5. Todesnot und Rettung

5. Todesnot und Rettung.

Wie trostlos war der heutige Rückweg. Gestern konnte er hoffen, ein weiches Lager und eine gefüllte Vorratskammer anzutreffen, er besaß bei aller Verlassenheit eine Art Zuhause, das ihm gehörte und wo er wohnte, jetzt dagegen mußte er fürchten, alles in schrecklicher Verwüstung wiederzufinden. Alle Zuversicht, aller Mut war dahin. Ach, wenn es Tag gewesen wäre, als das Schiff so nahe an die Küste getrieben wurde, oder wenn er es lieber nie gesehen hätte!


Unempfänglich für die neuerblühte Schönheit der Natur, für den doppelt süßen Hauch der Blumen und den jubilierenden Gesang der Vögel ging er langsam durch den Wald. Was auf ihn wartete, das wußte er nur zu genau.

Und seine Vermutung sollte ihn nicht täuschen. Als er sich der Höhle näherte, sah er schon von weitem den ganzen Umfang des angerichteten Schadens. Fast alle Planken waren aus ihren Fugen gerissen, der Herd umgestürzt, die Kochgeräte unter Schlamm vergraben und – das Schlimmste – die Lebensmittel durchnäßt.

Der kleine Bach, sonst wie ein klarer blauer Spiegel, schoß heute mit wildem Ungestüm, seine Ufer überflutend dahin und wälzte gelbe, schlammige Wellen dem Meere entgegen. Abgebrochene Zweige, Blätter und Halme trieben auf der Oberfläche.

Jetzt freilich schien die Sonne heiß und freundlich vom Himmel herab, aber auf ein Bild der entsetzlichsten Verwüstung. Robert stand an einem Baum und sah starr auf die Verwirrung. Was sollte er nun beginnen, was konnte er tun, diesem triefenden, schlammüberzogenen Durcheinander, diesen durchweichten Vorräten und dem ungenießbaren Trinkwasser gegenüber?

Zuerst gab es zum Frühstück nur Wein und eine Ananas, die er auch erst aus einem Bett von Schlamm herausgraben mußte, bevor sie sich pflücken ließ. Aber das tat nach der Anstrengung und Aufregung der letzten Nacht, bei ganz durchnäßten Kleidern und tiefster Hoffnungslosigkeit gar nicht wohl, er fühlte ein Frösteln, als die kalte Frucht in seinen Magen gelangte. Hätte er nur etwas Wasser gehabt, um Kaffee kochen zu können! Aber dieser mißfarbige Schlamm war nicht trinkbar; er mußte jeden Gedanken daran aufgeben.

Als ein Teil der Ananas verzehrt und ein Glas Wein dazu getrunken war, machte sich Robert daran, seine Lebensmittel zu untersuchen. Die Säcke mit Hülsenfrüchten hatten zwar unter Dach gelegen, aber der hereindringende Sprühregen war doch stark genug gewesen, sie zu durchnässen. Besonders das Brot und die Kartoffeln waren halb verloren. Robert warf den größten Teil ohne weiteres fort und suchte dann nach einigen trocken gebliebenen Brettern, die er in die Sonne legte und darauf den Rest sorgfältig ausbreitete. Ebenso machte er es mit den wollenen Decken, die sämtlich von Wasser und Schlamm durchdrungen waren.

Dann begann er seine Wände auszubessern. Nägel und Werkzeug hatte er reichlich, daher war diese Arbeit bald vollendet, aber ohne den unglücklichen Jungen wieder ermutigen zu können. Wenn in der nächsten Nacht ein neues Gewitter kam, so hatte er ja doch umsonst gearbeitet, – das drückte ihn fast zu Boden.

Um aber jedenfalls alles aufzubieten, was er zu seiner Sicherung tun konnte, ergriff Robert den Spaten und begann hinter der Bretterwand einen festen Erdwall aufzuwerfen, den er außerdem noch mit größeren Steinen feststampfte. Das ging zwar langsam, aber es versprach doch ein guter, seinen Zweck erfüllender Schutz zu werden, daher blieb Robert unermüdlich den ganzen Tag hindurch beim Schaufeln und Stampfen, so daß gegen Abend ein schräger Erdwall vom Boden bis zu dem niederen Felsendach hinaufreichte. Jetzt konnte der Regen kommen; er würde wenigstens nicht eindringen können, bevor die Decken in Sicherheit gebracht waren.

Die hatte die Sonne inzwischen vollständig getrocknet, aber sie knisterten unter den Fingern und verbreiteten große Staubwolken, sooft er sie schüttelte; auch der Fußboden war noch naß, und an frisches Moos war natürlich gar nicht zu denken. Robert klopfte so lange mit einem dünnen Stöckchen drauflos, bis wenigstens die getrocknete Erde herausgefallen war, dann legte er die Decken und sich selbst auf zwei leere Kisten, wo er, so gut es eben ging, zu schlafen suchte.

Während des ganzen Tages hatte er nur Wein und Früchte gehabt, daher freute er sich, am folgenden Morgen den Bach so ziemlich wieder klar zu sehen. Er wusch die Kochgeschirre, suchte das sonnigste Plätzchen und holte von dem in der Höhle versteckten Brennholz einen Arm voll herbei, um Feuer anzumachen.

Die lustigen Flammen und endlich der kräftige Kaffee gaben ihm einigermaßen Mut und Zuversicht wieder zurück, aber es saß doch ein heimliches Frösteln in allen seinen Gliedern; er tat die notwendigen Arbeiten fast gedankenlos, als gehe ihn das gar nichts an, und oft ertappte er sich auf einem unwillkürlichen Horchen. Die Kanonenschüsse klangen immer noch in ihm nach, die grausame Enttäuschung ließ sich nicht leicht wieder verschmerzen.

Er untersuchte jetzt auch seine Fleischtonnen. Aus der einen, die das bedeutend empfindlichere Schweinefleisch enthielt, quoll ihm ein Duft entgegen, der alle weitere Mühe überflüssig machte. Er versenkte das ganze Fäßchen in die Erde und überdeckte es mit einer Schicht dichten Lehms, dann setzte er die Untersuchung fort. Das Rindfleisch war noch gut erhalten, ebenso der Speck.

Robert säuberte nun das Innere seiner Wohnung und sammelte dann Moos, um es zu trocknen. Bei dieser Gelegenheit fielen seine Augen zufällig auf die ganz vergessenen Überreste seiner Fischmahlzeit. Freilich konnte von diesem Gemengsel kein Labskaus mehr gebraten werden, aber ein anderer Gedanke tauchte plötzlich auf. Diese langen spitzen Gräten – sollten sie sich nicht zu Nähnadeln brauchen lassen?

Sein Anzug war ja völlig zerrissen. Nur Fetzen und Lumpen hingen noch von seinen Schultern herab. Die Gräten waren fest genug, um jedes Zeug durchbohren zu können, aber es ließ sich an ihnen kein Faden befestigen. Robert dachte nach, bis er darauf kam, mit der Gräte in ein ganz dünnes, leichtes Stück Holz hineinzubohren und auf diese Weise ein Öhr herzustellen, das dem einer Nadel glich. Er breitete das gesammelte Moos auf Segeltüchern im Sonnenschein aus und machte sich dann daran, mit seinem Taschenmesser ein Stückchen Holz ganz platt zu schneiden. Er wollte erst das kleine Loch hineinbohren und später der Nadel ihre Form geben, damit nicht ein plötzlicher Spalt die stundenlange Mühe zunichte machen könne.

Das Essen hatte ihm am Mittag nur halb so gut wie sonst geschmeckt; ausgehen oder jagen wollte er heute nicht, und vor dem Anblick des Meeres empfand er, seit es ihn so betrogen hatte, eine Art von Grauen, daher widmete er seine ganze Zeit der Nähnadel, die ihm zu einem neuen Anzug verhelfen sollte. Das Durchbohren des Holzes erwies sich aber als keineswegs leicht; Gräte auf Gräte zerbrach, und Robert wurde immer ärgerlicher. Dann aber kam ihm ein glücklicher Gedanke, den er auch sofort ausführte. Die ursprüngliche Absicht, das Holz zu durchbohren, gab er auf und schnitt statt dessen die stärkste Gräte mit dem Messer aus der Reihe der übrigen heraus. Nun legte er ein ganz spitzes Hölzchen zum Feuer und ließ es heiß werden. Die Flammen ausblasend, drückte er das glühende Ende auf die obere Seite der Fischgräte, und siehe da, – ein leichtes Zischen zeigte, daß eine kleine Vertiefung entstanden sein mußte. Wie oft hatte er auf diese Weise seine Mutter ein Fischbeinstäbchen durchbohren sehen. Waren denn die Gräten nicht aus demselben Stoff? Allerdings nahm die Mutter dazu eine Haarnadel und hatte also ein bedeutend besseres Werkzeug als er, aber mit den kleinen Splittern des sehr harten Holzes ging es zur Not auch, wenn auch weit schwerer und viel langsamer.

Robert blieb geduldig. Er wendete von Zeit zu Zeit das feuchte Moos und warf das getrocknete in eine Kiste, dann arbeitete er weiter an dem winzig kleinen Nadelöhr, das doch so großer Mühe und Beharrlichkeit bedurfte. Heimlich dachte er dabei an die vielen bitteren Verwünschungen, die er noch vor wenigen Monaten auf alles, was Nähnadel hieß, herabgerufen hatte. Ob er gerade dafür zur Strafe jetzt so unermüdlich das Stück Holz in seiner Hand zuspitzen, ins Feuer stecken und wieder zuspitzen mußte?

Er schloß ermüdet die Augen. Es war ihm alles so gleichgültig geworden, so fremd; er arbeitete nur, um nicht müßig dazusitzen.

Und endlich, als er zum hundertsten Male die Gräte an das Licht hielt, zeigte sich, daß sie durchbohrt war. Robert war sehr stolz. Wenn er jetzt ohne Kreide, ohne Zwirn und Schere, nur mit einer Fischgräte und zerfasertem Segelgarn einen Anzug nähen konnte, so war das ein Werk, das ihm nicht jeder Schneider nachmachte. Er mußte unwillkürlich lächeln. Vater, Großvater und Urgroßvater, alle Krolls, soweit sich der Stammbaum der Familie zurückführen ließ, hatten ja mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch sitzend das Leben durchstichelt, aber wie entsetzt würden sie sein, wenn sie sehen müßten, daß der letzte Sproß dieser ansehnlichen Reihe von Schneidern ihr Handwerk mitten im Urwald und mit einer Fischgräte fortführte! –

Robert schüttete das trockene Moos auf die Stelle, wo er schlafen wollte, und räumte seine Decken wieder ein, so daß jetzt wenigstens ein gutes, weiches Lager da war. Draußen sah es noch fürchterlich aus; die Zweige geknickt und das Gras zerstampft, der ganze Boden feucht und aufgewühlt, als hätten dort Soldaten exerziert, – aber Robert kümmerte sich nicht darum. Er hatte für heute genug, daher legte er sich ohne Abendbrot zu Bett und träumte fortwährend von dem Schiff, das im Schlaf und im Wachen seine Gedanken beschäftigte. Er sah sich auf dem Mangobaum sitzen und rund um ihn herum war es heller sonniger Tag. Die Kameraden auf dem großen Dreimaster, der gerade an die Küste herankam, hatten ihn längst bemerkt, sie winkten ihm zu, sie riefen ihn an, und er wollte so schnell wie möglich zur Erde klettern. –

Wer aber im Traum fällt, der hat das Gefühl, als weiche unter ihm jeder feste Halt, als stürze er ins Bodenlose, er erwacht mit klopfenden Pulsen und Schweißtropfen auf der Stirn, atemlos wie jemand, der lange und schnell gelaufen ist.

Auch Robert fuhr vom Lager auf. „Das Schiff!“ murmelte er, „das Schiff!“

Dann aber erkannte er seine Umgebung, atmete die drückende Luft des engen, geschlossenen Raumes und taumelte auf, um zu trinken. Die Zunge klebte ihm fast am Gaumen, seine Stirn brannte, Fieberdurst raste in allen seinen Adern.

Er kroch durch die niedere Tür hinaus in den Vorraum und hob das dort stehende Gefäß mit Wasser zum Munde, um zu trinken. Aber wie kalt war der Wind, wie durchschauerte es ihn und trieb ihn zurück unter die schützenden Decken!

Er mußte krank sein, das fühlte er genau! – –

Schon wandte er sich, um wieder in die Höhle zu schlüpfen, als zufällig sein Blick die nächste Umgebung streifte. Er fuhr mit der Hand über die Augen.

Dort, wo das Mondlicht, von Blättern und Zweigen gebrochen, zwischen den hohen Stämmen am Boden spielte, in der Nähe der aufgestapelten Kisten mit Wein, – bewegte sich nicht dort im Gebüsch eine menschliche Gestalt?

Nur Augenblicke dauerte die Erscheinung, nur wie ein Schatten glitt sie zwischen dem Grün dahin, aber dennoch – –

Ein Schauer durchrieselte Roberts ganzen Körper. Wie gebannt, wie gelähmt blieb er stehen und starrte unverwandt hinüber. Nein, nein, es war unmöglich, er konnte sich nicht täuschen, er hatte deutlich einen Menschen, einen Mann in Seemannskleidung durch die Zweige schlüpfen sehen. Noch jetzt bewegten sie sich, wie von einer plötzlichen Berührung.

Roberts geistige und körperliche Kräfte kehrten plötzlich zurück. Er trat auf den freien Platz hinaus und rief mit lauter Stimme: „Wer ist da?“

Aber nur der Nachtwind antwortete ihm. Kein Laut unterbrach die tiefe Stille.

Robert lauschte, und dann rief er wieder, bis es ihm kalt über den Rücken herabrieselte und er sich selbst für wahnsinnig hielt, bis ihn in der weglosen Wildnis die eigene Stimme wie ein unheimliches Etwas erschreckte.

Im dichten Gebüsch zu suchen wäre unmöglich gewesen, da die Dunkelheit jede Flucht begünstigt haben würde, da sich der Fliehende in nächster Nähe hätte verstecken können, ohne gesehen zu werden. Wer war er überhaupt? – Ein Mensch oder ein Gebilde des wachen Traumes, ein Schatten, den die Mondstrahlen hervorgezaubert hatten? –

Robert wußte es nicht. Er glaubte bestimmt, die Erscheinung gesehen zu haben, aber woher sollte sie gekommen sein und warum sollte sie sich verbergen wollen?

Wenn die Piraten den Schlupfwinkel ihres entflohenen Opfers wirklich aufgespürt hätten, so würden sie keinesfalls zögern, sich mit offener Gewalt des Raubes zu bemächtigen und ihn als lästigen Zeugen dieser Unternehmung beiseite zu schaffen. Wen sollten sie auch fürchten? Was sollte sie hindern, einen wehrlosen Jungen zu töten, nachdem sie schon eine ganze Schiffsmannschaft hatten verschwinden lassen?

Die Insel war klein, vielleicht eine bis anderthalb Meilen im Durchmesser, und kaum so lang wie breit. Robert hatte sich auf seinem letzten Ausflug völlig überzeugt, daß sich hier keine Ansiedlung befand, daß er der einzige Bewohner war, und daß das nächste benachbarte Eiland etwa auf Kanonenschußweite entfernt lag.

Woher sollte also dieser Seemann gekommen sein? Ein Unglücklicher, ein Schiffbrüchiger war er ja bestimmt nicht, da er doch sonst nicht geflohen wäre.

Robert schüttelte den Kopf. Er hatte so lebhaft an das Schiff gedacht, daß sein Auge Gestalten erblickte, die in Wirklichkeit nicht vorhanden waren. Und doch berührte ihn dieser kleine Zwischenfall äußerst unangenehm. Er schob eine Kiste vor die Tür, ehe er sich zum Schlafen hinlegte, und konnte auch dann noch lange Zeit kein Auge schließen. Unwillkürlich horchte er, ob nicht irgendein Geräusch die Rückkehr des Unbekannten verriete, aber alles blieb still.

„Hätte ich Pikas hier!“ dachte Robert, „hätte ich nur irgendein lebendes Wesen, und wäre es ein dummes kleines Vögelchen. Aber so ganz allein, das ist schrecklich.“

Er wälzte sich unruhig auf seinem heißen Lager und schlief erst gegen Morgen ein. Als dann die Sonne hoch am Himmel stand, machte er sich daran, die ganze nächste Umgebung der Höhle genau zu untersuchen, aber ohne einen anderen Erfolg als am vorigen Abend. Es war keine Spur der Gegenwart eines Menschen zu finden, kein Anzeichen, daß jemand dagewesen war.

Robert ging bis an den Strand, sah über das Meer nach allen Richtungen, forschte auch an der Küste des gegenüberliegenden Eilandes mit angestrengten Blicken nach einem Schiff oder Boot, aber nichts zeigte sich, kein Laut war zu hören.

Robert wandte sich seiner Niederlassung wieder zu. Er war jetzt vollkommen überzeugt, in der vergangenen Nacht nur besonders lebhaft geträumt oder gefiebert zu haben und gab seufzend die letzte Hoffnung auf. Jetzt mußte er sich zuerst einen neuen Anzug nähen, daran allein hatte er zu denken, obgleich es ihm lieber gewesen wäre, sich wieder hinzulegen und in den Tag hineinzuschlafen.

Er suchte aus dem reichlichen Vorrat aller möglichen Stoffe den dunkelsten und haltbarsten heraus, dann schnitt er einen langen Streifen Segeltuch ab, nahm an seinem eigenen Körper Maß und begann mit dem Taschenmesser auf einer Kiste zuzuschneiden. Anstatt der Knöpfe würde er Bindfaden verwenden müssen, das ließ sich nicht ändern, und Futter gab es auch nicht. Aber dennoch war alles besser als die Lumpen, die er jetzt trug. Als Robert die mühevolle Arbeit des Zuschneidens beendet hatte, nahm er eine Rolle Bindgarn, das er aufdrehte, bis der Faden zum Nähen geeignet schien; dann holte er seine künstliche Nadel und fädelte ein.

Aber an das Mittagessen mußte ja auch gedacht werden, obwohl er nur wenig Hunger verspürte. Er machte also Feuer, setzte Fleisch und Bohnen auf und war nun abwechselnd am Kochen und am Schneidern. Ach, wie langsam das ging, wie oft der Faden riß und wie groß die Stiche wurden!

Aber es hielt zusammen, und das war die Hauptsache. Robert behandelte seine Fischgräte, als sei sie ein Diamant von unschätzbarem Wert, immer in der Angst, das mühsam hergestellte Nadelöhr plötzlich zerbrechen zu sehen. Wo der Stoff doppelt und dreifach übereinander lag, bohrte er mit andern rohen Gräten erst ein Loch hinein, bevor der Stich gewagt wurde. Dazwischen legte er Holz ins Feuer und goß von Zeit zu Zeit etwas Wasser nach, – alles, ohne daran Freude zu haben.

Seine Gedanken waren immer bei dem Schiff, wie er es so nahe an der Küste sah, so ganz nahe im gelben Schimmer der Blitze, daß selbst die Menschen klar erkennbar wurden, daß er deutlich den Mann am Steuer und den bei der Kanone unterscheiden konnte. Warum mußte es Nacht sein, als die Rettung fast mit der Hand zu erreichen war?

Robert stützte den Kopf gegen einen Baumstamm und schloß die Augen. Ich bin krank, dachte er, ich werde bald noch elender sein und dann ganz verlassen, ganz allein auf dieser Insel sterben! – Wenn es nur nicht allzu langsam geht.

Als er nach einer Pause die Augen öffnete, war das Feuer erloschen und der Duft des Essens sagte ihm, daß es gar sei. Er nahm aber nur einige Löffel voll, dann stellte er das übrige bei Seite und nähte eifrig weiter, um noch bis zum Abend das angefangene Kleidungsstück zu beenden. Zum Strand wollte er nicht erst gehen. Weshalb auch? Die Schiffe fuhren ja doch vorüber.

Er begriff nicht mehr, warum er sich mit so großer Mühe den Ausguck auf dem Mangobaum gebaut hatte, warum er überhaupt irgend etwas anderes getan hatte, als sich hinzulegen und zu sterben. Schon hatten die Erbsen und die anderen Hülsenfrüchte einen verdorbenen Geschmack angenommen, schon zeigte sich an der Außenseite der Fässer ein leichter Schimmel, und das Brot ging zur Neige, weil der größte Teil davon durch den Regen vernichtet worden war, – der Tod grinste ihm aus hohlen Augen von allen Seiten entgegen.

Eine sonderbare Angst bemächtigte sich seiner. Ganz ohne Widerstand durfte er sich nicht ergeben, das fühlte er, sonst war es bald um ihn geschehen. Diese Stimmung lähmte alle Kräfte.

Er raffte sich auf und nähte weiter, bis die Dämmerung herabsank. Nun war die Hose fertig, – morgen kam die Jacke dran und dann noch ein neues Wollhemd, um das alte gelegentlich im Bach waschen zu können. Baden mochte Robert nicht, er dachte mit einer Art von Grauen an die Kälte des Wassers.

In dieser Nacht schlief er besser und fühlte sich auch am andern Tage leidlich wohl, obgleich er noch immer nicht wieder an den Strand hinabging. Abwechselnd nähend und aufräumend, verbrachte er in einer Art von geistiger Untätigkeit die Stunden an diesem und auch an den folgenden Tagen. Der Palmenstamm hatte jetzt bereits achtzehn Kerben aufzuweisen, Brot und Fleisch waren zu Ende, der Rest des Specks verdorben und die Hülsenfrüchte gänzlich ungenießbar geworden, aber Robert empfand dennoch keinen Mangel. Er lebte nur von Wasser und etwas Wein, ohne jemals Hunger zu fühlen. Seine Kräfte wurden allmählich schwächer, seine Nächte immer unruhiger. In dem schwarzen, überall schlotternden und wunderlich geformten Anzug, blaß und abgemagert, erkannte er kaum sein eigenes Bild, sooft er es im Spiegel des Wassers betrachtete.

Lange Stunden verbrachte er tagsüber halb schlafend, halb seinen trüben Gedanken nachhängend in den Zweigen des Mangobaumes am Ufer. Zu tun gab es ja für ihn nichts mehr, und auch die Jagd hatte er vernachlässigt. Warum harmlose Tiere töten, da er sie doch nicht essen konnte?

Seine Blicke gingen über das Wasser, und seine Gedanken verwirrten sich zuweilen unmerklich. Er hielt nach dem Schiff Ausschau, dessen Auftauchen ihn krank gemacht hatte, er sah im Geiste immer vor sich die weißen Segel und hörte die rollenden Donner des Geschützes. – –

In seiner Behausung auf dem Mooslager lag er oft halb betäubt. Er dachte an die Heimat, an die Kameraden vom Schiff und an die Nacht, als er hierher schwamm an diesen gastlichen Strand, der ihm zum Grab werden sollte. – –

Dreiundzwanzig Kerben zeigte der Stamm. Robert war nicht am Meeresufer gewesen, seine Kräfte hatten für den weiten Weg nicht ausgereicht; er saß vor der Tür seiner Höhle, gegen den Erdwall gelehnt, und hielt die Augen im Halbschlummer geschlossen. Stunde um Stunde verrann, er scheute sich aufzustehen und blieb in der einmal gewählten bequemen Stellung sitzen. Heute war der Mond hinter Wolken versteckt, kein Strahl erhellte den kleinen freien Platz, aber Roberts Augen hatten sich so an die Dunkelheit gewöhnt, daß sie jeden Baum, jeden einzelnen Zweig deutlich unterschieden.

Er wachte mit geschlossenen Lidern. Seine Gedanken wanderten. Da rauschte es hinter ihm, als wenn die Büsche gestreift und zurückgebogen würden. Ein Schatten fiel über den Rasen.

Robert öffnete die Augen. Ohne sich zu bewegen, ohne ein Glied zu rühren, sah er hinüber zu der Stelle, von wo der Laut gekommen war.

Der Mann in Seemannskleidung stand wieder keine fünf Schritte weit von ihm entfernt. Er hielt in der Hand etwas wie eine Pistole oder ein Werkzeug.

Robert war jetzt überzeugt, einen Menschen vor sich zu sehen. Er konnte sich nicht täuschen, – das war ein Mann von Fleisch und Blut, aber kein Fiebergebilde, kein Gaukelspiel irgendwelcher Träume.

Er drehte langsam den Kopf. „Im Namen Gottes“, sagte er, „wer Sie auch sein mögen, geben Sie mir Antwort!“

Aber noch hatte er die Worte nicht ausgesprochen, als der Unbekannte zwischen den Büschen verschwand, lautlos, ohne sich umzusehen, ohne eine Silbe zu antworten, wie er gekommen war.

Das alles vollzog sich innerhalb einer Minute und ging gedankenschnell vorüber, aber Robert spürte, wie das Grauen in ihm hochstieg. War das der Geist eines seiner Kameraden von der ›Antje Marie‹? – Wollte ihn der Tote rufen, ihn den andern nachziehen in das stille Grab? –

Er suchte und forschte nicht, wo die Erscheinung geblieben war. Aber er hatte heftigen Durst; Hitze und Kälte wechselten in seinen Adern, – er tastete nach dem Wasserbehälter, um zu trinken. Doch der war leer. Robert hatte vergessen ihn am Tag neu zu füllen.

Ermattet kroch er in die Höhle und streckte sich auf sein Lager. Zum Bach zu kommen war in der Dunkelheit unmöglich, daher mußte er ohne einen kühlenden Schluck einzuschlafen suchen. Jetzt schüttelte heftiges Fieber seine Glieder, er begann irre zu reden und sich mit dem nächtlichen, geheimnisvollen Besucher zu unterhalten. „Mohr“, flüsterte er, „alter Onkel Mohr, du bist es, ich sehe dich wohl, und ich weiß, daß du mich zu dir rufen willst in das Grab, das ich gegraben habe. Aber warum sprichst du nicht mit mir, lieber Onkel Mohr, – ich möchte so gern, so gern einmal wieder eine menschliche Stimme hören.“

Robert warf den Kopf von einer Seite zur andern. Er seufzte tief, wie erleichtert. „In Pinneberg bist du gewesen, Onkel Mohr? Und du sagst, daß sie mir nicht böse sind, daß sie mich noch lieb haben und mich wie einen Toten betrauern? – Aber wo blieb denn mein Brief? – Den haben die Fischer verloren, wie ich das Schiff verlor, das große, schöne Schiff, das ich immer suche, so lange schon und so sehnsüchtig. Das Meer ist tückisch, es hat mir das eine Fahrzeug geraubt, und es besitzt doch so viele, viele, – warum durfte ich meins nicht wiederfinden?“

Er schluchzte im Traum, und dann wurde alles still. Das Fieber schüttelte ihn, kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn, das Bewußtsein war vollständig geschwunden. – –

Am nächsten Morgen erwachte er mit dumpfen Kopfschmerzen und an allen Gliedern wie zerschlagen. Während der ersten Stunden des Tages läßt das Fieber meistens etwas nach, so konnte sich auch Robert mit klarer Besinnung, obgleich schwer krank, vom Lager aufrichten. Er kroch mühsam hinaus ins Freie und schlich, an jedem Baume einen Halt suchend, bis zum Bach, um erst einmal zu trinken; dann setzte er sich in die Sonne und lehnte den Kopf an die Palme, die heute den fünfundzwanzigsten Einschnitt hätte erhalten sollen. Er konnte ihn nicht hineinkerben, die Anstrengung wäre zu groß gewesen.

Auch sein Gedächtnis war geschwächt. Er wußte nicht genau, ob ihm von der Erscheinung dieser Nacht nur geträumt hatte, oder ob er sie wirklich vor sich gesehen hatte. Dort hinten, bei den zehn großen Kisten mit Wein, dort hatte der Mann gestanden, nun schon zweimal, – gewiß, es war der Tod, der ihn holen kam.

Ein Frösteln schlich durch seine Adern. Selbst die Sonne mit ihren glühenden, versengenden Strahlen konnte ihn nicht mehr erwärmen, – seine Finger waren weiß, wie die einer Leiche, und das unangenehme Zittern wollte gar nicht aufhören.

Ich möchte einen Schluck Wein trinken, dachte er, und dann werde ich mich wieder hinlegen, um zu sterben. Die Fingerspitzen sind, glaube ich, schon tot.

Er befühlte mit der rechten Hand die Finger der linken. „Alles steif und kalt“, dachte er. „Oh, wie ich mich auf den Wein freue!“

Er schleppte sich mit Mühe bis zu den Kisten und öffnete die obere. Sie war leer.

Robert griff sich an die Stirn. Er hatte nach oberflächlicher Berechnung vielleicht vier Flaschen ausgetrunken, in der Kiste aber waren fünfundzwanzig gewesen. Wie kam das?

Doch gleichgültig. Es kümmerte ihn nicht mehr, ob diese Flaschen vorhanden gewesen waren oder ob er sich vielleicht in ihrer Anzahl geirrt hatte. Er warf mit Aufbietung aller seiner Kräfte die leere Kiste herab und öffnete die zweite.

Alles leer.

Plötzliche Glut schoß durch Roberts ermatteten Körper. Fieberhaft erregt hob er Deckel auf Deckel, bis alle zehn Kisten offen, vor ihm dastanden.

Alles leer.

Die Erscheinung, die er zweimal gerade an dieser Stelle gesehen hatte, war also doch kein Geist, kein Schattenbild gewesen, sondern ein Mensch, der allnächtlich hierherkam, um zu stehlen, ein Dieb, der dem Verschmachtenden die letzte Labung geraubt hatte.

Aber wer? Wer?

Es brauste vor seinen Ohren, seine Sinne verwirrten sich. Er glitt an den Kisten langsam zu Boden und blieb bewußtlos liegen.

Es war am Abend des zweiten Tages danach. Durch den Wald kamen drei Männer, die neben sich einen vierten mit gebundenen Händen als Gefangenen zu führen schienen. Sie trugen sämtlich. Fischerkleidung, aber in den Gürteln steckten breite Messer und auf den Schultern lagen kurze Gewehre.

„Wirklich“, sagte in spanischer Sprache der Gefangene, „ihr irrt, Kameraden. Ich bin unschuldig an dem Verbrechen, das mir zur Last gelegt wird, ich weiß von nichts und habe diese Insel nie betreten. Ihr seht ja, daß hier weder Wege noch Stege zu finden sind.“

Einer der Bewaffneten deutete auf die Axthiebe, die Robert den Bäumen beigebracht hatte. „Hier muß noch vor kurzem jemand gegangen sein!“ antwortete er finster. „Du solltest lieber alles gestehen!“

„Ich habe nichts zu gestehen!“ beharrte der andere. „Was hätte es mir auch nützen können, in eurem Boot eine öde, unbewohnte Insel anzulaufen? Diego haßt mich, daher hängt er mir die sinnlose Verleumdung an.“

Der Erste deutete jetzt auf Fußspuren, die im Sand deutlich erkennbar waren. „Was ist das?“ fragte er. „Ich glaube, deine Stiefel passen merkwürdig genau hinein, du Scheinheiliger!“

Der Gefangene erschrak sichtlich. „Ach, das ist ein Irrtum, Rafaele“, rief er rasch. „Du bist ungerecht, du willst mich los sein, und doch habe ich dir nichts getan. Aber wir müssen uns mehr links halten, – rechts ist ein Sumpf!“

„Ach! – Und ich glaubte, du habest die Insel niemals betreten, Bursche?“

Der Gefangene biß sich auf die Lippen.

„Nicht wahr?“ lachte der andere. „Da hast du dich schön hereingelegt. Aber das schadet nicht weiter. Auf jeden Verrat steht der Tod, und – ein Leben hast du ja nur zu verlieren.“

Der Gefangene wurde blaß wie Kreide. „Mehr links!“ stammelte er, „mehr links, oder wir kommen in den Sumpf.“

„Der übrigens schon weit hinter uns liegt“, ergänzte kaltblütig Rafaele. „Du mußt wissen, daß wir früher einmal ein Jahr lang auf dieser Insel wohnten, – du Verräter.“

Jetzt schwieg der Gefesselte. Er schien nach dem fehlgeschlagenen Versuch, seine Wächter zu täuschen, sich in das Schicksal, das ihn erwartete, zu ergeben, wenigstens sprach er nicht weiter, sondern schauderte nur unwillkürlich, als er sich mit seinen Begleitern dicht vor Roberts Behausung befand.

Der andere hatte ihn beobachtet. „Los!“ drängte er, „was tatest du hier? Leben Menschen auf dieser Insel?“

Der Gefangene versuchte die gefesselten Hände zu falten. „Gnade!“ stieß er hervor, „und ich will euch alles sagen!“

Der dritte der Männer ließ in diesem Augenblick einen leisen Ausruf hören. Gedankenschnell legte er die Waffe in Anschlag.

„Dort ist eine Wohnung!“ raunte er.

Der erste packte mit festem Griff die Schulter des Gefangenen. „Jetzt sprich“, zischte er, „oder du sollst mein Messer zwischen den Rippen fühlen, ehe du Zeit hast, ein Vaterunser zu beten. Wer befindet sich in dieser Höhle?“

Der Gefesselte zitterte an allen Gliedern. „Ein Kind“, stammelte er, „nur ein einzelner Junge!“

„Und du, was hast du hier gemacht? Du hast ihm unsere Geheimnisse verraten, hast mit ihm verhandelt, und – –“

„Er sah mich nie! – Er weiß nicht, daß ich in seiner Nähe war.“

„Aber was wolltest du dann hier?“

„Ich wußte, daß Vorräte von Wein auf dieser Insel lagerten“, stammelte der Gefesselte, „ich nahm ihn, da er niemand gehörte. Das ist alles, Rafaele, ich schwöre es dir, das ist alles!“

Der Fischer schüttelte zweifelnd den Kopf. „Um zu trinken fuhrst du in jeder Nacht hierher?“ fragte er. „Das ist undenkbar.“

„Gnade!“ winselte der Gefangene, „Gnade. Es ist so, wie ich sagte.“

Der Fischer stieß ihn verächtlich von sich. „Da bleibst du,“ befahl er. Und dann, sich an die beiden andern wendend, fragte er leise: „Was habt ihr entdeckt?“

Der eine richtete sich langsam auf. „Es ist, wie er behauptet“, nickte er. „Nur ein Junge, und noch dazu ein toter, glaube ich.“

Rafaele schien erleichtert aufzuatmen. Wahrscheinlich stimmte es ihn milder, daß offenbar kein Verrat im Spiel war, und daß also auch keine Gefahr für ihn selbst bestand.

Er trat näher, beugte sich über den leblosen Körper und sah lange in das blasse Gesicht. Ein unmerkliches Zucken ging über die erstarrten Züge. „Das Kind lebt!“ sagte er nach einer kurzen Pause. „Was beginnen wir mit ihm?“

Die beiden anderen sahen ihn bedeutsam an. „Die Toten plaudern nichts aus!“ meinte mit etwas unsicherer Stimme der eine.

„Das ist wahr!“ bestätigte der zweite. „Aber – ein bewußtloser –“

„Und ein Kind dazu!“ ergänzte Rafaele. „Bei San Jago, man ist zwar ein Bukanier, man zwingt die Schiffe, ihre Ladung zum Strandgut werden zu lassen, und man stopft das Maul, das durch sein Geschrei Aufsehen erregen könnte, aber –“

Dann nickte er langsam mit dem Kopf. „Wir töten keine Kinder“, sagte er. „Wir nehmen diesen Burschen mit uns, und wenn er wieder zu sich kommt, wenn wir erfahren, was er von dem Schicksal seiner Genossen weiß, so wird sich entscheiden, ob er leben darf oder nicht.“

„Jetzt bringt mir den dort“, fügte er, auf den Gefangenen deutend, hinzu. „Wir wollen hier Gericht halten.“

Einige Stöße mit dem Kolben beförderten den Gefesselten in die Nähe seiner Richter. Nur ein einziges Wort murmelten seine Lippen: „Gnade!“

„Schweig!“ rief Rafaele. „Du wirst antworten, wenn ich dich frage, sonst aber keine Silbe sprechen. – Ist dieser Junge von der Besatzung der ›Antje Marie‹? Und wußtest du, daß er auf dieser Insel war?“

„Ja, ja!“

„Sind noch mehr Waren hier, außer dem gestohlenen Wein? Und warum wurden sie auf die Insel geschafft?“

„Um sie euch zu entziehen. Es lagern noch große Ballen teurer Seidenstoffe und Spitzen hier.“

Alle drei Piraten ließen zugleich einen halberstickten Ausruf hören. „Das ist natürlich inzwischen durch den Regen alles verdorben“, meinte Rafaele. „Und du Verräter, du Schuft, weshalb hast du uns das verheimlicht?“

„Weil ihr sonst auch den Wein beansprucht und verkauft haben würdet!“

„Tier!“ sagte verächtlich Rafaele. „Bestie ohne Herz und Gewissen, treulos gegen den Kameraden von deinem Schiff und gegen die Genossen, zu denen du im Augenblick gehörst. Um zu trinken, um dich zu berauschen stahlst du uns vielleicht Tausende und verurteiltest gleichzeitig den wehrlosen Jungen, fast einen Monat lang hier zu leben; du nahmst ihm den Wein, du fragtest nicht, ob er noch irgend etwas Eßbares besaß, – du trankst nur, trankst! Sprich jetzt, weißt du, was dir bevorsteht?“

Der Unglückliche antwortete nicht. Kalter Schweiß rann über sein Gesicht herab, die gefesselten Hände zuckten, er rang vergeblich nach einem Laut.

„Du hast bei deiner Aufnahme in unsere Gemeinschaft den Treueid geleistet“, fuhr Rafaele fort, „du hast gelobt, kein persönliches Eigentum zu besitzen und kein Geheimnis für dich zu behalten – und diese Eide hast du gebrochen. Was erwartet dich also?“

Wieder kam keine Antwort von den Lippen des Gefesselten.

„Der Tod!“ sagte Rafaele nachdrücklich. „Los, Kameraden, bindet ihn an einen Baum, aber so, daß er sich nicht befreien kann. Dann sucht, ob noch Wein oder Rum zu finden ist.“

„Wir haben schon welchen entdeckt“, antwortete einer seiner Begleiter. „Hier stehen mehrere kleine Kisten mit Rum, der ihm ganz entgangen sein muß.“

„Gut. Also tut, was ich sagte.“

Die beiden Räuber nahmen den Gefangenen zwischen sich und führten ihn in das nächste Dickicht, wo sie ihn an einer jungen Palme festbanden. Sechsfache Seile umschnürten seinen Körper, nur die Arme blieben frei.

Rafaele nahm aus einer Kiste sechs Flaschen Rum, die er neben den Baum stellte. Dann begann er sein Gericht.

„Wie du gemessen hast, so soll dir gemessen werden!“ sagte er feierlich. „Wie du deinen hilflosen Kameraden verlassen hast, so verlassen wir dich; wie du alles verleugnet hast, um zu trinken, so verstoßen wir dich aus unserer Mitte und überliefern dich dem Tode auf dem Weg, den du selbst wähltest. Trinke, bis du stirbst!“

Er schwieg und prüfte die Festigkeit der Fesseln. Helles Mondlicht fiel auf die grauenhafte Gruppe der bewaffneten Räuber und des in sich zusammengesunkenen Verräters.

„Hast du noch etwas zu sagen?“ fragte Rafaele. „Kein Mensch wird jemals wieder etwas von dir hören, – also sprich, wenn dich noch irgendein Bekenntnis drückt, wenn es irgendeine Botschaft für dich auszurichten gibt.“

Der Verurteilte sah mit starren Augen von einem seiner Henker zum anderen. Die Lippen bewegten sich, aber kein Laut drang hervor.

„Auf!“ befahl Rafaele. „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“

Die drei wandten sich zum Gehen, – da rang sich ein heiserer Schrei aus der Brust des Gefesselten. Seine Arme griffen in die leere Luft, ein verzweifeltes Keuchen brach über seine aschfahlen Lippen.

„Gnade! – Gnade!“

Keiner der Bukanier hörte auf die entsetzlichen Laute. Sie gingen mit schnellen Schritten zu Roberts Ansiedlung zurück und überließen den Verurteilten seinem furchtbaren Schicksal.

Er hatte sich selbst gerichtet, um seiner zerstörenden, höllischen Leidenschaft willen, – Gallego, der Schiffskoch, dem es gelungen war, seine Landsleute für sich zu gewinnen und ihr Genosse zu werden; Gallego, der im Leben nur ein Glück kannte: zu trinken, – und der nun darum sterben mußte.

Leise schaukelnd glitt das Boot über die Wellen. Ein paar Decken, unter Roberts Kopf gelegt, einige Tropfen Branntwein, ihm mühsam eingeflößt, und außerdem der frische, seine brennende Stirn umspielende Seewind hatten seine Lebensgeister zurückgerufen. Er war noch ohne Besinnung, aber die Gedanken begannen sich zu regen, und einzelne abgebrochene Worte drangen über seine Lippen.

„Das Schiff? Wo ist das Schiff? – Als ich wieder hinübersah, war es fort. – Soll es niemals – niemals zurückkehren?“

Die drei Bukanier saßen in tiefem Schweigen. Sie wagten kaum, ihre Blicke zu erheben, kaum in dies jugendliche, vom Tod schon berührte Gesicht zu sehen. Vielleicht war ihnen das Abscheuliche ihres Berufes nie so deutlich vor Augen geführt worden, als eben durch die unbewußten Worte des kranken Kindes. Sie mußten glauben, daß mit dem verlorenen Schiff die Galliot gemeint war, und sie wußten ja nur zu gut, was aus ihr geworden und wie das alte, unbrauchbare Fahrzeug auf Strand gesetzt und zu Brennholz zerschlagen worden war.

Es schien, als ob sich in diesen abgehärteten Verbrechern doch noch der Funke einer alten warmen Menschlichkeit regte, als sie diesen halbverhungerten, durch ihre Schuld zum Gerippe abgemagerten und dem Tode überlieferten Jungen vor sich sahen. Sie dachten vielleicht an ihre eigene schuldlose Jugend, an den langen Weg der Verbrechen, an den ersten Fehltritt, der sie weiter geführt hatte auf abschüssiger Bahn, immer weiter bis zu Raub und Mord an wehrlosen Menschen.

Leise rückte der eine die Decken, und leise glättete der andere das Haar über Roberts Stirn. Als man den Strand der größeren Insel erreicht hatte, trugen abwechselnd zwei Männer den Schwerkranken bis zu der hölzernen Hütte, die der Bande als Wohnsitz diente. Hier legten sie ihn auf ein gutes, weiches Lager und bedeckten seine Stirn mit kalten Umschlägen. Der Koch mußte außerdem einen schweißtreibenden Tee zubereiten, der dem Kranken eingeflößt wurde, so oft er Durst verspürte.

Das war im ganzen wenig heilkünstlerischer Aufwand, aber vielleicht gerade deswegen drang die unverdorbene Natur des Jungen am ehesten wieder durch. Am neunten Tage kam endlich die Krisis, aus der Robert mit vollem Bewußtsein erwachte. Freilich war er so schwach, daß ihm die Lippen zitterten, und daß er kaum den Kopf drehen konnte, aber dennoch streifte sein Blick mit grenzenlosem Erstaunen die Umgebung.

Fenster aus Glas, Türen mit Schlössern, eine wohl eingerichtete Küche mit blankem Geschirr, rauchende, spielende Männer um einen Tisch versammelt, und darauf die Überreste einer leckeren Abendmahlzeit, – so sah er zum erstenmal das Innere der Hütte.

Hätten nicht wehende Baumzweige in die offenen Fenster einen Gruß hereingenickt, hätten nicht mehrere Nebengebäude und eine Anzahl großer Hunde das Gegenteil bezeugt, so würde Robert geglaubt haben, daß er sich noch an Bord der ›Antje Marie‹ befinde, daß alles, was dazwischen lag, nur ein schrecklicher, beängstigender Traum gewesen sei. Er versuchte sich der letzten Ereignisse deutlich zu erinnern, aber das ermattete Gehirn vertrug noch keine Anstrengung; er schlief nach wenigen Minuten wieder ein.

Als Robert am folgenden Morgen wieder erwachte, fühlte er sich kräftig genug, eine leise, kaum verständliche Frage zu stellen: „Wo bin ich?“

Zwei der Bukanier, die gerade im Zimmer waren, wandten sich zu ihm. „Gut Freund, Kamerad“, antwortete einer. „Lieg du nur still und erhole dich, armer Kerl.“

Das konnte Robert zwar nicht verstehen, da es in spanischer Sprache gesagt worden war, aber der Ton beruhigte ihn. Man hatte auf seine Fragen freundlich geantwortet, das hörte er wohl.

Der Koch brachte ihm ein reichliches Frühstück aus gekochten Fischen, Früchten, Reis und Braten, aber Robert konnte natürlich davon so gut wie gar nichts essen, er war auch zu gespannt auf eine Erklärung, wie er hierher gekommen sei, als daß er an irgend etwas anderes hätte denken mögen. Die Männer, die ihn umgaben, erkannte er auf den ersten Blick als die Räuber der ›Antje Marie‹ und die Mörder seiner Kameraden; aber wie hatten sie ihn aufgefunden, und warum war nicht auch er getötet worden?

Der Bukanier stellte noch verschiedene Fragen, die Robert weder verstand, noch beantworten konnte; auch Rafaele, der Anführer der Bande, kam und überzeugte sich, daß sein Gast der spanischen Sprache vollkommen unkundig sei, – am folgenden Tage aber erschien er wieder in Begleitung mehrerer anderer, unter denen einer das Deutsche so halb und halb radebrechen konnte.

Jetzt begann ein regelrechtes Verhör, in dessen Verlauf Robert wohl fühlte, daß nur seine eigene Vorsicht und Klugheit ihm das Leben retten konnte. Sechs von diesen wildaussehenden, bewaffneten und schwarzbärtigen Flibustiern umstanden sein Lager und beobachteten ihn scharf, während er die gestellten Fragen beantwortete.

„Wann hast du die Galliot verlassen?“ hieß es, „und weshalb?“

„Am Mittag“, antwortete Robert, „und auf Befehl des Kapitäns. Wir brachten Waren nach der Insel, wo drei von uns für einige Zeit bleiben sollten. Meine Kameraden ließen mich allein, um noch einmal zum Schiff zu fahren, aber sie kamen nicht zurück. Ich bitte Sie, sagen Sie mir, wo die ›Antje Marie‹ jetzt liegt?“

Die Bukanier traten zusammen. Es entstand ein Murmeln und Beraten, bei dem auf Roberts Stirn der Schweiß in großen Tropfen perlte. Jetzt hing sein Leben an einem einzigen Haar, und obendrein fühlte er in der Nähe dieser Verbrecher eine wirkliche Furcht. So allein und schutzlos unter Mördern, ihrer Willkür preisgegeben, vielleicht mit der Aussicht, an einen Baum gebunden und erschossen zu werden oder als eine Art Sklave für immer hier auf der Insel bleiben zu müssen, – das war mehr als beängstigend. Die großen Bluthunde mit den lechzenden Zungen und den rotunterlaufenen Augen umstanden wie Höllenwächter sein Lager, und die Piraten sprachen noch immer lebhaft in spanischer Mundart.

„Eine Kugel“, sagte der erste, „eine Kugel, Kameraden; das macht die Sache kurz.“

„Aber es ist ein unnötiges Blutvergießen, Danielo. Das Kind hat uns nichts getan, sein Tod bringt uns keinen Gewinn.“

„Er kann uns verraten!“

„Er ahnt nichts, das hörst du ja. Wir sind Fischer, die ihren Erlaubnisschein von der Regierung gelöst haben. Jedermann weiß, daß wir hier wohnen, jedermann kennt die Strandgesetze, die das geborgene, dem Meer entrissene Gut den Bergern zusprechen. Was fürchtest du also?“

„Daß der Schlingel lügt. Ich wollte wetten, ihn auf der Galliot gesehen zu haben. Er weiß genau, daß wir dort waren.“

Rafaele wandte sich wieder zu dem Dolmetscher und ließ den Kranken fragen, ob er auf dem Schiff irgendwelche fremden Männer gesehen habe. Robert antwortete der Wahrheit gemäß, daß er von dem Abkommen, das van Swieten mit einigen Fischern abgeschlossen hatte, durch den Kapitän selbst unterrichtet worden sei, und daß man manche Waren nur deshalb auf die Insel überführt habe, um den hohen Wert der Ladung zu verheimlichen. „Der Kapitän wollte uns in ein paar Tagen von Havanna aus abholen“, schloß er seinen Bericht.

„Und du weißt nicht, wohin er gesegelt ist? Du hast das Schiff nicht wiedergesehen?“

„Nein.“

Rafaele wandte sich zu den andern. „Kameraden“, sagte er, „unsere Gesetze werden in jedem einzelnen Fall durch Stimmenmehrheit festgestellt, und dies gilt auch für diese Angelegenheit. Wollt ihr es, so wird der Junge erschossen, ich aber mag damit nichts zu schaffen haben, sondern erkläre ein solches Todesurteil für Mord. Und nun entscheidet!“

Danielo hob die Hand. „Er sterbe“, sagte er mit festem Ton. „Nur die Toten sind ungefährlich, nur ihrer ist man ganz sicher.“

Aber keiner außer ihm rührte sich. Rafaele war als Anführer zu beliebt und auch zu gefürchtet, um nicht durch seine Stimme die Sache von vornherein entschieden zu haben. Alle Bukanier schwiegen.

„Danielo“, sagte nach einer Pause der Räuber, „du hörst, daß sich niemand deiner Meinung anschließt. Der Junge bleibt am Leben und bleibt hier, bis sich Gelegenheit findet, ihn auf ein Schiff zu setzen. Jetzt könnt ihr gehen.“

Die Bukanier entfernten sich, und Robert blieb mit seinem Wärter, dem Koch, allein zurück, ohne über den Ausgang der Sache irgend etwas erfahren zu haben. Nach und nach aber beruhigte er sich doch, da man ihn fast gar nicht mehr beachtete, sondern ihn ganz sich selbst überließ.

Nur Gomez, der Koch, behandelte ihn freundlicher und lehrte ihn einzelne spanische Worte, die Robert mit deutschen Ausdrücken beantwortete, so daß aus der Unterhaltung der beiden ein Kauderwelsch entstand, wie es komischer wohl selten gehört worden ist.

Wenn der blasse, abgemagerte Kranke vor der Tür im Sonnenschein saß und mit langsamen, schwachen Bewegungen für seinen neuen Freund irgendeine kleine Arbeit verrichtete – das Gemüse putzte, Früchte schälte oder die Messer schliff – so brachte ihm Gomez heimlich ein gutes Glas Wein und ein gebratenes Huhn oder dergleichen, wobei dann das spanisch-deutsche Wörterbuch um manchen kostbaren Ausdruck bereichert wurde. Doch die beiden kamen gut miteinander aus, und das war genug, da sie fast immer allein die Insel bewohnten. Rafaele und seine Leute kamen manchmal wochenlang nicht nach Hause, manchmal nur für die Nächte, und wieder an anderen Tagen nur zum Mittagessen; der Koch aber mußte immer darauf vorbereitet sein, sooft es verlangt wurde, ein schmackhaftes Mahl zu bereiten. Robert sah in einem der Nebengebäude eine Speisekammer, die für einen großstädtischen Gastwirt vollkommen ausgereicht haben würde. Frisches Geflügel, die feinsten Fische, Früchte, Gemüse und Weine, alles war vorhanden. Ganze Fässer voll Butter lagen im Schatten einer Erdhöhlung, ganze geschlachtete Kälber und Ochsen hingen an eisernen Haken. – Die Bukanier vertauschten den Ertrag ihrer Fischerei im Hafen von Havanna gegen andere Lebensmittel und brachten nur dann einige eingeweihte Händler mit auf die Insel, wenn es solche Geschäfte gab, die im engsten Vertrauen der Käufer und Verkäufer abgeschlossen werden mußten. Schon längst waren die Seidenstoffe und Spitzen aus Roberts Niederlassung herübergeholt worden, und schon als der Junge noch ohne Besinnung dalag, hatte man sie zu Geld gemacht.

Er sah keine Überreste des unglücklichen alten Schiffes, und auf seine wiederholten Fragen hieß es, daß es untergegangen sein müsse, niemand wisse davon. Robert war jetzt erst vollkommen überzeugt, daß alle seine Kameraden ermordet worden waren, aber er hatte Selbstbeherrschung genug, das nicht öffentlich durchblicken zu lassen, und erkundigte sich desto mehr nach den Einzelheiten seiner Erlösung von der Insel.

Hätte ihm nicht der Koch den Namen Gallego genannt, so würde er die ganze, halb in Worten, halb durch lebhafte Gebärden vorgetragene Erzählung kaum begriffen haben, so aber verstand er ihren inneren Zusammenhang sogleich. Gomez schloß beide Augen, um anzudeuten, daß es dunkel gewesen sei, darauf schlich er unhörbar auf den Fußspitzen bis zu einigen Flaschen, die er schnell ergriff, unter den Arm schob, mit scheuen Blicken nach allen Seiten sah und dann mit denselben Katzenschritten davonhuschte.

Robert hatte ihn verstanden. „Gallego“, sagte er, „›Antje Marie‹, nicht wahr?“ – Dann machte er die Bewegung des Trinkens.

Der Koch nickte lebhaft und fuhr in seiner Erzählung fort, indem er mit gerecktem Oberkörper jemand nachzublicken schien. Er ballte die Faust. „Caracho!“ murmelte er, „Dieb!“

Dann ergriff er ein Seil, stürzte sich auf den Besen, der in stiller Beschaulichkeit an der Tür lehnte, sah ihn mit rollenden Augen an und schnürte ihn gegen einen Pfahl. „Muertos!“ rief er, „Muertos!“ – und schloß wieder die Augen, um anzudeuten, daß das Wort so viel wie ›Tod‹ bedeute.

Als er sah, daß ihn Robert verstanden hatte, legte er mit bezeichnendem Blick den Finger auf den Mund. „No hablan (Nichts ausplaudern)!“ sagte er.

Robert schüttelte den Kopf. Die Kenntnis von dem Aufenthalt Gallegos unter der Bande hätte ihm ja bestimmt das Leben kosten müssen, daher konnte der schlaue Gomez vollkommen überzeugt sein, daß er schweigen würde.

Also dieser wüste Trinker, der Mann, den er schon in Hamburg mit scharfem Messer auf seinen Nebenmenschen hatte losgehen sehen, war es gewesen, der ihn durch das gespenstische, mitternächtliche Erscheinen auf der Insel so sehr erschreckt hatte, der von seiner verzweifelten Lage genau wußte und dennoch nichts tat, um ihn zu befreien oder ihm wenigstens beizustehen, als er krank dalag.

Seine Strafe war schrecklich gewesen. Robert vergab dem Gerichteten, was er ihm getan hatte, und wünschte seiner Seele aufrichtig Frieden. Er bat den Koch, an einem freien Tag mit ihm hinüberzufahren zu der Insel, die er aus mehr als einem Grunde vor seinem Abschied von dieser Gegend noch einmal wiedersehen wollte. Anfangs weigerte sich Gomez aus Furcht vor der Rache der andern, die immer noch gegen Robert ein heimliches Mißtrauen hegten, dann aber gab er nach, und als eines Tages die ganze Bande fort war, segelte er mit seinem jungen Schützling hinüber. Welch ein eigentümliches Gefühl war es für Robert, den Platz wiederzusehen, an dem er so bittere, hoffnungslose Stunden durchlebt hatte.

Mit Gomez ließ sich zu wenig sprechen, um solche Erinnerungen in Worten wiederzugeben. Desto besser aber konnte er das, als die kleine Niederlassung erreicht war. Der Koch streichelte voll Mitleid die eingefallenen Wangen des Jungen, und aus dem, was er in seiner lebhaften Sprechweise hervorsprudelte, entnahm Robert deutlich genug, daß er gegen die beiden plumpen Messingtöpfe aus der Kombüse der ›Antje Marie‹ und gegen die leere Tonne, in der das Pökelfleisch gewesen war, die größte Nichtachtung ausdrücken wollte. Bei solcher Kost konnte ja keine Gesundheit bestehen.

Robert sah noch einmal in die Höhle hinein, in der er fast einen Monat lang gewohnt hatte, und dann suchte sein Blick den einzigen Gegenstand, den er zur Erinnerung an diese Insel mit sich nehmen wollte: die Nähnadel aus der Fischgräte.

Er hatte längst aus dem reichlichen Vorrat der Flibustier einen neuen, anständigen Matrosenanzug erhalten, aber er wollte doch die Gräte, mit der er sich in höchster Not geholfen hatte, für immer aufbewahren, – ja, er hoffte in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als dies kleine, selbstgefertigte Werkzeug einmal seinem Vater zu zeigen und ihm beweisen zu können, daß sich das Krollsche Blut in der Stunde der Gefahr glänzend bewährt hatte, daß es den Schneider offenbart hatte, ohne Tisch, ohne Schere, ohne Bügeleisen, – nur mit einer Fischgräte.

Und richtig, da steckte sie. Zwischen zwei Brettern war ein kleiner freier Raum, wohin er sie damals gelegt hatte. Voll Freude verbarg er seinen Schatz in der Tasche, um dann nach einem letzten Abschiedsblick auf die Umgebung mit Gomez den Baum zu suchen, an dem Gallego so trostlos umgekommen war.

Da die beiden auf gut Glück das Gebüsch durchstreiften, dauerte es ziemlich lange, bis die Stelle gefunden war. Ein schauerlicher Anblick bot sich ihnen. An einer Palme, von Seilen umschnürt, stand aufrecht das Gerippe des Verurteilten. Bis auf die Knochen abgenagt von Geiern und Füchsen, weiß gebleicht von den sengenden Strahlen der Sonne, – so sahen sie die letzten Überreste des Unglücklichen, der durch Trunksucht sein eigener Henker geworden war. Sämtliche sechs Flaschen Rum, die Rafaele in die Nähe des Baumes gelegt hatte, waren bis auf den letzten Tropfen leer, wahrscheinlich also hatte sich Gallego durch den maßlosen Genuß des Alkohols einen ganz plötzlichen Tod zugezogen.

Stumm sahen sich die beiden an, und dann machte Robert eine halb unwillkürliche Bewegung, die der Spanier sofort mit lebhaften Gebärden beantwortete. Er lief zurück zu seiner Höhle, um den Spaten zu holen und ein Grab zu graben. Die Flibustier hatten ja alles Gerät, das sich vorfand, unbeachtet liegen lassen.

Als er zurückkam, ergriff Gomez sofort das plumpe Werkzeug und sagte wieder mit seinen ausdrucksvollen Gebärden ganz verständlich: „Gib her, armer Junge, du hast ja keine Kräfte!“

Robert war sehr damit einverstanden. Er wünschte ohnehin für den letzten Besuch an Mohrs Grab keinen Zeugen und entfernte sich daher, während Gomez grub, auf dem bekannten Wege, um zum Strand zu kommen. Als er hier das letztemal ging, war es im halben Fieber, in stumpfer Ergebung dem Unvermeidlichen gegenüber gewesen, – jetzt dagegen mit neuer Hoffnung, neuem Mut für die Zukunft. Ließen ihn die Räuber nicht gutwillig fort, so würde sich ja die Gelegenheit zur Flucht früher oder später finden. Er fühlte sich jeden Tag kräftiger werden und gab nichts verloren.

Die Rettung von dieser Insel im Augenblick der höchsten Gefahr war ja fast ein Wunder zu nennen. Er fühlte die ganze volle Dankbarkeit gegen das Schicksal erst hier, wo er am verzweifeltsten gewesen war, als das Schiff, das er in der Gewitternacht so nahe am Strand gesehen hatte, vor seinen Augen in der Ferne verschwand.

Ein Gesangbuchvers, den er vom Chor der kleinen heimatlichen Dorfkirche herab so oft mit seiner klaren Stimme gesungen hatte, ein alter, vergessener Vers fiel ihm hier am Ufer der entlegenen Insel plötzlich wieder ein, er summte ihn halblaut vor sich hin und empfand dabei so ganz seine tiefe Wahrheit:

Der Wolken, Luft und Winden

Gibt Wege, Lauf und Bahn,

Der wird auch Wege finden,

Da dein Fuß gehen kann.

Er glaubte die Natur nie so schön gesehen zu haben wie heute, als er nach langer, schwerer Krankheit den ersten Ausflug machte. Fast heiter ging er an die letzte Ruhestätte des alten Freundes. Dort grünte und blühte es in allen Farben, dort murmelte das Wasser und warf spielend leichte Wellen an den Strand. Robert hatte Mühe, die Stelle wiederzufinden, so üppig war während der zwei Monate die Pflanzenwelt überall vorgedrungen. Aber er fand es doch und pflückte eine kleine weiße Blume, die zu der Fischgräte in den kleinen ledernen Brustbeutel wanderte, welchen ihm Gomez geschenkt hatte.

Der war gewiß schon ganz ermüdet und wunderte sich, daß ihm so gar kein Beistand geleistet wurde. Robert sah noch einmal zurück, er sah noch einmal über das Meer, dann kehrte er sich ab. – Der gutmütige Gomez hatte, als er wieder bei ihm anlangte, das Gerippe des Gerichteten bereits mit einer leichten Erdschicht bedeckt, und so war denn der kleine Ausflug für diesmal beendet. Man fuhr zurück zu der Niederlassung der Räuber, wo Gomez vor allen Dingen eine tüchtige Mahlzeit auf den Tisch brachte. Robert hatte überhaupt nie in seinem Leben bessere Tage gehabt als gerade jetzt. Er wurde zu keiner bestimmten Arbeit gezwungen, sondern half nur dem Koch, wo es sich traf, und pflegte den Garten, in dem die Bande alles baute, was zur Vervollständigung einer feinen Küche gehört. Außer den bekannten Gewürzkräutern und Gemüsen gab es dort Liebesäpfel, spanischen Pfeffer, Champignons und anderes mehr. Auch Ananas und Bananen wuchsen da, und außerdem hielten sich die Flibustier einen großen Hühnerhof, einige Schweine und Kühe. Nur Pferde hatte man nicht, weil eben keine Felder bebaut wurden.

Robert war sozusagen der Herr all dieser reichlichen Schätze. Die Flibustier kümmerten sich darum fast gar nicht. Sie schafften nur Proviant in Massen herbei, während seine Verwendung dem Koch überlassen blieb. Auf ein anstrengendes, gefährliches Tagewerk sollte ein üppiges Mahl und ein guter Trunk folgen, das war es, was sie wollten und wofür sie lebten.

Die Speisekammer stand immer auf, die Früchte wuchsen in Fülle, die Weinfässer lagen in einer Art von Erdhöhlung, die nie verschlossen wurde, und Arbeit gab es fast gar nicht. Robert konnte glauben, in das Schlaraffenland des Märchens versetzt worden zu sein, er mußte dies Leben verführerisch nennen, aber dennoch hatte er keinen Augenblick das Verlangen, der Bande anzugehören. Er dachte täglich und stündlich an den Augenblick, der ein Schiff hierherführen und ihn befreien sollte.

Warum ihn wohl die Fischer noch immer hier behielten? Er begriff es nicht und fragte einmal den Koch danach. Gomez wiegte mit schlauem Lächeln den Kopf. Er setzte den Zeigefinger auf Roberts Brust. „Bukanier!“ sagte er.

Der Junge errötete. „Ich? – Niemals, Gomez.“

Der Koch zuckte die Achseln. „Roberto Bukanier“, wiederholte er, „no hablan andere Bukanier!“

Jetzt begriff er die Meinung des Spaniers. „Ich soll erst an den Verbrechen der Räuber teilnehmen, damit ihnen mein Schweigen sicher ist?“ fragte er in dem eigentümlichen Kauderwelsch, in dem die beiden miteinander sprachen. „War es so ausgeklügelt, Gomez?“

Der Koch nickte lebhaft. „Ja!“ rief er, „ja!“

„Und ich sage nein!“ rief entschieden der Junge. „Mein gutes Gewissen sollte ich um dieser Seeräuber willen verlieren? – Oho, das geht nicht so leicht, wie ihr denkt. Zum Verbrecher lasse ich mich nicht machen.“

Er ging wieder an seine Gartenarbeit, die zwar nicht notwendig war, die er aber begonnen hatte, um sich etwas zu beschäftigen. Er grub zierliche Beete, wo sonst alles wie Kraut und Rüben durcheinander wuchs, oder er machte den Hühnern eine hölzerne Einfriedigung, damit sie nicht in den Garten kamen, und räumte die Vorratskammern auf.

Gomez, obwohl ein vortrefflicher Koch und ein guter, harmloser Mensch, war doch keineswegs reinlich oder ordnungsliebend, daher fand Robert immer Arbeit in Fülle. Außerdem schoß er gelegentlich einige Vögel, fischte und flickte auch wohl des Kochs Kleidungsstücke, so daß er immer beschäftigt war. Heimlich aber beobachtete er fortwährend das Meer und seufzte, wenn wieder der Abend kam, ohne daß sich ein Schiff der Insel genähert hätte.

Die Bukanier nahmen von ihm nicht die geringste Notiz. Vielleicht wollten sie ihm das arbeitslose, gute Leben erst ganz zur Gewohnheit werden lassen, damit er sich von selbst nachgiebig zeigen sollte, wenn sie ihm die Wahl stellen würden, entweder für immer in ihre Gemeinschaft überzutreten oder zu der harten Arbeit des Matrosen zurückzukehren. Sie ließen ihn wie ein Haustier an ihrem Tisch essen und unter ihrem Dach schlafen, ohne sich um ihn zu kümmern.

Da sah er eines Tages, daß zu ganz ungewohnter Zeit die Räuber eilig und bestürzt heimkehrten, daß sie den Koch herbeiriefen und laut miteinander sprachen. Robert fühlte, wie ihm das Herz gegen die Rippen pochte. Was war geschehen?

Er schlich sich an den Koch heran und fragte ihn; aber was dieser antwortete, das lag zu weit außerhalb des Gesichtskreises täglicher Angelegenheiten, – er verstand ihn diesmal nicht.

Da rief ihn der, der etwas deutsch sprach, zu sich. „Du“, sagte er, „es kommt morgen ein Abgesandter der kubanischen Regierung hierher, um die Inseln zu besichtigen, nach versteckten Waren zu forschen und überhaupt seine verdammte Fuchsnase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Der Teufel hole ihn! – Du aber unterstehst dich, diesem Mann oder seinen Begleitern vor Augen zu kommen, und jetzt hilfst du mit, unsere Vorräte in ein Versteck zu schaffen, wo sie vor diesem Spürhund sicher sind. Es ist alles mit schwerer Arbeit redlich verdient“, schloß er, „aber die verfluchten Regierungsbeamten, diese Blutsauger und Menschenschinder brauchen nicht zu wissen, daß wir uns in besseren Sachen als nur in Bananen und Fischen satt essen können, sonst werden gleich die Steuern erhöht, so daß ein rechtschaffener Kerl keinen Piaster mehr für sich behält. Wenn du nicht gehorchst, Junge, dann – –“

Ein bezeichnender Blick und ein Gliff an das kurze Gewehr vervollständigten seine geharnischten Worte. Robert sah, daß es bitterer Ernst war und daß er gehorchen müsse, wenn er nicht sein Leben aufs Spiel setzen wollte. Er ging also zu Gomez, um von ihm nähere Aufträge zu erhalten.

Ein Boot wurde auf den Strand gezogen und mit den Vorräten der Speisekammer beladen, dann ruderten es zwei Räuber in einen kleinen Fluß, dessen Windungen und Krümmungen unter dichtem Gebüsch den Männern nicht erlaubten, in ihrem Fahrzeug aufrecht zu stehen. Kniend oder liegend brachten sie mit äußerster Anstrengung, meistens durch Schieben und Ziehen, das Boot vorwärts, aber dafür waren auch ihre kostbaren Schätze sicher geborgen. Nur ein Eingeweihter konnte den Lauf dieses schlangenartig gewundenen Wasserlaufs verfolgen, nur wer sein Eigentum vor den Blikken anderer bewahren wollte, konnte sich entschließen, in diese Wildnis vorzudringen. Robert mußte im Laufe des Tages mehr als einmal die beschwerliche Fahrt mitmachen und sowohl Lebensmittel als auch die besseren Möbel der Wohnung, Munition und Waffen unter dem undurchdringlichen Gebüsch verbergen helfen. Alles, was nicht mit dem Fischereigewerbe im Zusammenhang stand, wurde sicher versteckt, so daß sehr bald die ganze Behausung nach äußerster Armut aussah. In der großen Vorratskammer lagen Segel, Netze und Taue, im Wohnzimmer standen nur noch ein hölzerner Tisch und ein paar rohe Bänke, während die guten Betten des anstoßenden Raumes durch Haufen von Seegras ersetzt waren.

Die Räuber fischten eifrig, so daß die Abgesandten der Regierung einige Tage später unter zahllosen Leinen mit zum Trocknen aufgehängten Fischen den Weg zu der Behausung der Räuber suchen mußten.

Robert wagte es nicht, sich blicken zu lassen. Er saß hinter einem aufgestapelten Haufen von Brennholz und verschlang das Regierungsschiff mit den Augen. Manchmal war er nahe daran, vor den Beamten hinzutreten und im Namen der Gerechtigkeit zu verlangen, daß man ihn von der Insel befreie. Es schien so einfach und lag so nahe, aber Robert zögerte, es zu tun. Wenn ihn der Spanier nicht verstand, oder wenn er von den Flibustiern bestochen worden war, gewisse Dinge weder zu hören noch zu sehen?

Nein, nein, Robert mußte sich ergeben, mußte wieder, nachdem Rafaeles Erlaubnisschein zur Fischerei von dem Beamten erneuert worden war, die weißen Segel des Regierungsschiffes sich entfalten und im Abendsonnenschein den Strand verlassen sehen. Das Herz wurde ihm so schwer, wie seit langem nicht, seine Augen füllten sich mit Tränen, kaum konnte er ein Schluchzen gewaltsam unterdrücken.

Viel lieber hätte er das harte Schiffsbrot gegessen und die schwere Arbeit des Seemanns willig ertragen, als daß er hier unter Verbrechern unnütz dahinlebte, ja er meinte sogar, daß selbst der Tod besser sei als dieser entwürdigende Zustand. Aber dennoch gab es kein Mittel zu seiner Befreiung; er sah, wie sich das Schiff entfernte, weiter und immer weiter, – alle Hoffnung war fürs erste wieder dahin.

Gomez kam und sah ihn freundlich tröstend an. Er allein verstand den Jungen, er allein empfand ein gewisses rohes Mitleid und suchte es durch reichliche Weinspenden zu zeigen. Die Bukanier ihrerseits tranken zur Feier des Tages so lange, bis sie sämtlich besinnungslos unter den Tischen lagen.

Die Ankunft des Beamten war schon seit mehreren Monaten vorausgesehen und gefürchtet worden, daher atmeten jetzt alle auf, nachdem sich das drohende Unwetter verzogen hatte, und während der folgenden Zeit herrschte unter der Bande fröhlichste Stimmung. Es vergingen acht Wochen, in denen für Robert kein Tag anders verstrich als der vorhergehende, – dann aber fiel wie ein Blitz aus heiterer Luft ein ungeahntes Ereignis in dies ruhige Leben hinein und änderte auf einen Schlag alles.

An dem Felsen, der auch der unglücklichen Galliot so verderblich geworden war, strandete ein französisches Vollschiff, das zwar bei dieser Katastrophe kein Leck erhielt, aber doch nicht ohne die Hilfe eines anderen Fahrzeuges wieder loskommen konnte. Der Kapitän ließ daher die Notflagge setzen, und unter den Flibustiern herrschte die größte Aufregung.

An Bord des Franzosen glänzte nicht allein eine sehr achtunggebietende Messingkanone, sondern die Mannschaft sah auch nicht danach aus, als ob es ganz leicht sei, mit ihr fertig zu werden. Vielleicht war der Kapitän auf alles vorbereitet, da er seine Leute bewaffnet hatte und eine starke Wache an Deck hielt.

Ein offener Angriff wurde von den Räubern überhaupt niemals unternommen, aber auch im Dunkeln ließ sich hier nur schwer etwas ausrichten. Außerdem drohte noch ein anderer Umstand den Flibustiern diesmal ihre Beute streitig zu machen.

Am unteren Ende der Insel lebte nämlich noch eine zweite Bande ehrenwerter Fischer, die auch den gestrandeten Fahrzeugen zur Hilfe zu eilen pflegte und die sogar diesmal das Notzeichen des. Franzosen noch etwas früher bemerkt hatte, als Rafaele und seine Genossen.

Es kam zu einem Wettrudern, das damit endete, daß das Boot der Gegenpartei um zwei Minuten früher unter dem Bug des Franzosen anlegte. Bachicho, so hieß der Anführer der zweiten Bande, hatte also das Spiel gewonnen und konnte, wenn sich weiter nichts erreichen ließ, doch immerhin den französischen Kapitän für die zu leistende Hilfe nach Möglichkeit schrauben. Rafaele dagegen mußte mit seinen Leuten unverrichtetersache wieder abziehen.

Das spanische Blut wallte und die Hand griff nach dem Messer. Nur einer ganz kurzen Beratung bedurfte es, um einstimmig festzustellen, daß mit dieser Niederlage die Sache selbst noch nicht zum Austrag gekommen sei. Das große Boot wurde fertig gemacht, die Segel befestigt, Haufen von Munition an Bord gebracht und im Gebüsch am Strand ein Beobachter zurückgelassen.

Als es dämmerte, meldete er, daß sich das kleine Boot mit den beiden Unterhändlern vom Schiff wieder entfernt habe, und nun bestiegen zehn Bukanier unter Anführung Rafaeles das größere Fahrzeug, um im Schutz der einsetzenden Dunkelheit zur entgegengesetzten Seite der Insel zu fahren und dort den Feinden jede Verbindung mit dem gestrandeten Schiff abzuschneiden.

Robert sah diese Vorbereitungen, aber ohne ihren Zusammenhang ganz zu begreifen; er wandte sich an den Koch, der mit gespannter Aufmerksamkeit den Verlauf der Dinge beobachtet hatte. Es war jetzt ganz dunkel, und von dem französischen Schiff herüber dröhnten Signalschüsse. Der Kapitän schien ungeduldig geworden zu sein, da jetzt, nachdem sich vorher zwei Parteien darum bemüht hatten, die erbetene Hilfe ganz ausblieb.

„Gomez“, fragte der Junge, „was bedeutet das? Wird da unten gekämpft?“

Seine Handbewegung verständigte den Koch, dessen lebhaftes Gebärdenspiel ihm sofort Auskunft gab. Gomez führte gewaltige Hiebe in die Luft, legte an, kniff ein Auge zu und rief „Puff!“ – Dann deutete er in die Gegend des gestrandeten Schiffes. „Pilot (Steuermann, Lotse)!“ raunte er, „Pilot – Havanna. Rafaele, Gomez, Pilot! Andere Bukanier no, no!“

Seine Hand durchschnitt waagrecht die leere Luft, um anzudeuten, daß keiner der übrigen Räuber imstande sei, ein Schiff nach dem Hafen von Havanna zu steuern.

Robert hatte sofort begriffen. „Gomez“, flüsterte er mit halber Stimme, und nachdem ihn ein schneller Rundblick überzeugt hatte, daß kein Lauscher in der Nähe sein, „Gomez, das Schiff braucht also, um in den Hafen zu kommen, einen Mann, der das Fahrwasser genau kennt, und kann ihn auf dem üblichen Weg nicht erreichen, weil bis hierher die Lotsenschiffe nicht kommen? Ist es so?“

„Ja!“ nickte der Koch, dem Roberts Deutsch, das ohnehin mit vielen spanischen Worten durchsetzt war, ganz verständlich klang.

„Ja!“

Robert legte beide Hände auf die Schultern des schwarzbärtigen Freundes. „Gomez“, bat er, während seine Stimme vor Erregung heiser klang, „Gomez, nimm mich mit dir!“

Der Spanier schien zu verstehen, um was ihn sein Schützling bat. „Mi figlio (mein Sohn)“, sagte er kopfschüttelnd und mit bedauerndem, zärtlichem Ton, „mi figlio, – kann nein tun, no, no! Rafaele so – – –“

Und dann ergriff er seinen Kopf und zerrte daran, als wolle er ihn herabreißen, ohne Zweifel um anzudeuten, daß ihn Rafaele zur Strafe für solchen Verrat unter allen Umständen töten werde.

Robert ließ seufzend die Arme sinken. Gomez hatte die Wahrheit gesprochen, das wußte er wohl, und doch gab es ihm einen Stich ins Herz. „Aber das Schiff sitzt ja fest“, sagte er nach einer Pause, „wie soll es ohne den Beistand eines anderen Fahrzeuges von der Klippe loskommen?“

Gomez streckte blitzschnell seine zehn Finger in die Luft und dann wieder zwei. Darauf vollführte er mit beiden Armen schaufelnde Bewegungen, als backe er ein Brot und rolle und schiebe den Teig im Trog umher.

„Du meinst, daß um zwölf Uhr nachts die Flut kommt und das Schiff flott macht?“ fragte Robert.

Der Koch nickte. „Nur Pilot! Pilot!“ wiederholte er.

Robert sah sehnsüchtig über das Wasser. „Rafaele wird selbst gehen“, antwortete er nach einer Pause.

Der Koch zuckte die Achseln. „Quien sabe (wer weiß)?“ murmelte er.

Und wirklich sollte sich die Befürchtung, die er im stillen gehegt haben mochte, erfüllen. Das kleinere, dem großen nachgefolgte Boot der Flibustier kam zurück und brachte mehrere Verwundete, vor allem auch den Anführer selbst. Während fast alle noch Zurückgebliebenen schnellstens zur Verstärkung geschickt wurden, rief Rafaele den Koch, der zugleich als Heilkünstler aushalf, zu sich. Gomez verband die Stichwunde im Arm, den Streifschuß am Hals und den Hieb, der einen Finger fast ganz von der Hand getrennt hatte, dabei aber sprach der Verwundete fortwährend, und als endlich die Unterredung zu Ende war, kehrte Gomez mit schlauem Blinzeln in die Küche zurück.

„Ich Pilot!“ raunte er. „Havanna!“

Robert erbleichte. „Du?“ stammelte er.

„Sst! Sst! – Roberto so?“

Er machte die Bewegungen des Schwimmens.

Der Junge nickte eifrigst. „Natürlich, Gomez, natürlich. Ich kann schwimmen und kann es aushalten, so lange wie nur ein Mensch, der sich damit das Leben retten will.“

„Sst! – Sst! – Aber Haifische!“ flüsterte Gomez und riß den Mund sperrangelweit auf. „Haifische so!“ – Dabei schnappte er fürchterlich und sah, den ganzen Oberkörper wiegend, mit bedauernden Blicken auf seinen jungen Freund.

Robert lächelte mit bleichen Lippen. Er fühlte, wie ihm ein Schauer über den Rücken herabrann. „Das tut nichts, Gomez“, antwortete er, „ich habe ja den Weg von der Klippe bis zum Strand schon einmal schwimmend zurückgelegt.“

Gomez pfiff leise. Seine beiden Hände stellten sich flach nebeneinander in die leere Luft, und dann trennte er sie um das Sechsfache des ursprünglichen Zwischenraums. „So!“ sagte er, „und so!“

Robert nickte. „Ich weiß, daß die Entfernung zwischen dieser Insel und dem Schiff bedeutend größer ist als die andere“, sagte er, „aber ich setze alles an alles. Entweder gerettet oder tot, – einen Mittelweg gibt es nicht.“

Das hatte nun zwar der brave Gomez keineswegs verstanden, aber er erriet den Sinn, und seine durch Blicke und Bewegungen gegebenen Ratschläge zeigten dem Jungen, wie er es anfangen müsse, bis zum äußersten Vorsprung der Insel zu schleichen und dann auf kürzestem Wege schwimmend bis zum Schiff zu kommen. Er sagte ihm, daß zwei andere Bukanier ihn begleiten würden, um das Boot zurückzurudern, und daß er, Gomez, daher erst von dem französischen Schiff aus für ihn sorgen könne. Zu guter Letzt wiederholte er noch sein bedenkliches „Haifisch! – Haifisch!“ –

Aber Robert hatte genug gehört, um einen ganz festen Entschluß zu fassen. Er tat zwar in der Küche seine gewöhnlichen Arbeiten, brachte dem fluchenden Anführer einen kühlenden Trunk und blieb absichtlich im Wohnzimmer zurück, als das Boot mit den drei Bukaniern vom Lande abstieß. Rafaele hatte also gesehen, daß er zu dieser Zeit nahe bei seinem Bett stand und konnte später, wenn die Flucht gelang, dem braven Gomez keine Vorwürfe machen.

Dann aber suchte er mit fieberhafter Hast den Weg über den weißen, sandigen Strand bis zur letzten Klippe der Insel. Keinen Blick sandte er rückwärts, keine Bedenken ließ er in sich aufkommen. Jetzt lag die Freiheit offen vor ihm, jetzt oder nie hieß die Losung.

Der Strand war vom Mondlicht hell überglänzt, und auch auf dem Meer lag es wie flüssiges Silber. Weiße Schaumperlen rollten stärker auf den Strand, die Wellen hoben sich. In einer Viertelstunde mußte die Flut alles bis an den Waldsaum unter Wasser gesetzt haben.

Robert sah das Boot. Es bewegte sich schnell vorwärts und war in der Ferne nur noch als ein dunkler Punkt erkennbar. – Er hatte für die Ausführung seines Planes keine Zeit mehr zu verlieren.

Noch ein tiefer Atemzug, dann warf er Jacke und Stiefel von sich, nahm den Brustbeutel mit seinen beiden einzigen Andenken an die Insel, die Fischgräte und die Blume von Mohrs Grab, zwischen die Zähne, – dann sprang er ins Wasser, tauchte ein paarmal unter, um sich der Erfrischung und Abkühlung so recht bewußt zu werden, und schwamm nun, so schnell er konnte, in der Richtung zum Schiff.

Aber die Entfernung war weit, und er wußte, daß es in dieser Gegend zahllose Haifische gab. Wie oft hatten die Bukanier vom Strand aus einen geschossen, um das Fleisch, wie Beefsteak gebraten, zu essen, wie oft hatte er es selbst gekostet. Jetzt konnte nur allzuleicht das Gegenteil eintreten – der Gedanke war gräßlich.

Aber noch sah er nichts Verdächtiges, nur die blauen und silbernen Wogen umgaben ihn. Es erfüllte ihn mit stolzer Freude, unter sich bergestief die unergründliche Wassermasse und um sich die unbegrenzte Freiheit zu wissen. Er fühlte sich glücklich in dem Gedanken, selbst wollen und selbst handeln zu dürfen, unbekümmert um die Meinung anderer.

Der Mond schien hell herab, nah und näher kamen die schwarzen Umrisse des Schiffes, – in einiger Entfernung fuhr langsam das Boot mit den beiden Bukaniern zur Insel zurück. Jetzt würde man in wenigen Minuten dort seinen Namen rufen, ihn suchen, Verdacht schöpfen – –

Der Gedanke trieb zur Eile. Immer schneller durchschnitten seine kräftigen Arme das Wasser, mit immer stärkerem Anprall schlugen die Wellen an seine Brust. Er hatte jetzt das Schiff bis auf zehn Meter Entfernung erreicht. Deutlich zeigten sich an Deck die Gestalten mehrerer Männern, – er sah, wie sich Gomez über die Schanzkleidung beugte.

„Schiff ahoi!“ rief er laut, in ausbrechendem Jubel.

Aber das letzte Wort blieb ihm fast in der Kehle stecken. Was regte sich dort, rechts von ihm, und plätscherte leise, was ragte rundlich und aschgrau aus den Wellen?

Ein häßlicher Kopf tauchte auf, ein bogenförmiges Maul öffnete sich, – im Mondlicht schimmerten sechs Reihen sägenartig gezackter, nach hinten gebogener Zähne – –

Noch tiefer beugte sich Gomez über die Schanzkleidung herab. –

Robert tauchte schnell wie der Blitz und kam fast unter dem Bug des französischen Schiffes wieder an die Oberfläche. In diesem Augenblick krachte ein Schuß langhallend über das Wasser; die Wogen spritzten, weißer Gischt schlug an die Bordwände, angstvolle Stimmen riefen „Schnell! Schnell!“

Robert erfaßte das Tau, das ihm zugeworfen wurde. Wie eine Katze kletterte er daran empor, rückwärts blickend, ob ihn der Hai verfolge. Das Meer war rings von Blut bedeckt, purpurn kräuselten sich die Wellen, – das todverwundete Tier, rasend vor Schmerz und Wut, erhob sich mit letzter Kraft zum Sprung – –

Scharfe Zähne packten und ritzten den nackten Fuß des Jungen. Er verdoppelte seine Anstrengungen, um der drohenden Gefahr zu entrinnen.

Da griffen kräftige Arme unter seine Schultern. Gomez hob mit raschem Schwung den Halbermatteten an Deck. „Amigo“, sagte er, schwankend zwischen Rührung und Freude, „mi Amigo – doch Haifisch! Gomez gerettet Roberto!“

Der Junge schlang beide Arme um den Hals des Kochs und küßte seine bärtigen Wangen. Was er sagte und was Gomez dagegen hervorsprudelte, das verstanden sie beide nicht, aber ihre Herzen fühlten es.

Der französische Kapitän mußte von dem Zusammenhang der Dinge bereits unterrichtet sein, denn er schenkte mitleidig dem ganz durchnäßten und nur mit Hemd und Hose bekleideten Gast einen Anzug aus seiner eigenen Garderobe, ebenso ließ er ihm Branntwein und Fleisch geben.

Gomez lachte mit Augen und Mund. Obgleich er zu den Räubern gehörte und keineswegs gewillt war, dies Leben mit einem anderen, besseren zu vertauschen, war er doch gutmütig wie ein Kind. Daß er den Hai erschossen hatte, machte ihm außerordentliches Vergnügen.

Seine und Roberts Unterhaltung wurde aber sehr bald gestört. In allen Fugen des Schiffes knarrte und ächzte es, unter dem Kiel regte es sich, und dann spürte man einen plötzlichen Ruck, der die ganze Mannschaft aufatmen ließ.

Die ›Blume von Frankreich‹ war flott, und der Lotse konnte sein Amt antreten.

Robert warf die neugeschenkte Mütze hoch in die Luft. Seine stürmische Freude entlockte allen Zuschauern ein teilnehmendes Lächeln.

Als sich das Schiff mit frischem Wind von der Insel entfernte, als Gomez, obwohl er seit längerer Zeit nur noch den Kochlöffel geschwungen hatte, jetzt auf dem Achterdeck stand und in ruhig befehlendem Ton seine Kommandos gab, da packte es den Jungen wie wild. Was gesprochen wurde, das verstand er nicht, aber dennoch war er bei der Ausführung einer der ersten. In die Masten hinauf ging es, als hätte er den ebenen Erdboden unter den Füßen, und von oben herab jubelte er ein befreites Lebewohl den verschwindenden Ufern zurück.

Wie ferne Schatten zogen die Erlebnisse der letzten vier Monate an ihm vorüber, all die Stunden voll bitterer, hoffnungsloser Verzweiflung. Er achtete nicht mehr darauf, um dieses Freiheitsgefühls, dieser Seligkeit willen versuchte er alles zu vergessen.

Die ›Blume von Frankreich‹ lag wohlbehalten im Hafen von Havanna vor Anker, und schon vor Anbruch des neuen Tages hatten Gomez und Robert das Schiff verlassen. Es bestand kein Zweifel, daß der Räuberhäuptling alles aufbieten würde, den Entflohenen wieder einzufangen und um seiner eigenen Sicherheit willen zu töten, daher mußte Robert versuchen, so rasch wie möglich an Bord eines anderen Schiffes zu kommen.

Gomez schüttelte bedenklich den Kopf. Auf einem Segelschiff so schnell angemustert zu werden, hielt schwer, und eins zu finden, das gleich abfahren wollte, natürlich noch viel schwerer. Aber von hier fort mußte sein ›figlio‹, sein ›amigo‹ und ›hermano‹ (Bruder), wie er ihn abwechselnd nannte, und daher durfte er es einmal nicht ganz so genau nehmen, mußte sich mit einem Dampfer begnügen und –

Gomez schaufelte in der Luft. „Mi figlio, es nicht anders gehen.“

Robert lachte über das komische Gesicht, in dem sich Schlauheit und Bedauern so sonderbar vereinigten. „Das schadet ja nicht“, sagte er gut gelaunt, „aber kennst du einen Dampfschiffskapitän, der mich mitnehmen würde?“

Gomez pfiff leise. Dann antwortete er in seiner Weise, daß an Heizern immer Mangel sei, und ging mit dem Jungen zu einer Art Fähr- oder Gasthaus, wo schon um diese Zeit reges Leben herrschte, das allerdings wohl nie erlosch. Hier schien er bekannt zu sein, denn manche nickten ihm zu, und endlich sprach er eifrig mit einem Mann, der in seinem Äußeren den deutschen Matrosen auf den ersten Blick verriet. Der sah zu Robert hinüber und nickte, indem er ein paar spanische Worte sprach, worauf Gomez den Jungen aufforderte, hier zu bleiben, bis er selbst wiederkommen werde. Das „no hablan!“ wurde noch flüsternd hinzugefügt, und dann verschwand er.

Robert begriff sofort, daß ihm in dem Matrosen ein Beschützer gewonnen war, um so mehr fühlte er sich verpflichtet, über die Flibustier zu schweigen, ja sogar womöglich lieber nicht von seinem Aufenthalt auf der Insel zu erzählen. Das sollte ihm sehr leicht werden, da der Seemann nur ein paar gleichgültige Fragen hinwarf, ihm das Grogglas zuschob und dann in den Halbschlummer zurückfiel, aus dem ihn Gomez geweckt hatte. Der Koch kam auch sehr bald wieder und brachte seinen Schützling auf einen Dampfer, auf dem man deutsch sprach und der innerhalb weniger Stunden in See ging.

Der Kapitän versprach für die etwa zehn- bis vierzehntägige Reise nach New York dem jungen Heizer einen Lohn von acht Dollar, und man war sehr bald handelseinig. Beim Abschied steckte der herzensgute Gomez noch in aller Geschwindigkeit seinem jungen Schützling ein paar spanische Goldmünzen in die Hand und wünschte ihm alles mögliche Gute. Sein ›addio, mi figlo!‹ war mit ziemlich unsicherer Stimme gesprochen, und auch Robert drückte wiederholt die Hand des Mannes, der ihn in schwerer Krankheit gepflegt, und dessen fester Arm ihm das Leben gerettet hatte.

„Addio, Addio! – –“

Robert sah ihm nach, solange er seine Gestalt auf der Hafenmauer erkennen konnte. Wenn er auch ein Räuber und Ausgestoßener war, so hatte doch der Spanier ein warmes Herz, und das sicherte ihm die dankbare Zuneigung des Jungen. – – –

Nach kaum zwei Stunden verließ der Dampfer den Hafen, und Robert stand mit der Schaufel in der Hand vor dem Kessel, um jetzt ein sehr hartes Brot zu essen, das ihm im Anfang nach dem Schlaraffenleben auf der paradiesischen Insel zwar nicht so recht schmecken wollte, das er aber doch trotz blutender, mit Schwielen bedeckter Hände und schlafloser Nächte der Gemeinschaft der Bukanier um jeden Preis vorzog.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert der Schiffsjunge