3. Der Schiffbruch

3. Der Schiffbruch.

Der Hafen war verlassen, die Küste in der Ferne zurückgeblieben, und die „Antje Marie“ segelte wieder auf hoher See. An Bord aber regte sich geheimnisvolles Leben.


Robert sollte erfahren, was Peter Volland meinte, als er von den doppelten Böden und verschiebbaren Planken des Schiffes sprach.

Man hatte feine Weine geladen und verschiedene andere Waren. Das alles befand sich teils in der Kajüte, teils war es im Logis aufgestapelt, während noch unzählige teure Waren aus den Schränken und Kisten der Kajüte hervorkamen, um dann in anderen Räumen verstaut zu werden. Das ganze Schiff glich einer großen Jahrmarktsbude, in der alles Mögliche ausgebreitet daliegt, um die Schaulust der Käufer zu reizen.

Hier prachtvoller flandrischer Samt, dort Brüsseler Teppiche, Mechelner Spitzen und die Seidenwaren Frankreichs. Feiner Battist, Stickereien und Schleier wechselten mit teuersten Sorten echten Champagners und Burgunders, mit Blumenzwiebeln von Harlem und den Ölgemälden alter berühmter Meister.

Und nun ging man an das „Stauen“ all dieser Dinge. „Hast du es noch nicht gewußt?“ fragte der alte Mohr. „Wir treiben als Hauptverdienst den Schmuggelhandel, aber laß du dich dazu nicht brauchen. Wenn sie dich abfassen, so wirst du bestraft, und es kommt in deine Schiffspapiere. Ist auch außerdem kein ehrliches Geschäft.“

„Was sollte ich denn dabei tun?“ fragte der Junge erstaunt.

„Hm, die zollpflichtige Ware an Land bringen, entweder eine Bootsladung bei Nacht und Nebel den Mittelsmännern zuführen, oder einzelne Dinge an deinem Körper in die Stadt schaffen. Dafür gibt es freie Tage und ein paar Taler Heuer mehr, aber es ist doch nichts Gutes, und du solltest dich lieber heraushalten.“

„Onkel Mohr“, fragte nach einer Pause der Junge, „tust du es auch nicht?“

Der Alte strich mit der Hand durch das weiße Haar. „Ich, Kind? – Ja, ich tue es, obwohl ich das Land nicht betrete, aber mit mir ist es etwas anderes, als mit dir. Ich will schon dafür sorgen, daß du frei ausgehst. Im Augenblick mußt du freilich mithelfen, das läßt sich nicht ändern.“

Kapitän van Swieten erschien an Deck. Der alte Holländer in seiner altfränkischen, nicht gerade seemännischen Tracht ließ sich selten ohne sein Glas Grog sehen, gewöhnlich glänzte sein breites Gesicht vor trunkener Röte. Er ließ durch den Untersteuermann jedem Matrosen eine Flasche Wein geben, auch Robert erhielt eine, obwohl er nicht so recht wußte, was er damit anfangen sollte.

„So, Kinder“, schmunzelte der Kapitän, „nun macht euch dran. Zuerst die Flaschen verstauen. Das andere findet schon leichter seinen Platz. Also weg mit den Kohlen, damit wir fertig sind, ehe Kuba in Sicht ist.“

Ein beifälliges Murmeln der Matrosen antwortete dem „Alten“. Die Champagnerpfropfen knallten in die sengende Mittagshitze hinein, und die geleerten Flaschen flogen den tanzenden Korken nach ins Meer, nur der Obersteuermann sah äußerst verdrießlich in das weinrote, behäbige Gesicht des Kapitäns. „Hättest auch nicht jedem Kerl eine ganze Flasche schenken sollen“, brummte er. „Ein Glas voll wäre genug gewesen.“

Van Swieten blinzelte vertraulich. „Die Steinkohlen fallen dann aber so verteufelt leicht – oder schwer, wenn du willst – einmal aus Versehen an die unrechte Stelle, und meistens gerade dahin, wo Champagner liegt“, schmunzelte er. „Kennst das nicht, Renefier, und übrigens bin ich Kapitän, wie du weißt, und kann auf meinem Schiff das tun, was mir richtig scheint. Die Pfennigfuchserei schätze ich nicht, daher habe ich überall, wohin ich komme, gute Freunde, das solltest du dir merken.“

Der Obersteuermann nickte grimmig. „Bis nach Havanna, van Swieten, dann trennen wir uns“, sagte er. „Ich bin kein dummer Junge, der sich mit einer Schattenherrschaft begnügt.“

Van Swieten zuckte die Achseln. „Das ist deine Sache, Renefier. Jetzt brauche ich aber alle Hände, um die Steinkohlen fortzuschaffen.“

Die Matrosen schaufelten abwechselnd, bis eine Luke zum Vorschein kam, unter der ein hübsches, tiefes Versteck lag. Mit lustigem Gesang packten dann die Leute, von Hand zu Hand arbeitend, sorgfältig die Champagnerflaschen auf das Heu in den Verschlag, und als alles gefüllt war, wurden in die entstandenen Lücken die Blumenzwiebeln gestreut, so daß jeder Fußbreit Raum bedeckt war. Als zuletzt der Kohlenvorrat wieder über der Luke lag, besichtigte van Swieten das Ganze und schmunzelte sehr vergnügt. „Nun laßt die Spürnasen kommen“, sagte er, „mir soll's recht sein. Sind schon seit sechzehn Jahren daran vorübergelaufen, also werden sie es wohl auch diesmal tun.“

Dann kamen die Spitzen und Teppiche an die Reihe. Hier ließ sich ein Brett verschieben und dort eins, hier war ein verborgenes Schränkchen und da sogar mehrere. Tausende von Talern hätten nicht ausgereicht, um den Wert all dieser versteckten Gegenstände bar zu bezahlen. – Robert staunte, als er sah, wie planmäßig die Sache betrieben wurde. Jetzt erst begriff er, weshalb damals Peter Volland, der Wirt der Hamburger Matrosenschenke, so besorgt war, den betrunkenen Koch der Verhaftung zu entziehen. Van Swieten konnte ja für sein Schiff nur eingeweihte Leute brauchen und wäre in der größten Verlegenheit gewesen, wenn er ohne den Spanier hätte absegeln müssen. Und das wußte auch Georg, der falsche Freund, als er ihn dem Heuerbaas in die Hände spielte, alles war verabredete Sache, und er, Robert, der Betrogene.

Doch tat es ihm nicht leid. In Havanna fand sich bestimmt ein anderes Schiff, auf das er übergehen konnte, um in strengere, aber ehrlichere Verhältnisse zu kommen – wenn nur der alte Mohr nicht gewesen wäre! Ihn wollte er so ungern verlassen.

Er suchte den alten Matrosen und fand ihn mitten in bunten Seidenstoffen auf den Knien, wie er ein Stück nach dem andern in den Verschlag packte, der an der Hinterwand der Kajüte angebracht war. Das meiste war schon verstaut.

Robert trat zu dem Alten. „Onkel“, fragte er leise, „wie lange haben wir noch bis nach Kuba?“

„So acht Tage!“ sagte der Matrose. „Warum fragst du mich?“

Robert errötete. „O – ich meine nur so“, antwortete er verlegen.

Der Alte sah ihn an. „Dir gefällt das nicht“, sagte er nach einer Pause, „und du hast recht, mein Junge. Willst du in Havanna von Bord gehen?“

„Mit dir, Onkel!“ rief der Junge. „Gehst du nicht, so bleibe ich auch. Du bist von allen der einzige, den ich gern habe.“

Mohr erhob sich, nachdem er die letzte Planke wieder eingefügt hatte, von seinen Knien. „Ich habe dich auch lieb“, antwortete er, „und darum sollst du fort, mein Junge. Brauchst ja von dem, was du hier gesehen hast, keinem Menschen zu erzählen, weil der Verräter immer eine jämmerliche Rolle spielt. Aber um keinen Preis darfst du hier einrosten, vielleicht sogar selbst ein Schmuggelhändler werden und später noch Schlimmeres – nein, nein, die Mannschaft der ›Antje Marie‹ ist für dich kein gutes Beispiel, du mußt hier fort, und ich helfe dir dabei.“

„Wird auf jeder Reise geschmuggelt?“ fragte nach einer Pause der Junge.

„Immer. Das Geschäft ist jetzt aber sehr schlecht geworden. In früheren Jahren, als wir den aufständischen Chinesen Waffen und Munition lieferten, war es bedeutend besser. Damals verdienten wir Geld wie Heu – der Kapitän wenigstens. Ich selbst habe nie mehr genommen, als ein Matrose für seine Arbeit überall bekommt.“

„Gar nichts von den Sonderzulagen für das Schmuggeln?“

„Gar nichts, aber trotzdem besitze ich ein hübsches Sümmchen, und das soll dir gehören, mein Junge. Laß dich nach Hamburg hin anmustern, reise nach Hause und bitte deinen Vater um Verzeihung, das ist es, was ich wünsche, was du mir versprechen mußt. Wenn du einwilligst, wenn du versprichst, vor deinem Vater Abbitte zu tun, dann – hat sich ein Stückchen Bestimmung erfüllt, dann würde ich glauben, auch für mich eine sehr gute Botschaft gehört zu haben. Die letzte auf Erden; willst du sie mir bringen, willst du nach Hause reisen und dich mit deinem Vater versöhnen, ehe du wieder zur See gehst?“

Robert fühlte, wie ihm das Herz schlug. Recht hatte der Alte, aber – wenn ihn sein Vater nicht wieder fortließ? Wenn er noch einmal gezwungen wurde, auf dem Tisch zu sitzen und zu nähen?

Der Matrose las den Gedanken von seiner Stirn. „Kannst ja schon in Liverpool oder Le Havre schreiben“, sagte er. „Aber denke nicht, daß der Vater hart sein würde, unmöglich könnte er es, wenn du freiwillig zurückkehrst.“

In Roberts Augen standen Tränen. „Ich möchte tun, was du sagst, Onkel Mohr“, flüsterte er. „Ich möchte, daß die Eltern ganz mit mir einverstanden wären, aber – weglaufen müßte ich zum zweitenmal, wenn sie hart blieben.“

Der Alte lächelte. „Komm mit“, winkte er. „Ich will dir zeigen, daß meine Worte mehr als ein leerer Schall sind. Du sollst dein Erbteil sehen.“

Er ließ den Jungen in die Schiffskiste blicken, in der sich eine ziemlich große Anzahl holländischer und spanischer Münzen befand. „Das alles ist für dich“, sagte er leise, „aber du mußt tun, worum ich dich gebeten habe, nicht wahr, Junge? Es kommt der Tag, wo du mir für unser heutiges Gespräch dankbar sein wirst, darauf verlasse dich.“

Robert gab gerührt und mit dem festen Vorsatz, es zu halten, das verlangte Versprechen. Dann reichte ihm der Alte die Flasche Champagner, die er selbst bei der Verteilung heute bekommen hatte. „Trink es in den nächsten Tagen,“ sagte er freundlich.

„Und du, Onkel Mohr“, fragte der Junge, dem der unbekannte, schäumende Wein ganz besonders gut gefallen hatte, „warum willst du nicht?“

Der seltsame Mann schüttelte den Kopf. „Ich trinke keinen Alkohol“, antwortete er. „Laß dir's gut schmecken.“

Und dann ging er fort, wie es seine Gewohnheit war, wenn ihm ein Gespräch peinlich zu werden schien. Robert hatte längst erkannt, daß irgendein großes Unglück auf dem Alten lasten müsse, aber er wagte nicht, noch einmal danach zu fragen. Mohr würde ja bestimmt Wort halten und ihm alles freiwillig erzählen.

Die Waren hatten jetzt fast alle ihren Platz gefunden, und während der folgenden Tage mußte das ganze Schiff von oben bis unten gescheuert werden. Der Obersteuermann wetterte und fluchte an Deck herum, als wolle er alles nachholen, was ihm während der ganzen Reise an unumschränkter Herrschergewalt verloren gegangen war. Die Matrosen murrten so laut, daß es sogar der Kapitän bemerkte, und ein fast vollständiger Bruch zwischen den beiden war die Folge davon.

Van Swieten hatte, wie das sehr häufig geschah, zuviel getrunken. Er war daher in streitlustiger Laune und wollte vor allen Dingen sein Ansehen als Kapitän des Schiffes gewahrt wissen. Ihm gehörte die „Antje Marie“, er war Herr an Bord, und niemand durfte ihm widersprechen. „Geh in deine Kajüte, Renefier“, rief er mit lauter Stimme dem Obersteuermann zu. „Geh und schlafe oder tue, was dir Spaß macht. Deines Postens bist du enthoben, – du paßt nicht auf mein Schiff und noch weniger zu meinen Leuten.“

Der Steuermann wurde blaß wie eine Wand, aber er beherrschte sich doch und verließ schweigend das Deck, nur als der Kapitän im Vorraum der Kajüte nahe an ihm vorüberging, fragte er leise: „Van Swieten, hast du dir deine Worte gut überlegt? Hast du an meiner Stelle einen Mann zur Verfügung, der den Standort aufnehmen kann, und der es versteht, eine Höhenberechnung aufzustellen? – Besinne dich, ehe es zu spät ist.“

Der Kapitän schlug mit der Hand in die Luft. „Unsinn“, rief er, „das kann ich alles selbst, und der Untersteuermann kann es auch. Ich habe ihm schon deinen Posten übertragen, und du sollst dich nirgendwo mehr hineinmischen, hörst du. Ich brauche willige Kerle, die vor dem Teufel nicht bange sind und die den Taler gern verdienen, ohne lange zu fragen, womit, aber keine Scheuerweiber, die an nichts anderes als an Sand und Seife denken.“

Der Obersteuermann zog sich sehr verletzt zurück, und der Kapitän ging in seine Kajüte, um den letzten Rest nüchternen Bewußtseins mit Grog hinunterzuspülen. Der zweite Steuermann, ein wenig tatkräftiger Mensch, konnte sich kaum durchsetzen, so daß an Bord vollständige Unordnung entstand. Nur die notwendigsten Arbeiten wurden vorgenommen, sonst aber lagen die Leute in ihren Kojen und spannen wechselweise ein „Garn“, wie der Seemann das Erzählen einer Geschichte nennt. Das Wetter blieb günstig, der Wind schwach und die Sterne sichtbar, es ereignete sich also nichts Besonderes.

Nur Mohr schüttelte den Kopf. „Noch einen Tag und eine Nacht“, murmelte er, „dann müssen wir den Hafen erreicht haben! – Seltsam, seltsam!“

„Mohr“, sagte ein anderer, „gib auch einmal etwas zum besten! Du hast von deiner Vergangenheit noch nie gesprochen, also tue es jetzt.“

Der Alte sah über das Wasser, und sein tiefliegendes Auge glühte fast unheimlich. „Ich hätte heute abend ein Garn gesponnen, auch ohne eure Aufforderung, Kameraden“, antwortete er. „Aber ob ihr meine Geschichte unterhaltend finden werdet, weiß ich nicht.“

Die andern rückten näher, und die kurzen Pfeifen wurden angesteckt. Mohr zog den Jungen näher zu sich heran. „Morgen früh werden wir die blauen Berge von Kuba aus der Ferne wie Schatten auftauchen sehen“, sagte er, „morgen scheint für mich zum letzten Mal die Sonne, – darum hört alle, was ich euch zu erzählen habe und haltet euch daran.“

Niemand widersprach ihm. Sie kannten ja alle den Geisterseher, der oft in dunklen Nächten so unheimliche, angstvolle Worte murmelte, der sich im Schlaf von einer Seite zur andern warf und träumend schluchzen konnte wie ein geängstigtes Kind.

„Der Klabautermann sitzt auf seiner Brust und drückt ihn“, hatten dann wohl einige heimlich erschauernd gesagt, während andere den Kopf schüttelten. „Die Nachtmahr ist es, das bleiche Gespenst, sie will mit ihm würfeln um sein Herzblut, und er kann sich ihrer nicht erwehren – –“

Sie kannten ihn darum widersprach keiner.

Mohr senkte den Kopf in die hohle Hand. „Ich war mit zwanzig Jahren ein lustiger, übermütiger Junge“, begann er seine Geschichte, „der sich weder vor Gott noch vor dem Teufel fürchtete und dahinlebte, als dauerten Jugend und Gesundheit ewig, nur um alle Freuden des Daseins in vollen Zügen zu genießen.

Das Seemannsleben gefiel mir nicht mehr, weil die Zeit der Arbeit und der Entbehrungen so lang war, die Freudentage im Hafen aber sehr kurz, und besonders, weil ich an Bord gehorchen mußte wie ein Schuljunge. Das konnte gerade ich am allerwenigsten, das erregte immer meinen Jähzorn und stürzte mich in viele Verlegenheiten. Einmal habe ich dem Kapitän, der mir ein verweisendes Wort sagte, eine Ohrfeige gegeben und dafür als Meuterer die ganze Reise in Eisen gelegen, aber alles das konnte mich nicht zur Besinnung bringen. Ich ging also von Bord und legte mich einstweilen in meines Vaters Haus vor Anker. Der Alte war Wirt, lebte mit einer bejahrten, mürrischen Schwester ganz allein und sah mich höchst ungern kommen. Einen erwachsenen Sohn zu füttern, der noch obendrein jeden Augenblick mit den Gästen Streit anfing und es meistens vorzog, die besseren Weine und Kognaks selbst auszutrinken, anstatt die Gäste freundlich zu bedienen, das liebte er wenig.

Hätte ich Flaschen spülen, Kegel aufsetzen und Bier abzapfen wollen, hätte ich bei der alten Tante den Küchenjungen gespielt und ihr Schoßhündchen gestreichelt, dann wäre alles gut abgelaufen, so aber wurde das Verhältnis zwischen mir und meinem Vater immer schlechter, bis ich zuletzt den ganzen Tag auf der Bank lag und rauchte oder trank, mit mir selbst und der Welt vollständig zerfallen.

Sollte ich nachgeben? Wieder ein Schiff suchen, mich von meinen Kameraden auslachen lassen und der Tante, die den Alten aufhetzte, das Feld räumen? Es ärgerte mich, nur daran zu denken, aber der gegenwärtige Zustand konnte nicht länger dauern. Es mußte bald anders werden, das sah ich wohl, da mir auch der Vater niemals Geld geben wollte. ›Es ist genug, daß ich einen Taugenichts ernähre‹, sagte er mir einmal. ›Du solltest dich schämen, von deinem alten Vater noch Geld zu verlangen. Ich gebe dir nichts, und wenn du keinen Anzug mehr anzuziehen hast und keine Schuhe an den Füßen.‹

Damals zerschlug ich in meiner wilden Wut alles, was mir im Weg stand, die Flaschen und Gläser, die Fensterscheiben und die Rohrstühle, ich tobte wie ein wildes Tier im Käfig und ging erst fort, als kein heiles Stück mehr zu finden war.

Drei Tage lang trieb ich mich umher, aß rohe Feldfrüchte, hungerte und schlief hinter den Zäunen, dann kehrte ich zurück, um nicht ins Gefängnis zu kommen, aber es war ein elendes Leben, das ich führte, mir selbst zur Last. Der Alte sagte nichts; er fürchtete wohl einen ähnlichen Auftritt und ließ mich daher tun und treiben, was ich wollte. Die Tante machte es ebenso, sie ging im weiten Bogen um mich herum und nahm ihr Hündchen auf den Arm, sobald ich im Zimmer erschien. Das ärgerte mich aber viel mehr, als wenn mir die beiden das Leben täglich zur Hölle gemacht hätten; ich wurde so grimmig, so verbissen, – oh, ich kann euch nicht sagen, wie.

›Du hängst dich auf‹, dachte ich bei mir, ›dann hat alles ein Ende. Gerade vor der Kammertür der Tante, damit sie sich erschreckt.‹

Den Nagel schlug ich auch richtig in die Mauer hinein, aber weiter kam es nicht. Man hält doch am Leben fest, und wenn es noch so elend ist.

Um diese Zeit, gerade an meinem Geburtstag, kam einmal ein Mann in die Schenke, der mit allerlei Kleinigkeiten, unter anderem auch mit Lotterielosen handelte. Ich lag wie gewöhnlich auf der Bank hinterm Ofen, heute noch schlechter gelaunt als sonst. Es war ja mein Geburtstag, aber kein Mensch kümmerte sich darum, niemand hatte mir ein freundliches Wort, einen Glückwunsch gesagt, obwohl es der Alte ganz genau wußte. Das ärgerte mich rasend. Ich dachte wieder an den Nagel über der Kammertür.

Da trat der Mann zu mir und hielt zwischen den Fingern ein schmutziges, zerknittertes Blatt. ›Kauft der Herr kein Los?‹ fragte er schmeichelnd. ›Gerade das letzte, also das Glückslos, weil man immer das beste bis zuletzt aufhebt – Nummer 26!‹

Es durchfuhr mich sonderbar. Heute an meinem Geburtstage wurde mir das Los angeboten, dessen Nummer die Zahl meiner Jahre angab. Wie merkwürdig!

Ich stand auf und zeigte das Papier dem Alten. ›Vielleicht ist es ein Wink des Schicksals‹, flüsterte ich. ›Vielleicht bringt es mir Glück.‹

Er zuckte die Achseln und wusch seine Gläser, ohne zu antworten. Das brachte mich schon auf, weil es die anderen Gäste sahen.

Der Losverkäufer schlich mir nach. ›Sie sollten es nehmen‹, drängte er. ›Die Ziehung ist schon in vierzehn Tagen, und die Nummer bringt Glück. Hab' schon einmal auf Sechsundzwanzig das große Los gehabt. Wäre doch herrlich, so viel Geld, nicht wahr?‹

Mir stieg das Blut heiß zu Kopf. ›Vater‹, sagte ich mit lauter Stimme, ›seid so gut und leiht mir die paar Taler, ich will es kaufen.‹

Der Alte zögerte. Er murmelte etwas, das ich nicht verstand, aber er griff endlich doch in die Kassenschublade und zählte das verlangte Geld auf den Tisch, alles ohne ein Wort zu sagen. Er hatte Angst vor mir, das war ganz sicher.

Er und ich, wir sprachen von der Sache nicht weiter, und das Los blieb in meiner Tasche. Die vierzehn Tage vergingen wie alle anderen, ich las und trank, rauchte oder schlief und war immer schlecht gelaunt. An den Gewinn dachte ich schon längst nicht mehr.

Da erschien eines Abends der Händler wieder, als gerade das Gastzimmer Kopf an Kopf besetzt war. Er winkte mir schweigend, ihm zu folgen. ›Gewonnen‹, flüsterte er, als wir draußen vor der Tür standen, ›gewonnen! Ich habe das Geld mitgebracht. Wieviel lassen Sie mich verdienen, wenn ich es gleich auszahle?‹

Hinter uns erschien in diesem Augenblick wie ein schwarzer Schatten der Alte. ›Was gibt's?‹ fragte er, ›hat das Los gewonnen?‹

Der Mann hob warnend den Finger. ›Pst!‹ flüsterte er, ›nicht so laut, die anderen merken es. Das schöne Geld könnte gestohlen werden. Es ist eine große Summe, und ich bin ein geschlagener Mann, wenn mich Diebe überfallen. Nachher wollen wir alles besprechen, wenn die Gäste fort sind.‹

Er ging voran in das Zimmer, und ich folgte ihm, halb berauscht vor Freude. Also endlich sollte meine Erlösungsstunde schlagen, endlich sollte ich wieder Geld besitzen, viel Geld, wie der Mann gesagt hatte! – Ach, dieses Gefühl, diese rasende Freude. Ich trank und trank, bis meine Augen die Dinge ringsumher nicht mehr mit Sicherheit unterscheiden konnten.

Ich wollte das langweilige Dorf verlassen, mit dem schnell erworbenen Reichtum in eine größere Stadt ziehen und dort durch Leihgeschäfte mühelos immer mehr Geld verdienen, ich schmiedete Pläne über Pläne, und in allen spielte mein Vermögen die Hauptrolle.

Karten und Würfel gingen von Hand zu Hand, ich trank und verlor viel Geld, aber ich lachte darüber. Was machte das aus, da ich ja reich war!

Aber wieviel mochte es nur sein? – Heute blieben auch die Gäste länger als sonst. Ungeduld brannte in allen meinen Adern. Mitternacht war vorüber, als endlich die letzten halbbetrunkenen Bauern abzogen. Jetzt waren außer mir selbst nur noch mein Vater und der Händler im Schenkzimmer. Die Tante saß nickend in der Küche.

›Wieviel ist es?‹ fragte flüsternd der Alte, und: ›wieviel ist es?‹ wiederholte ich zitternd vor Begier.

Der Mann sah von einem zum andern. ›Zwanzigtausend harte Taler‹, raunte er. ›Habe es ja gesagt, die Sechsundzwanzig ist eine Glücksnummer. Was soll ich haben, wenn ich das Geld gleich auszahle anstatt in sechs Wochen?‹

Mir flirrte und flunkerte es vor den Augen. ›Tausend Taler!‹ rief ich sofort. ›Das ist fürstlich bezahlt, also zahl das Geld aus!‹

Da legte sich eine Hand auf meine Schulter. ›Langsam, langsam‹, rief der Alte, ›was geht es dich an, wieviel ich dem Händler geben will?‹

›Du?‹

Ich starrte ihn an, unfähig, mehr als das eine Wort herauszubringen.

›Natürlich‹, bestand er, ›das Geld gehört mir, ich habe das Los bezahlt und kann zehn Zeugen bringen, daß ich die Wahrheit sage.‹

Heißer rann es durch meine Adern. ›Mir hast du das Geld geliehen‹, schrie ich, ›und du kannst es zurückerhalten, sobald mir das Geld ausbezahlt ist. Gib her, Mann, hier hast du das Los und tausend Taler sind für dich!‹

Der Mann griff nach dem Papier. Ein solches Trinkgeld bot ihm bestimmt niemand, am wenigsten aber der habsüchtige Alte. Er stand deshalb ganz auf meiner Seite und begann hastig die Kassenscheine auf den Tisch zu zählen. Dann machte er sich davon, so rasch ihn die Füße trugen.

Der Vater legte seine Hand auf das Geld. ›Mir gehört es‹, raunte er, ›und ich werde es behalten. Ergib dich im Guten, oder –‹

Ich sah ihm aus nächster Nähe ins Auge. ›Oder?‹ zischte ich.

›Du wanderst morgen ins Gefängnis. Ich habe das Los bezahlt, ich bin hier im Dorf als anständiger Mann bekannt, ich betreibe ein ehrliches Handwerk, du aber bist ein Tagedieb und Herumtreiber, der jetzt auch noch seinen alten Vater bestehlen will!‹

Die Habgier mußte ihn völlig verblenden, mir so drohend gegenüberzutreten. Ein Schein nach dem andern verschwand in seinen Taschen.

Und da, Kameraden, da war's um mich geschehen. Er hatte das Wort ›stehlen‹ ausgesprochen, hatte meine Ehre tief verletzt.

Ich ergriff einen schweren Hammer, der zufällig auf dem Tisch lag – –“

Der alte Matrose hielt einen Augenblick inne. Kalter Schweiß perlte von seiner Stirn, die Stimme klang kaum verständlich –

Unter den Leuten herrschte Totenstille – –

„Vor meinen Augen war alles rot, wie zuckende Blitze“, fuhr er nach einer Pause fort. „Ich weiß nur noch, daß mir die völlige Besinnung erst später zurückkehrte. Und da war ich nüchtern auf einen Schlag.

Vor mir am Boden lag mit gespaltenem Schädel mein Vater, und seine gebrochenen Augen schienen starr zu dem Mörder aufzusehen. Langsam rann das Blut über die Kassenscheine, die er im Fallen mit sich vom Tisch gerissen hatte.

Alles war totenstill um mich herum, nur ein eintöniges leises Geräusch hörte ich, ganz leise wie das Ticken einer Uhr. Es war Blut, das langsam über die Stufen der Kellertreppe hinabtropfte und in mir ein eisiges Grauen wachrief. Das Licht brannte allmählich herab, knisterte und zuckte noch ein paarmal hoch auf, dann erlosch es ganz.

Ich rührte kein Glied. Wie gelähmt, wie erstarrt saß ich da. ›Mörder!‹ schien es in mir zu flüstern, und ›Mörder‹ ringsum in der stillen Luft, bis mich fast wahnwitzige Angst ergriff. Ich mußte fort von hier, bevor es Tag wurde, ich konnte um keinen Preis noch einmal in dieses gebrochene Auge sehen.

Stunde um Stunde verrann. Der Tag rückte näher, die Hähne im Dorfe begannen zu krähen, Hunde bellten und hier und da knarrten Wagenräder.

Ich machte keine Bewegung, atmete kaum – da drang durch die Fensterläden ein erster schwacher Schimmer – er streifte die dunkle stille Gestalt am Boden. –

Schaudernd raffte ich mich auf und schlich zur Tür, immer verfolgt von dem Blick der toten Augen. Wohin ich mich wandte, da begegnete mir der schreckliche Anblick. Ich öffnete die Tür und trat hinaus ins Freie, in den Frieden des Sommermorgens – –

Oh, Kameraden, möchte keiner unter euch einmal das empfinden müssen, was ich damals empfand. Ich fühlte den Fluch des Mordes auf mir und stürzte davon, wie einst die ersten Menschen aus dem Paradies.“

„Onkel Mohr“, flüsterte Robert, sich an dem Alten festhaltend, „du Armer!“

Und auch die andern waren ernst und still. Selbst diese rohe Schar, zusammengewürfelt aus aller Herren Länder, verwahrlost in der steten Ausübung eines widerrechtlichen Berufes, war tief ergriffen von dem furchtbaren Schicksal des Gefährten, dessen silberweißes Haar sich heute noch beugte unter der Last einer Erinnerung, die ihn sein ganzes Leben verfolgt hatte.

Nur Gallego schlich ungesehen im Dunkeln des Logis zu Roberts Koje und stahl die Champagnerflasche, mit der er sich in die Kombüse begab und in gierigen Zügen den perlenden Schaumwein hinunterstürzte.

Niemand beachtete ihn. Alle standen ganz unter dem Eindruck der Worte des Alten, dessen Wesen ihnen jetzt erst anfing verständlich zu werden. Darum das Flüstern im Schlafe, darum das leise flehende: „Sieh mich nicht an, bitte, sieh mich nicht an!“ – wie es die Matrosen so oft von ihm gehört hatten.

„Sprich weiter“, bat eine Stimme. „Dein Garn ist noch nicht zu Ende.“

Der Alte hatte das heiße Gesicht des Jungen gestreichelt; jetzt erhob er den Kopf und warf das Haar zurück. „Nein“, sagte er, „ihr habt recht. Ich will euch alles erzählen. Hört zu!

Ich besah beim ersten Tageslicht mein Gesicht in einem Bach, der am Wege vorüberfloß – es war mir, als stände darauf die Tat verzeichnet, und dann, als ich das Haar etwas geordnet hatte, wanderte ich nach Bremen, das ungefähr drei Meilen weit von meiner Heimat entfernt liegt und wo mich jeder Heuerbaas kannte. Ein Schiff zu bekommen war nicht schwer, und schon nach vier oder fünf Tagen war ich auf einem amerikanischen Dreimaster in völliger Sicherheit.

Wir hatten Passagiere an Bord, Frauen und Kinder; es gab viel Unterhaltung, manches Neue, manches Ungewohnte, kurz, ich erholte mich in verhältnismäßig kurzer Zeit von dem Schrecken und fing an, mich für weit mehr unglücklich als schuldig zu halten. Noch war die Reue nicht echt – es mußte schlimmer kommen, ehe ich aus meinem Trotz und Eigenwillen aufgerüttelt wurde.“

Unter den Zuhörern entstand ein unwillkürliches Murmeln. „Schlimmer?“ fragten einige leise Stimmen.

„Schlimmer!“ bestätigte der Alte. „Um meinetwillen sind Hunderte dem Tode zum Opfer gefallen, haben Mütter ihre kleinen Kinder sterben sehen und sind Tausende glühender Tränen geweint worden. Wißt ihr nicht, daß das Schiff, an dessen Bord sich ein Mörder, ein unentdeckter Mörder befindet – dem Untergang geweiht ist? Wißt ihr nicht, daß es dem fliegenden Holländer entgegentreibt und von seinem weißen Kiel in den Grund gebohrt wird?“

Der alte Matrose hatte sich erhoben, die Augen glühten wie in halbem Wahnsinn, die Hände streckten sich aus, als wollten sie einen unsichtbaren Feind abwehren. Seine Brust keuchte schwer, sein Gesicht war totenblaß.

Die andern suchten ihn zu beruhigen. „Das ist ein Aberglaube, Mohr“, sagten sie. „Du bist so lange an Bord der ›Antje Marie‹, und sie ist nie dem fliegenden Holländer begegnet.“

Der Alte lächelte. „Die ›Antje Marie‹?“ wiederholte er sinnend. „Das ist etwas anderes, Kameraden. Wir stehlen dem Staat den Zoll, wir fahren auf der breiten Straße, die dem Abgrund zuführt, da braucht es keine besondere Schuldverschreibung an den Teufel, sie ist ja schon vorhanden, und doch – was kommen wird, das wissen wir ja heute nicht. Ich will euch aber erzählen, was mit der ›Seemöwe‹ geschah, auf der ich angemustert hatte. Laßt mich also ausreden.“

Die Matrosen waren jedoch zu erregt, um schweigen zu können. „Hast du ihn gesehen, den fliegenden Holländer?“ fragten sie.

Mohr nickte. „Ich habe ihm ins Auge gesehen – er erhob gegen mich die Hand – er winkte mir!“

„Ach, Unsinn, Geisterseher, du hast geträumt.“

„Laß doch den Alten sein Garn spinnen. Erzähle, wie ging es der ›Seemöwe‹?“

Mohr bekämpfte das Grauen, das er noch jetzt in der Erinnerung empfand. „Wir waren am Kap der Guten Hoffnung“, begann er, „und das Wetter hielt sich merkwürdig gut. Trotzdem ließ der Kapitän alle Vorsichtsmaßnahmen treffen, und schon beim ersten Windhauch mußten wir bis auf die Sturmsegel jeden Fetzen Leinwand hereinholen. Man kann ja, wie ihr wißt, in diesen Breiten dem Frieden niemals trauen.

Es war abends um elf Uhr, als ich abgelöst wurde und mit den Matrosen zur Koje gehen konnte, aber bei der schwülen Luft blieben wir alle lieber noch ein bißchen bei offenen Türen sitzen. Es hatten sich auch, obgleich das streng verboten war, mehrere Zwischendeckspassagiere zu uns gesellt, und wir würfelten auf unseren Schiffskisten. ›Hier herum soll ja der fliegende Holländer sein Wesen treiben‹, meinte einer der Auswanderer, ›ich hätte eigentlich Lust, dem alten Burschen zu begegnen. Wer ein gutes Gewissen besitzt, der braucht die Geister nicht zu fürchten.‹ – Solche und andere Reden flogen hinüber und herüber. Meine Kameraden nahmen es dem Auswanderer krumm, daß er die bösen Gewalten des Meeres herausforderte, aber ich lachte dazwischen. ›Laßt doch das Geisterschiff kommen. Wer das Herz auf dem rechten Fleck hat, der trinkt mit dem alten Van der Decken Brüderschaft. Auf du und du, alter Kamerad‹, rief ich übermütig in die Nacht hinaus, meine Ration Rum hinunterstürzend und die Flasche in weitem Bogen über Bord schleudernd. ›Prosit, alter Knabe!‹

Das Wasser spritzte hoch auf – über dem Schiff in der Luft erklang es wie ein spöttisches, langgedehntes Lachen. ›He, he, he –‹ und dann noch einmal: ›He, he, he –‹

Die Gesichter um mich herum wurden leichenblaß und auch über meinen Rücken lief es eiskalt herab, aber ich ließ mir nichts merken, sondern antwortete mit halber Stimmer auf das gespenstische Lachen in der Luft:

›Schon die ersten Möwen! – Wir sind also nur wenige Meilen von der Küste entfernt.‹

›Der Auswanderer, der vorhin so großen Mut gezeigt hatte, sah jetzt aus wie ein durchgeschnittener Käse. War es wirklich eine Möwe?‹ flüsterte er.

›Natürlich? Haben Sie jemals gehört, daß die Geister lachen?‹

›Wie der Wind heult!‹ schauderte er.

›Gehen Sie in die Koje, Mann – Sie haben ja doch Furcht trotz des guten Gewissens.‹

Er sah mich böse an. Vielleicht beleidigte ihn mein herausforderndes Wesen, vielleicht durchschaute er es und las auf meinem Gesicht die verborgene Unruhe.

›Und Sie haben doch kein gutes Gewissen, trotz Ihrer lauten Worte‹, sagte er.

Ich sprang auf, die Fäuste geballt, – ganz derselbe unbändige, wilde Geselle, der ich immer gewesen war, ich hätte vielleicht in diesem Augenblick einen zweiten Mord begangen, wenn nicht das Kommando des Kapitäns wie ein Blitz aus heiterer Luft dazwischen gefahren wäre.

›Alle Mann an Deck. Marssegel reffen!‹

Wir hatten nicht darauf geachtet, daß es über uns und unter uns lebendig geworden war. Der Wind fegte über die weißen Wogenkämme; es zischte, brodelte und gärte um den Bug der ›Seemöwe‹, wie ich es nie vorher gehört hatte; es ächzte im Takelwerk und knarrte in den Masten, während grelle Blitze aus den schwarzen Wolkenmassen hervorschossen und der Donner über das Meer rollte.

Der Sturm wuchs, hoch und höher ging die See. Der Kapitän ließ die Zwischendecksluken schließen, weil uns die angsterfüllten Menschen am Arbeiten hinderten, aber das Zwangsmittel half nur kurze Zeit. Von innen sprengte die Kraft der Verzweiflung das Eisen, unaufhaltsam ergoß sich der Strom halberstickter, jammernder, betender und schreiender Auswanderer auf das Deck.

Es war eine gräßliche Szene. Die Stimme des Kapitäns übertönte zuweilen das Brausen des Sturmes, aber was er sprach, das ging verloren. Da galt kein Kommando mehr, da waren alle Bande der Ordnung und des Gehorsams auf einmal gerissen, da schrie jeder, und niemand hörte. Wilde Flüche mischten sich mit dem erschütternden Jammern der Frauen und den Angstrufen der Kinder. Einige beteten oder sangen Sterbelieder, andere sprachen mit lauter Stimme Worte voll Liebe und Zärtlichkeit zu ihren viele hundert Meilen entfernten Angehörigen, sie nahmen von ihnen Abschied und baten sie, ihnen zu vergeben, was jemals Unfriedliches oder Unversöhnliches geschehen sei.

Hier lag eine Mutter auf ihren Knien und hielt in schützenden Armen die Kinder, deren kleine Gesichter sich angstvoll an ihrer Brust verbargen, dort segnete ein Greis mit weißem Haar zum letztenmal die Seinen, während an der Tür der Kapitänskajüte ein Priester mit lauter Stimme die Barmherzigkeit Gottes anrief.

Und von anderer Seite nahten zügellose schwankende Gestalten. Einzelne Männer hatten den Vorratsraum erbrochen und die Rumfässer hervorgezogen. In den Gesang und die Gebete der Todgefaßten hinein tönte ihr trunkenes Lästern.

Mehr und mehr wuchs der Sturm, hoch und höher ging die See.

Hier oder dort zerriß ein heller Schrei auf Sekunden die Luft. Die Stelle, wo noch eben ein Mensch gestanden hatte, war leer. Aufgehört hatte Singen, Toben und Beten, aufgehört hatten Kommando und Gehorsam – die Vernichtung war hereingebrochen.

›Dieser hat's getan!‹ riefen meine Kameraden, und kreidebleiche, bebende Lippen nannten mich flüsternd den Bösen, der das Schiff ins Unglück gestürzt hatte. Augen voll Zorn blickten mir entgegen, geballte Fäuste und wilde Verwünschungen bedrohten mich.

›Er hat das Gespenst des Meeres herbeigerufen! Er hat mit dem fliegenden Holländer Brüderschaft getrunken! –‹

›Werft ihn über Bord, den Verfluchten! –‹

Tageshelle umgab uns auf allen Seiten, das Schiff war nur noch ein Wrack ohne Masten, unaufhaltsam gingen die Wellen über Deck und spülten hinab, was zu schwach war, ihrem Toben Widerstand zu leisten.

›He, he, he‹, lachte hoch oben in der Luft die Möwe. ›He, he, he –‹

Aber ihr triumphierendes Schreien wurde übertönt, ihr Hohnlachen erstickt in einem Ruf des Entsetzens, der allen noch Lebenden die Haare zu Berge trieb.

Ich sah nach vorn, weil alle andern es taten und – was ich dort erblickte, das sieht auch der Vermessenste nicht, ohne auf die Knie zu sinken und Erbarmen zu erflehen.

Über die schwarzen, grün und violett gegipfelten Wogenkämme kam das Geisterschiff daher, gerade auf die ›Seemöwe‹ los. Schneeweiß vom Kiel bis zu den Mastspitzen, unter vollen Segeln, aber es regte sich an Bord kein Stückchen Leinwand, es schaukelte oder stampfte nicht, sondern glitt, von unsichtbarer Macht getrieben, in pfeilschneller Fahrt und schnurgerader Richtung vorwärts, näher, immer näher an uns heran. Auf dem Großmast glühte und funkelte bläulich in majestätischer Höhe das Sankt-Elmsfeuer, weißes Licht ging von den Segeln aus, und in den Raaen arbeiteten die weißen Todesgestalten der sechs Matrosen. Alle in Leichentücher gekleidet, standen sie auf den Köpfen im Takelwerk, während Kapitän van der Decken am Großmast lehnte und aus hohlen Totenaugen zu mir herübersah.

Ja – zu mir!

Ich schrie vor Entsetzen. Dieser Blick! – Hatte ich ihn nicht schon einmal gesehen?

Meine Besinnung drohte zu schwinden. Da hob das Gespenst die rechte Hand und winkte mir. – –

Ganz nahe war das Geisterschiff herangekommen; Auge in Auge stand ich dem fliegenden Holländer gegenüber. Wie ein kalter Schatten streifte es mein Gesicht.

Als ich zu mir kam, lag ich in der Koje eines französischen Schiffes und wurde freundlich gepflegt. Kaum wagte ich eine Frage nach dem Schicksal meines Schiffes – ich wußte die Antwort vorher. Von mehr als fünfhundert Menschen an Bord der ›Seemöwe‹ war ich der einzige Gerettete. Die Matrosen des französischen Schiffes hatten mich anscheinend leblos aus dem Wasser aufgefischt, als die Wellen meinen Körper bis unter den Bug trieben – –“

Der alte Mann schwieg und trocknete die Schweißtropfen auf seiner Stirn. „Ich war der Einzige“, wiederholte er nach einer Pause, „den das Meer zurückgab, den der Tod verschmähte. Ich. mußte leben, um zu wissen, welches Opfer meine Tat gefordert hatte, an wievielen Unschuldigen mein Verbrechen gerächt worden war.

Aber seitdem wurde aus mir ein anderer Mensch. Ich ging an Bord der ›Antje Marie‹, die damals ihre erste Reise antrat, und schwor mir selbst, nie wieder in die Gesellschaft ehrlicher Menschen zurückzukehren, nie wieder festes Land zu betreten, allen Rechten, allen Freuden zu entsagen und so meine Schuld zu büßen.

Inzwischen sind dreißig lange Jahre vergangen. Ich war wie ein lebendig-gestorbener Mensch, aber ruhig in mir durch das Bewußtsein meiner Reue. Doch während der letzten Nacht im Hamburger Hafen hatte ich einen seltsamen Traum. Die ›Antje Marie‹ trieb auf hoher See im hellsten Sonnenschein langsam dahin. Der Wind war still, die Luft warm und das weite Meer wie ein glänzender, kaum bewegter Spiegel. Ich stand am Ruder, das Herz voll Frieden und Ruhe, wie es in vielen Jahren nicht gewesen war, so ganz glücklich, ganz als ob ein schönes langersehntes Ziel erreicht sei, da – nahte aus der Ferne das Geisterschiff des fliegenden Holländers. Aber es erschreckte mich nicht, mein Herz blieb ruhig, meine Augen sahen den Alten am Großmast, ohne sich abzuwenden von dem Entsetzlichen – –

Das weiße Schiff kam näher und näher, es segelte lautlos über die ›Antje Marie‹ hinweg, und ich fühlte, wie wir langsam tiefer und tiefer sanken. Ich schloß die Augen – und ließ mich träumend von den weichen Armen der See umfangen – –

Am andern Morgen sagte mir der Kapitän, daß wir bei Eintritt der Flut in See gehen würden, und nun wußte ich genug. Es ist nicht gut, an einem Montag auszulaufen, zumal nach einem solchen Traum. Diese Reise ist meine letzte! Noch bevor wir den Hafen von Havanna erreicht haben, bin ich ein toter Mann, und eben deshalb erzähle ich euch meine Geschichte, um jeden einzelnen zu warnen. Bittet Gott, daß er euch den Frieden des Gewissens erhalte, das höchste Gut des Menschen!“

Niemand antwortete ihm, nur Robert drückte ergriffen seine Hand. Er verstand ja jetzt, weshalb ihn der alte Mann so eindringlich gebeten hatte, nach Hause zu reisen und die Verzeihung seines Vaters zu erbitten, er freute sich, dem einsamen Unglücklichen wirklich teuer geworden zu sein.

„Du stirbst nicht, Onkel Mohr“, sagte er zuversichtlich. „Im Gegenteil, nun hast du alles einmal von der Seele herunter gesprochen, und nun wird dir leichter und besser zumute werden.“

Der Alte nahm den Kopf des Jungen zwischen seine beiden Hände und küßte ihn auf die Stirn. „Leb wohl, Kind“, sagte er langsam, „leb wohl, du hast mich mit dem Leben wieder ausgesöhnt, hast noch einen letzten Schimmer von Liebe und Vertrauen wieder aus der Gemeinschaft der Menschen zu mir, dem Ausgestoßenen, herübergebracht. Sei gesegnet!“ –

Ein lauter Ausruf des Obersteuermanns unterbrach die Stille, die den Worten des alten Matrosen gefolgt war.

„Alle Mann an Deck! Klar zum Wenden!“ schrie Renefier, wie außer sich das Ruder ergreifend, in vergeblichem Bemühen, die Galliot in den Wind zu drehen. Der Mann am Ruder, zufällig sein erbittertster Gegner, wollte seinem Befehl nicht gehorchen und verteidigte mit beiden Fäusten den Platz. „Rufen Sie den Kapitän, hierher!“ schrie er.

Der Obersteuermann mußte aber seiner Sache sehr sicher sein, er schien jeden Augenblick für kostbar zu halten, denn er kehrte sich plötzlich von dem widerspenstigen Matrosen ab und wendete das Schiff mit flatterndem Topsegel, indem er die Hauptbrasse schießen ließ. Dann befahl er der Mannschaft, das große Segel zu reffen, aber – keiner wollte gehorchen. Was hatte den sonst so ruhigen und besonnenen Obersteuermann plötzlich aus der Fassung gebracht? Meer und Wind waren still, keine Gefahr weit und breit – was wollte er eigentlich?

Er selbst benahm sich wie ein Wahnsinniger. „Van Swieten!“ schrie er. „Van Swieten, komm um Gotteswillen herauf. In wenigen Minuten geht es um unser Leben, wenn deine Leute nicht gehorchen.“

Unwillkürliches Entsetzen packte die Matrosen. Nur Mohr stand aufrecht mit gekreuzten Armen „Es kommt!“ sagte er leise, „es kommt! – Herr, sei ihnen gnädig!“

Robert stürzte an ihm vorüber zur Kajütentür. „Herr Kapitän! – Herr Kapitän! – Sie müssen an Deck kommen.“

Van Swieten war wie gewöhnlich halb betrunken und fuhr aus ahnungslosem Schlaf auf. „Zum Teufel, Junge, was schreist du? Willst du das Tauende kosten?“

„Van Swieten!“ rief wieder der Obersteuermann, „komm und gib mir das Kommando zurück, oder wir sind alle verloren. Das Schiff steuert in voller Fahrt auf die Kubariffe los.“

Van Swieten taumelte an Deck. „Was sagst du da, Renefier?

Geh in deine Kajüte und sei still. Wo ist der zweite Steuermann?“

Der Gerufene erschien mit bleichem, ängstlichem Gesicht. Er verteidigte sich nicht, als ihn der Obersteuermann bei beiden Schultern packte und derb schüttelte.

„Hast du den Standort aufgenommen, Bursche? Kannst du das überhaupt? – Wo ist deine Höhenberechnung?“

Die Zähne des jungen Menschen schlugen hörbar aufeinander „Ich weiß es nicht“, stammelte er, „ich – ich verließ mich auf den Herrn Kapitän.“

„Da haben wir's! – Van Swieten, siehst du jetzt, was deine Gewaltmaßnahme angerichtet hat? Wir sind alle verloren.“

Da ertönte ein halb erstickter Ruf vom Ausguck her. „Scharf wenden, Brandungsfelsen dicht am Bug!“

„Nieder mit dem Ruder!“ rief Renefier, dessen Geistesgegenwart ihn nie verließ. „Nieder damit!“

Der Befehl wurde befolgt, aber die Galliot verlor Fahrt, streifte einen schaumbedeckten Felsen und lief mit dem Heck auf ein Riff.

Jetzt herrschte allgemeine Bestürzung. Die Segel flatterten um die knarrenden Masten, die Taue rissen und peitschten umher, die Brandung heulte, der Rumpf dröhnte, die Leute schrien. Da rief van Swieten, wahrscheinlich nur um sich Ansehen zu verschaffen, mit lauter Stimme: „Den Anker los!“ – der sinnloseste Befehl, der überhaupt gegeben werden konnte.

Der Anker schoß herab, so daß sich das Fahrzeug vor ihm drehte und plötzlich stillstand. Niemand dachte daran, die Segel zu reffen und so die Kraft der über Deck gehenden Sturzwellen zu vermindern.

Niemand sah es, daß die Stelle, an der eben noch der alte Matrose gestanden hatte, leer war.

„Renefier“, sagte van Swieten mit unsicherer Stimme, „ich bitte dich in Gegenwart meiner Leute um Verzeihung. Du hast das Kommando an Bord!“

Der mürrische Holländer antwortete keine Silbe darauf, gab aber sofort seine Befehle. Sämtliche Segel wurden gerefft und die Anker aufgehievt, um das heftige Stampfen des Schiffes abzuschwächen. Bei Tagesanbruch ließ Renefier ein Boot bemannen und untersuchte selbst die Lage. Die Galliot war mit der Flut über den äußeren Saum des Riffes hinausgekommen und ziemlich tief in die Zacken der Korallen eingedrungen.

Totenstille herrschte an Bord, als das bekannt wurde. Van Swieten, unfähig, den Schlag zu ertragen, verbarg das Gesicht in beiden Händen und weinte.

„Peilt die Pumpen!“ tönte Renefiers ruhiges Kommando.

„Zehn Zentimeter Wasser im Schiff!“ meldete nach kurzer Pause der Zimmermann.

Der Obersteuermann erbleichte. Die Galliot hatte also ein Leck, und die Ladung war auf jeden Fall verloren.

„Vier Mann an die Pumpen!“ rief er. „Das große Boot herunter!“

Alle seine Befehle wurden jetzt mit unglaublicher Eile befolgt. Es gab für die Mannschaft der gestrandeten Galliot nur noch eine einzige Hoffnung auf Hilfe und Erlösung aus dieser schrecklichen Lage, nämlich eine Insel, die nicht weit von dem Riff aus dem Meer hervorragte.

Das unglückliche Schiff lag fast in ihrem Schatten. Wenn es möglich war, dorthin wenigstens die kostbaren Schmuggelwaren zu retten, so ging doch nicht alles verloren und man konnte hoffen, mehr als das nackte Leben zu retten. Ein anderes Fahrzeug zu erwarten wäre vergeblich gewesen, da ja kein Schiff der gefährlichen Stelle nahe genug kommen würde, um die Galliot zu sichten.

„Los, van Swieten!“ ermunterte Renefier, „nimm fünf oder sechs Mann und untersuche die Insel. Wenn es dort irgendeinen Schutz gibt, so müssen wir mit dem Boot unsere Ladung hinüberschaffen und die ›Antje Marie‹ ihrem Schicksal überlassen. Je früher wir anfangen, desto mehr wird gerettet werden.“

Der Kapitän sah aus wie ein Bild der Verzweiflung. Gerade auf diese Reise hatte er so große Hoffnung gesetzt, gerade diesmal hatte er fast sein ganzes Vermögen zum Ankauf der teuersten Waren verwendet, um auf einen Schlag Tausende zu verdienen. Freunde und Mittelsmänner, alle gut bezahlt, hatten ihm in Hamburg, in Holland, in Spanien und auf Kuba die Wege geebnet, hatten ihm in die Hände gearbeitet und das ganze Unternehmen gesichert – jetzt war alles vorbei.

„Mein Schiff!“ ächzte er, „mein Schiff!“

„Das ist verloren!“ sagte der Obersteuermann. „Ergib dich, van Swieten, und rette, was noch von der Ladung geborgen werden kann.“

Der Kapitän fuhr auf. Es sah aus, als sei der gutmütige, immer lächelnde Mann in wenigen Stunden ein Greis geworden. Die Augen lagen wie erloschen in ihren Höhlen, die Haut war aschfahl, die Hände zitterten leise.

„Wo ist Mohr;“ fragte er halblaut.

Die Matrosen schwiegen, nur Robert konnte den Kummer um den alten Freund nicht verbergen. Ein lautes Schluchzen beantwortete die Frage.

Van Swieten nahm die Mütze vom Kopf. „Wenn du ein paar Hände frei hast, Renefier, so laß die Flagge für ihn halbmast setzen“, sagte er nach einer Pause. „Gib seinem Andenken die Ehre, die wir der Leiche erwiesen hätten, wenn Mohr in unserer Mitte gestorben wäre. Die ›Antje Marie‹ ist ja leckgelegt auf immer.“

Und sei es im bitteren Bewußtsein des erlittenen schweren Schadens, sei es in der Erinnerung an den Gefährten eines halben Menschenlebens, der nun tot war, – van Swietens Stimme brach, als er die letzten trostlosen Worte sagte. Er ging in die Kajüte und schloß sich ein.

Vier Mann wurden bestimmt, die Insel zu untersuchen. Robert drängte sich dazu, als die Leute das Boot bestiegen. Von Wache und Ablösung war ja nicht mehr die Rede – er sah bittend in das. finstere Gesicht des Obersteuermanns.

Renefier nickte stumm. Er hielt zwar besser als der Kapitän dem Unglück stand, aber im innersten Herzen empfand er die gleiche Verzweiflung. Sein Auge folgte dem Boot, als ob es einem Sarge folgte, mit trübem und hoffnungslosem Blick.

Die fünf Männer landeten nach kurzer Fahrt an einer seichten Stelle, wo sich das Boot bequem an überhängende Baumstämme binden ließ. Ein wahres Paradies öffnete sich ihren Blicken, ein Fleck Erde, so schön und malerisch, wie ihn keiner von ihnen je gesehen hatte. Palmen ragten zum Himmel empor, große bunte Blüten rankten sich um ihre schlanken Stämme und unzählige Vögel wiegten sich in den Zweigen.

„Wie wunderbar, wie schön!“ rief Robert.

„Hm“, meinte einer der Matrosen, „das ginge schon an, wenn nur nicht vielleicht hinter den nächsten Bäumen so eine Bestie lauert, die uns als Frühstück in den Schnabel zu nehmen beliebt. Das würde ich mir verbitten.“

Robert lachte. Er hatte den naturgeschichtlichen Unterricht seines alten Pinneberger Lehrers noch zu gut behalten, um auf Kuba oder den umliegenden Inseln Raubtiere zu fürchten. „Hier gibt es keine Bestien“, antwortete er, „nur Skorpione und Taranteln, die aber nicht so gefährlich sind, wie man es meistens von ihnen behauptet, nur in den Sümpfen leben viele Krokodile.“

„Was der Kerl alles weiß! Ist es wahr, Junge, kann man sich darauf verlassen? Sonst holen wir uns doch lieber vom Schiff ein paar Gewehre.“

„Ist nicht nötig, Speckesser. Laß uns nur ruhig ausspüren, wo sich ein Versteck befindet. Aha, eine Quelle hätten wir schon.“

„Kommt mal her“, rief ein anderer, „seht mal, was ist das? Ein Kürbis, glaube ich.“

Robert pflückte eine der reifsten Früchte und biß herzhaft hinein. „Ach“, rief er, „das schmeckt aber anders als Erbsen und Speck! – Es ist eine Ananas, sage ich euch, in Europa die teuerste Frucht, die es gibt.“

Jetzt machten sich die Matrosen darüber her. „Junge, du sollst Professor heißen“, erklärte der „große Russe.“ „Deine Gelehrsamkeit hat uns zu diesem Leckerbissen verholfen, und dafür müssen wir dich belohnen.“

„Wollen aber doch den Kameraden welche mitbringen!“ rief kauend der Speckesser. „Ach Gott, hätte man doch eine Schiffsladung von den Dingen, die hier wild wachsen, und säße damit in Hamburg, wie schön wäre das!“

„Nichts auf Erden ist vollkommen“, schaltete der vierte ein. „Laßt uns jetzt aber schnell machen, damit der Alte bei Laune bleibt. Zu sagen hat er uns freilich nicht mehr viel, und an eine richtige Heuer ist auch schwerlich zu denken.“

„Vorwärts!“ drängte Robert, dem bei der Erinnerung an das Schiff und an den toten verlorenen Freund die Ananas nicht mehr schmeckte. „Vorwärts. Zuviel von den frischen Früchten dürfen wir nicht essen, sonst gibt es böse Folgen. Das Klima ist nicht gerade gesund, am wenigsten für uns Nordländer.“

Die Leute lachten und setzten sich wieder in Marsch. Robert schnitt mit dem Taschenmesser hier und da ein Stückchen Baumrinde herunter. „Um den Rückweg zu finden“, sagte er.

„Bravo, Professor! Denkst wohl an das Märchen von Hänsel und Gretel, die Erbsen auf den Weg streuten, als sie heimlich in den Wald gingen, wo die Hexe wohnte!“

„Ach“, sagte ein anderer und blieb stehen, um über das Meer zu sehen, „ach, sprecht nur. nicht von den deutschen Märchen, das macht das Herz schwer. Ich habe ja auch zu Hause solche Hänsel und Gretel, die auf den Vater warten, daß er ihnen Brot bringt. Wenn wir nun niemals von hier erlöst würden, oder wenn wir ganz mit leeren Händen irgendwo an Land kämen, ohne Geld, ohne Kleidung, ohne Heuer!“ –

Keiner antwortete ihm, aber die gute Laune war verscheucht, selbst bei Robert. Er ging voran durch das blühende, duftende Gewirr von Pflanzen und Blumen, durch das Gras und das weiche grüne Moos. Er war ganz still geworden, seit der Matrose von der Heimat gesprochen hatte. Jetzt war es zu Hause Abend, und die alte Mutter betete vielleicht in diesem Augenblick, daß Gott ihr Kind beschützen möge, daß er es erhalte und vor Gefahren behüte. – –

Lautlos gingen sie weiter. Jeder hatte ja daheim seine Lieben, jeder fragte sich, ob er sie wiedersehen werde.

So waren sie etwa eine Viertelstunde gegangen, als sich der Boden zu erhöhen begann und der Pflanzenwuchs weniger üppig schien. Dafür aber entdeckten die Matrosen einen überhängenden, ziemlich breiten Felsvorsprung, auf dessen Kuppe das Moos in langen Flechten wucherte und der unter seiner gewölbten Decke der kostbaren Ladung des gestrandeten Schiffes guten Schutz bieten konnte. Von allen Seiten offen, hatte die Stelle nur ein Dach, aber das war auch alles, was man brauchte, und sofort wurde der Rückweg angetreten. Jetzt hob sich die Stimmung der Leute. An Bord waren Lebensmittel für viele Wochen, für Monate sogar, und wenn einige Tage an dem überhängenden Felsen gezimmert wurde, so hatte man gegen den Regen hinlänglichen Schutz. Einmal mußte ja auch ein Schiff in Sicht kommen.

„Holla Jungens“, rief der große Russe, „nun laßt uns alle Segel setzen, daß wir die Ladung erst einmal hier verstauen. Zuerst die Lebensmittel.“

„Frisches Wasser fließt an unserem zukünftigen Hotel unmittelbar vorüber“, sagte der Speckesser, „wir werden also Herrentage haben, besonders, wenn auch ein bißchen Jagd betrieben werden kann. Diese weißen und blauen Vögel scheinen mir zum Fasanengeschlecht zu gehören.“

„Und Fische gibt es auch!“ fügte Robert hinzu. „Wenn wir nur erst alles hier hätten. Sechs Mann müssen ja ununterbochen bei den Pumpen bleiben.“

„Der Zimmermann soll Flöße zusammenschlagen, dann geht es.“

Man hatte sich der Küste wieder genähert, doch plötzlich legte Robert den Arm auf die Schulter des Speckessers.

„Was ist das? – Ein fremdes Boot am Schiff!“

Alle sahen hinüber. Wirklich lag seitwärts der Galliot ein großes Fischerboot, und an Deck standen mehrere Männer in roten Flanelljacken. Van Swieten und Renefier sprachen mit den Leuten.

„Wo kommen die Kerle her?“

„Wer sind sie und was wollen sie auf der Galliot? Das scheint mir viel wichtiger.“

„Ob wir uns zu der Beratung melden?“

„Wollen wir etwa die Kameraden im Stich lassen?“

Ohne länger zu zögern, drangen die fünf zu ihrem Boot vor und ruderten so schnell wie möglich an das gestrandete Schiff heran. Als sie das Deck betraten, gab ihnen Renefier heimlich ein Zeichen zu schweigen, worauf der Speckesser in gleichgültigem Ton sagte: „Wir haben Wasser gefunden, Herr Obersteuermann.“

„Es ist gut. Ich werde später weitere Anweisungen geben.“

Dann setzte er seine Unterhaltung mit den Fischern wieder fort.

Robert verstand natürlich davon keine Silbe, aber später erfuhr er durch den Kapitän selbst, um was es sich handelte. Die Fischer hatten angefragt, welche Ladung im Raum der Galliot verstaut sei und was man bezahlen wolle, wenn sie mit ihrer Bark, die an einer entfernten Stelle vor Anker lag, sämtliche Waren nach Havanna beförderten.

Van Swieten besann sich nicht lange. Sein Plan war bald gemacht. Er bewies durch die Schiffspapiere, daß sich Mehl und Fleisch an Bord befanden, daß er also bei einer so wenig wertvollen Ladung für den angebotenen Transport höchstens zweihundert Dollar zahlen könne. Darauf gingen die Fischer nach einigem Handeln ein und versprachen, am folgenden Morgen mit ihrer Bark zur Stelle zu sein.

Nachdem die beiderseitigen Bedingungen zu Papier gebracht waren, zogen die Spanier ab.

Van Swieten hatte kaum die nötigen Abschiedsgrüße gewechselt, als er sich händereibend zu den Matrosen wandte. „Kinder“, sagte er, „das geht bei allem Unglück noch besser als ich dachte. Nun zeigt, daß ihr Kerle seid, und es soll euer Schade nicht sein. Wir müssen alle wertvollen Waren hier auf der Insel unterbringen, um sie den Spaniern zu entziehen, sonst fordern die Kerle mindestens das Sechsfache für die Überfahrt. Bin ich erst einmal in Havanna, so habe ich Freunde genug, um die Sachen hinüberzuschaffen.“

Die fünf Abgesandten berichteten nun, was sie gefunden hatten, und sowohl van Swieten als auch Renefier schienen zufrieden zu sein. Es wurden in größter Eile Vorbereitungen getroffen, um die Schmuggelwaren an Land zu verstecken.

Von den vierzehn Mann an Bord der Galliot mußten sechs die beiden Boote mit den erforderlichen Lebensmitteln, mit Werkzeugen und Geräten beladen, dann, nachdem diese Dinge hinübergeschafft waren, folgten die Waren, und ehe es Abend wurde, hatten die Matrosen fast alles geborgen, was dem Kapitän besonders wertvoll oder wichtig erschien.

„Morgen mit Tagesanbruch fahren wir noch einmal“, bestimmte der Kapitän, „und dann bleiben drei von euch auf der Insel als Wache zurück. Wer dazu Lust hat, kann sich melden. Ich verpflichte mich, euch innerhalb acht Tagen abzuholen und gebe Verpflegung und Wein, soviel ihr wollt, nur dürft ihr das Versteck der Waren nicht verraten, sondern müßt, wenn euch die Fischer aufspüren sollten, irgendein Märchen erfinden. Nun, wer will?“

Robert trat mit der Mütze in der Hand vor. Seine Augen baten so eindringlich, daß Worte gar nicht nötig waren. „Herr Kapitän, bitte lassen Sie mich mitgehen!“

Van Swieten lächelte. „Meinetwegen, du Schlingel. Willst gern ein bißchen Robinson spielen, nicht wahr? Na, geh nur mit. In Havanna finden wir uns hoffentlich auf einem neuen Schiff wieder zusammen, wenn es auch nicht die arme brave ›Antje Marie‹ ist, und wenn wir auch den alten Geisterseher nicht mehr bei uns haben. Gott gebe ihm die ewige Ruhe, amen!“

Dann wurden die beiden zum Bleiben auf der Insel bestimmten Matrosen ausgewählt; Mohrs Seekiste kam als Roberts Eigentum in die Kapitänskajüte, um zunächst der Gefahr entzogen zu werden, man peilte nochmals und fand, daß das Wasser im Raum nicht gestiegen war – dann ging die Mannschaft zur Koje.

Robert schlief nicht. Zuviel stürmte auf ihn ein, zu viele Gedanken, frohe und traurige, beschäftigten ihn. Die acht Tage auf der Insel sollten ihm zu einem einzigen Freudentag werden! Was er sich jemals Märchenhaftes und Abenteuerliches ausgedacht hatte, sollte jetzt Wirklichkeit werden! In Pinneberg veranstalteten ja schon die größeren Jungen so gern allerlei Räuberspiele; sie führten untereinander Krieg auf den Inseln im Mühlenteich und in der Aue, wobei Robert jedesmal der Anführer gewesen war, – aber was war das gegen die Freude, in einer wirklichen Wildnis zu leben, in unbekannte Gegenden vorzudringen und Neues, immer Neues zu sehen?

Sein Herz hüpfte vor Freude, und wäre es nicht das Bild des alten Mohr gewesen, das zuweilen wie ein Schatten auftauchte, so würde der Junge heimlich den Schiffbruch der Galliot als ein sehr frohes Ereignis bezeichnet haben. Aber die Erinnerung an den verlorenen Freund kam immer wieder zurück, mischte sich in jede Hoffnung, jede Freude – er konnte sie nicht zurückdrängen, sooft er es auch versuchte.

Wo mochte jetzt die Leiche sein? Vielleicht von den Haien gefressen, vielleicht treibend im weiten Weltmeer.

Roberts Augen wurden feucht, als er an den Alten dachte. Ja, sein Wunsch sollte erfüllt werden, in Havanna wollte er nach Hamburg anmustern und mit den Ersparnissen des unglücklichen Menschen nach Hause zurückkehren. Er wollte später von Mohrs Erbe das Steuermannsexamen machen, ja, und wenn er einmal ein Schiff besaß, so sollte es „Der Geisterseher“ heißen, zum Andenken an den verlorenen Freund.

Allmählich schlief er ein. Wunderbar ruhig und still war die Tropennacht. Kein Hauch, keine Welle bewegte das Wasser. Hoch oben am Himmel glänzte der Vollmond, und im Meer spiegelte sich sein helles, lächelndes Rund.

Träumte Robert oder wachte er, als er zu hören glaubte, daß sich das Deck mit Männern anfüllte, daß ein Ringen und Stampfen, ein Ächzen und Fluchen die Stille der Mitternachtsstunde unterbrach? – –

War es Wirklichkeit, daß er die Männer an den Pumpen gefesselt an Deck liegen sah, und daß die fremden Gestalten ihre Arbeit übernommen hatten, während andere den Kapitän und den Obersteuermann gebunden in ein Boot schleppten?

Robert fuhr auf und sah hart neben sich das braune, bärtige Gesicht eines der Fischer. Noch war er selbst nicht bemerkt worden, und sein Verstand riet ihm, sich vollkommen regungslos zu verhalten. Was konnte der Überfall bedeuten?

Das Rätsel sollte bald gelöst werden. Er hörte, wie van Swieten und Renefier in deutscher Sprache miteinander verhandelten. „Die Schurken“, knirschte der Kapitän, „die verfluchten Schurken!“

Renefier seufzte. „Du bist an allem schuld!“ gab er zurück.

Ein lautes Rufen der Spanier übertönte seine Worte. Sie schnatterten durcheinander und begannen im Logis und in der Kajüte zu suchen.

Robert horchte angestrengt. „Sie können den Jungen nicht finden“, sagte van Swieten. „Ich wollte wünschen, daß er entkäme.“

Es rann heiß und kalt durch Roberts Adern. Auf dem Bündel alter Segel, das er sich hinter der Kombüse als Lager eingerichtet hatte, war er bis jetzt den Räubern entgangen, aber wie lange würde es dauern, bis man ihn entdeckt haben und mit den andern gefesselt in das Boot schaffen würde?

Er durfte nicht zögern. Auf der Insel befand sich alles, was man für mehrere Wochen zum Leben brauchte, an Bord dagegen kam er in die Gefangenschaft einer Verbrecherbande.

Schnell entschlossen ergriff er ein starkes Tau, zog es durch einen eisernen Ring der Bordwand und ließ sich geräuschlos daran hinabgleiten in das Wasser. Dann zog er, um seine Flucht gänzlich zu verbergen, das Tau schleunigst nach und schwamm in langen Zügen der Insel zu.

Niemand entdeckte ihn, keiner der Räuber ahnte etwas. Das Boot mit der gefangenen Mannschaft stieß ab, als der Junge das Ufer erkletterte. Durchnäßt bis auf die Haut, allein in der weglosen Wildnis, zitternd vor Schwäche und Anstrengung sah er, wie auf dem Schiff die Piraten das Kommando ergriffen hatten und die Ladung als ihr Eigentum in Besitz nahmen.

Als Robert den letzten Schatten des Bootes aus den Augen verloren hatte, sank er, von der Aufregung betäubt, ohnmächtig zu Boden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert der Schiffsjunge