.‹

Ich konnte die Begeisterung nur halb verstehen. Zehn Jahre jünger als er, liebte ich das Leben noch mehr als den Ruhm, und – das sah er vielleicht. ›Du sollst mich nicht begleiten, Wilhelm‹, sagte er, ›du gehst mit dem „Kong Frederik“ nach Hause, und wäre es nur, um unseren Eltern wenigstens einen Sohn zu erhalten. Ich bekomme Leute genug, – die Kerle haben sämtlich vor dem Unglücksschiff, auf dem der Tod seine Ernte gehalten hat, einen heillosen Respekt. Sie verlassen es lieber heute als morgen; du gehst mit meinen Einfaltspinseln, die Angst haben zu verhungern, auf das dänische Schiff über.‹

Ich sprang beleidigt auf. ›Johannes‹, rief ich, ›das darfst du nicht verlangen, du darfst mich nicht feige oder unmännlich nennen! Ich bleibe, wo du bist, und teile dein Los.‹

Aber er schüttelte den Kopf. ›Ich will es nicht!‹ erklärte er. ›Du bist kein Seemann, Wilhelm, bist in die Musterrolle nicht eingeschrieben und noch nicht einmal mündig. Der Vater hat dich mir mitgegeben, um den Herrn Studenten ein wenig zahm zu machen, wie du weißt, also – kann ich Gehorsam verlangen.‹

Mein Blut begann zu kochen. ›War das im Ernst gesagt, das vom Gehorsam, Johannes?‹ fragte ich, zitternd vor Zorn.

Sein Blick, sein Ton entwaffneten mich. ›Nein‹, sagte er, ›das Wort war schlecht gewählt, mein Junge. Aber du tust es mir zuliebe, ich weiß es.‹

Dagegen konnte ich nichts machen. ›Johannes‹, sagte ich, noch an einer letzten Hoffnung festhaltend, ›laß uns das Schicksal fragen und seine Stimme den Streit schlichten. In alten Zeiten wurde alles durch Gottesurteil entschieden, warum nicht auch jetzt noch?‹

Er lächelte. ›Also los,‹ antwortete er. ›Aber woher willst du das Orakel nehmen?‹

Ich lief rasch zu meiner Kiste und holte die Würfel hervor. ›Einfach genug, Johannes‹, rief ich. ›Wer weniger Augen wirft, der ergibt sich. Soll das gelten?‹

Mein Bruder nickte. ›Du bist leichtsinnig, Wilhelm‹, antwortete er ernst. ›Du willst einen Zufall über dein ganzes Lebensglück entscheiden lassen, anstatt der Vernunft zu folgen.‹

Aber ich hielt die Würfel schon in der Hand. ›Das ist jetzt gleich, Johannes, – soll es gelten?‹

Er beugte sich vor. ›Meinetwegen also. Wir wollen es als ein Gottesurteil nehmen! – Gib her die Würfel.‹

Ich reichte ihm die klappernden Dinger und verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit jede seiner Bewegungen. Wer hätte wohl gedacht, daß hier Leben und Tod an einem einzigen Auge hingen! – –

Er ließ die Würfel fallen, so daß einer auf den Fußboden der Kajüte rollte. ›Nimm das Licht!‹ rief er hastig, ›sieh nach, aber laß die Augenzahl, die oben liegt, so bleiben, wie sie ist.‹

Ich nahm ein Streichholz und beleuchtete den Boden. ›Etwas abergläubisch bist du aber selbst, Johannes!‹ sagte ich, mit klopfendem Herzen den Würfel suchend. ›Aha, dort liegt er, und die Sechs ist geworfen. Wo liegt der andere?‹

›Hier‹, antwortete er und hob die Hand hoch. ›Ich habe ihn festgehalten.‹

›Auch sechs!‹ rief ich bestürzt, während er laut und fröhlich lachte. So war die Frage also zu meinen Ungunsten entschieden.

Und dabei blieb es. Ich bereitete mich mit schwerem Herzen darauf vor, das Schiff zu verlassen und mit dem Dänen nach Europa zurückzukehren. Während der ganzen letzten Nacht gingen wir beide nicht zu Bett, mein Bruder und ich, sondern er schrieb Briefe an Eltern und Freunde, und wir besprachen noch vieles, das sich uns bei dieser ganz unvermuteten Trennung hoch oben im Eismeer plötzlich aufdrängte. Vorn im Matrosenlogis war es ebenso lebendig. Die Dänen vom anderen Schiff überboten sich in lauten Worten, und mehr als einmal hörte ich die Bemerkung, daß sie geradezu darauf gewartet hätten, eine Reise bis zum Polarmeer mitzumachen. ›Unser Volk hat lange vor Kolumbus Amerika entdeckt‹, hieß es, ›wir nannten es „Wiinland“ und gründeten dort weite Königreiche. Die Dänen und Norweger sind die wahren Entdecker Amerikas, – warum sollten sie nicht den Weg zum Nordpol finden?‹

Und dann klangen die Gläser gegeneinander. Auf dem ›Kong Frederik‹ hatte sich alle Ordnung gelöst. Die Leute holten ohne zu fragen ein Fäßchen Rum herüber, und man zechte bis nach Mitternacht.

Inzwischen hatte sich der Wind bedeutend verstärkt, es herrschte eine fast unerträgliche Kälte, und als der Tag anbrach, sahen wir in einiger Entfernung vor uns schwimmende Eisberge von so riesigen Ausmaßen, wie wir sie vorher noch nie gesehen hatten, sie sahen aus wie erstarrte Gebirge, wie Gletscher, die bis zum Himmel reichten.

Zwei von ihnen, die beiden größten, trieben in einer Entfernung von etwa einer halben Meile nebeneinander her.

Ich verstand von der Seefahrt damals noch nicht viel, aber diese beiden Ungetüme waren mir doch unheimlich. ›Johannes‹, sagte ich, ›ist das nicht gerade der Kurs, den du steuern wolltest? – Natürlich muß dein Plan jetzt fallen.‹

Aber er schüttelte den Kopf. ›Mein Plan fällt nicht, Wilhelm. Der Wind ist günstiger als je, – ich wage die Sache.‹

›Johannes! – Du wolltest zwischen den Eisbergen hindurchsegeln?‹

›Ja. Sie können mich auch im Atlantischen Ozean treffen, wenn es das Schicksal will. Hier heißt die Sache ein tollkühnes Wagestück, dort ist sie unvermeidlich und überfällt vielleicht den furchtsamsten Kapitän auf der kurzen Reise zwischen Hamburg und New York. – Ich will den Versuch wagen.‹

Wenn er in diesem Ton sprach, dann ließ sich mit ihm nichts machen, aber ich hoffte noch, daß sich die Mannschaft weigern würde, und als der Umzug der Leute beendet war, raunte ich unserem auf das dänische Schiff übergehenden Steuermann die Geschichte ins Ohr. Er erschrak offenbar sehr.

›Kapitän‹, hörte ich ihn sagen, ›die Sache geht schief. Das müssen Sie aufgeben.‹

›Bei diesem Wind?‹ rief mein Bruder. ›Das tue ich niemals, Steuermann. Haben wir während der ganzen letzten Wochen solchen Wind gehabt?‹

›Das nicht, Kapitän. Es ist in dieser Beziehung allerdings ein sehr günstiger Augenblick für die Weiterreise nach Norden, aber die Eisberge –‹

Johannes wandte sich plötzlich uns beiden zu. Sein Lieblingsgedanke beherrschte ihn vollständig. ›Und wenn ich bis zum jüngsten Tag zwischen diesen Eisblöcken kreuzen müßte, so gebe ich meinen Plan nicht auf!‹ rief er mit glühenden Augen. ›Ich will hindurch um jeden Preis!‹

Der Steuermann schwieg. Er reichte seinem bisherigen Vorgesetzten die Hand und wünschte ihm eine glückliche Fahrt. Dann ging er auf den ›Kong Frederik‹ hinüber, um das Kommando des Schiffes zu übernehmen.

Ich mußte wider Willen folgen. Der Augenblick der Trennung ließ sich nicht länger hinausschieben, da das dänische Schiff aus Mangel an Lebensmitteln und Mannschaft so schnell wie möglich den Heimweg antreten wollte. ›Johannes‹, bat ich noch einmal, ›laß mich bei dir bleiben.‹

Aber er schob mich fort. ›Nein, nein, Junge, du machst mich nicht irre. Geh und grüße zu Hause die Eltern. Vielleicht komme ich ja glücklich und – berühmt zu euch zurück. Das Schiff ist mein Eigentum, die Leute folgen freiwillig, und außerdem hast du meinen Schwur gehört. – Ich kann und will nicht anders handeln. Behüt dich Gott, Wilhelm, und – nun geh.‹

Noch eine Umarmung, noch ein fester Händedruck, und dann wurden die Taue gelöst. Während der ›Kong Frederik‹ nur schwerfällig, beinahe kriechend gegen den immer stärker aufkommenden Wind zu kreuzen versuchte, flog meines Bruders unglückliches Schiff wie eine weiße Möwe über die Wogen. Es war eine schreckliche Stunde! –

Von Minute zu Minute verstärkten sich die Windstöße. Die Eisberge taumelten und neigten sich wie Berauschte, sie stießen donnernd gegeneinander, sie trennten sich auf größere Entfernungen und drängten sich dann wieder ganz nahe zusammen.

Meines Bruders Schiff war jetzt mitten zwischen ihnen. Es tanzte vor dem Wind, es gehorchte jeder Bewegung des Ruders, schien der drohenden Gefahr zu spotten. –

›Ein tolles Stück!‹ raunte der Steuermann. ›Ein halber Wahnsinn, aber – fünf Minuten solcher Fahrt bringen ihn hindurch.‹

Mir stockte der Herzschlag. Ich konnte kaum sprechen. ›Glauben Sie, daß es gelingt, Steuermann?‹ fragte ich.

Ein erschreckter Ausruf von seinen Lippen antwortete mir. Er streckte nur die Hand aus.

Zwei der schwimmenden Gebirge waren von rechts und links an das Schiff herangekommen. Wie eine Nußschale lag es zwischen den riesigen Eismassen auf dem Wasser, – nahe und näher rückten die eisenharten, spiegelglatten Wände – –

›Johannes!‹ rief ich unwillkürlich, obgleich er viel zu weit entfernt war, um meine Stimme zu hören,›Johannes!‹ – –

Noch in diesem Augenblick sehe ich das Entsetzliche, als sei es gestern geschehen. Ein Windstoß trieb die Eisberge gegeneinander, ein Krachen wie von stürzenden Welten erschütterte die Luft, das Meer zischte und schlug hohe Wellen, dann – glitten die Massen zur Seite, spielend, als sei nun ihre furchtbare Aufgabe vollbracht. –

Der Raum zwischen den beiden Eisriesen war leer, nur Trümmer und Splitter bedeckten die Oberfläche des Wassers. – –

Der vermessene Schwur meines Bruders hatte sich wortgetreu erfüllt. Er kreuzt bis zum Jüngsten Tage zwischen den Eisbergen des Nordmeeres.“

Der Kapitän hatte geendet, und sein Gesicht ließ erkennen, daß wenigstens diese traurige Geschichte nicht erfunden war. Alles schwieg, um die schmerzliche Erinnerung des Alten ungestört abklingen zu lassen, selbst Robert war stiller und etwas nüchterner geworden. – Mochte auch Kapitän Witt seit einer Reihe von Jahren schon ein Gewohnheitstrinker und Wirtshausgänger sein, – dies hatte er wirklich erlebt.

„Das ist es“, nickte er schließlich „was ich von übereilten Schwüren sagen wollte. Sie tun niemals gut. Und nun, – auf Wiedersehen.“

Er erhob sich und griff nach seinem Hut, um zu gehen, – Robert folgte ihm. „Kapitän“, bat er, „lassen Sie uns noch ein Stück zusammen gehen. Ich suche eine Heuer, und ich möchte noch etwas mit ihnen sprechen. Wissen Sie kein Schiff für mich?“

Der Alte stand lächelnd still. „Geradewegs ins Eismeer hinein, nicht wahr?“

„Ehrlich gesagt, ja. Ich habe mir die tropische Sonne auf den Kopf scheinen lassen und die ganze Pracht des Südens gesehen, – jetzt möchte ich den Nordpol kennenlernen. Ewiger Schnee, Gebirge von Eis, sie können niemals reizvoller erscheinen, als gerade dann, wenn man vorher das Gegenteil kennengelernt hat. Bin ich aus dem Eismeer zurück, so mache ich vielleicht eine Landreise, klettere auf die höchsten Gebirge und in die tiefsten Täler, oder –“

„Ich komme von der sibirischen Küste nie zurück!“ ergänzte trocken der Alte.

„Möglich. Aber dann habe ich bis zuletzt gelebt, – was ich unter leben verstehe!“ rief Robert.

„Also, um die Sache kurz zu machen, Sie hätten gern eine Heuer als Leichtmatrose auf einem Walfischfahrer?“

„Ja, Kapitän. Aber es soll schwer daran zu kommen sein, hörte ich.“

Der Alte ging ein Stück weiter, ohne zu sprechen, dann legte er plötzlich die Hand schwer auf Roberts Schulter. „Junge“, sagte er, „wenn das nun alles ein verfluchter Schwindel wäre, wenn die Nordlandfahrer für Geld und gute Worte keine Besatzung zusammenfinden könnten, ja, und wenn Herr Hastedt ein ›Schlepper‹ wäre, ein ganz gemeiner Gauner, der an dir ein paar Dollar zu verdienen hofft, he? Was würdest du dann sagen?“

Robert konnte zuerst vor Erstaunen kein Wort hervorbringen. „Das verstehe ich nicht“, antwortete er endlich.

„Well, so will ich es dir auseinandersetzen, denn deine Jugend und Unerfahrenheit tut mir leid. Siehst du, kein Matrose heuert gern auf einem Grönlandfahrer an, weil die Strapazen der Reise doppelt so groß sind, weil, wenn ein Unglück geschieht, die Küste keinen Schutz bietet, weil sich die Gefahren häufen, Hunger und Frost das Schiff bedrohen und der Gewinn vielleicht ganz ausbleibt. Willst du jetzt immer noch auf Walfang gehen, Junge?“

Robert kämpfte mit sich, ehe er antwortete. Also sein liebenswürdiger Landsmann, Herr Hastedt, hatte ihn gründlich hinters Licht geführt, und er war ihm wie ein dummer Junge ins Garn gelaufen? Alles Blut schoß ihm ins Gesicht, der Eigensinn packte ihn und hinderte ihn, ruhig nachzudenken.

„Ich will trotzdem!“ rief er. „Die Gefahren und Entbehrungen kann ich mir natürlich vorstellen, aber hochinteressant muß die Sache dennoch sein!“

Der Alte nickte. „Das ist sie auf jeden Fall. Unvergleichlich, aber kein sicheres Geschäft, außer wenn das Glück besonders günstig ist. Dann allerdings regnet es Geld, da die Mannschaft außer ihrer Heuer von vier Dollar monatlich auch ein Sechstel des Reingewinnes zu beanspruchen hat. Im Durchschnitt wird aber der gewöhnliche Matrosenverdienst nicht überschritten, und dafür ist der Dienst an Bord sehr viel härter. – Jetzt überlege dir die Geschichte, du Tollkopf. Schlaf darauf, wie man in Deutschland sagt. Ich habe dir die Wahrheit gesagt, und was du tust, das tust du auf eigene Rechnung und Gefahr.“

Robert schlug ein, als ihm der Kapitän die Hand bot. „Ich will es!“ rief er. „Mein Entschluß steht fest. Aber vor allen Dingen gehört dazu ein Schiff, das nach Grönland fährt. Wissen Sie eins?“

Der Kapitän deutete mit der Rechten auf den Hafen. „Alle diese schwarzen Schiffe mit der hohen Bordwand und den vielen Booten sind Grönlandfahrer“, sagte er. „Das dritte in der Reihe wird schon in wenigen Tagen die Reise nach dem Eismeer antreten; der Kapitän ist ein persönlicher Bekannter von mir. Jetzt aber will ich mit dem ganzen Plan nichts mehr zu schaffen haben, Junge. Du bist genau so, wie mein Bruder, und – ich mag dich nicht in den Tod schicken.“

Robert errötete. „In den Tod?“ wiederholte er.

„Ja. Wenn früher in meiner Heimat Schleswig-Holstein die Männer auf Walfang gingen, dann wurde an jedem Sonntag von der Kanzel herab für sie gebetet. Jeder Name wurde genannt, für jeden sprach der Geistliche eine Fürbitte, – das überleg dir, junger Freund!“

Er nickte und ging davon, ohne sich umzusehen. In ihm, dem tiefgesunkenen Helfershelfer eines „Schleppers“ von Beruf, der für freie Zeche in den verachteten Lagerbierkneipen des Matrosenviertels von New York die Gäste unterhielt, – in ihm hatte das hübsche, offene Gesicht seines jungen Landsmannes doch soviel Ehrgefühl wieder erweckt, daß er wenigstens den Sündenlohn verschmähte. Wenn Robert jetzt in das Bierhaus und in Hastedts Gesellschaft zurückkehrte, so war er gewarnt und wußte, daß er seine Haut zu Markte trug.

„Ein aufgeweckter, liebenswerter Bursche“, dachte er, „schade um das junge Blut, schade! – Ach, wer wieder siebzehn Jahre alt wäre! – Wer noch einmal von vorn anfangen könnte!“

Und kopfschüttelnd lenkte er in den nächsten Keller, um für ein Beefsteak und ein Glas Grog sein Garn wieder weiterzuspinnen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert der Schiffsjunge