15. Um die Erde

15. Um die Erde.

Am 21. Juni verließ die ›Gazelle‹ den Hafen von Kiel, um zunächst mehrere Wissenschaftler zu astronomischen Beobachtungen nach der Kergueleninsel im südlichen Eismeer zu bringen. Der eigentliche Zweck der Reise lag jedoch in der Erforschung des Meeresbodens und der Erkundung sicherer und kürzerer Seewege.


Die Engländer hatten nacheinander mehrere Schiffe ausgeschickt, hatten bedeutende Entdeckungen gemacht und mit ihren Schleppnetzen in einer Tiefe von 500 Meter das Meer erkundet, – weshalb sollte man es also nicht auch von Deutschland aus versuchen.

Die Reichsregierung ließ die Korvette ›Gazelle‹ für diese Aufgabe ausrüsten, das Schiff ging in See, und schon in den ersten Tagen des Monats Juli wurden Tiefenmessungen vorgenommen, die auf der Höhe von Madeira das Resultat von 4800 Meter ergaben. Robert hatte sich ein kleines, verschließbares Buch angeschafft, in das er jeden Tag die Erlebnisse dieser interessanten Reise niederschreiben wollte. Er war sehr glücklich darüber, diese Fahrt der ›Gazelle‹ mitmachen zu dürfen, die ihm kein Handelsschiff, aber auch kein anderes Kriegsschiff jemals bieten konnte.

Handelsschiffe fahren nur um des materiellen Nutzens willen, sie müssen vor allen Dingen Zeit sparen, daher wählen sie die bekanntesten Verkehrswege, umgehen alle Gefahren und vermeiden jeden Aufenthalt, der nur dem Reeder Geld kostet, ohne irgendwelchen Gewinn zu bringen. Robert wußte zum Beispiel, wie ungern die Handelsschiffkapitäne loten, und daß sie, sobald das Schiff etwa hundert Faden Tiefe unter dem Kiel hat, sofort alle weiteren Versuche aufgeben, also den Grund des Meeres nur in sehr seltenen Fällen kennenlernen können. Um so interessanter waren ihm daher jetzt die Tiefenmessungen, die in bestimmten Zwischenräumen von Zeit zu Zeit wiederholt wurden.

In Funchal, der Hauptstadt von Madeira, lag das Schiff nur zwei Tage vor Anker, Robert konnte daher von der Insel nur wenig kennenlernen, desto mehr aber war er jetzt auf den Pik von Teneriffa gespannt, der einige Tage später in Sicht kam, obgleich die Insel selbst nicht angelaufen wurde. Dieser Vulkan, dessen Spitze schon in einer Entfernung von zwanzig Meilen aus dem Meer aufsteigt, war von großartiger, überwältigender Schönheit, und Robert bedauerte lebhaft, nicht zeichnen zu können, um den Eindruck dieses Bildes, so wie es sich ihm bot, für sich festzuhalten.

Um den Fuß des Berges zog sich ein üppiger Pflanzenwuchs, der jedoch stufenweise nach oben hin immer dürftiger wurde, bis endlich unterhalb des kegelförmigen Gipfels das Ganze in eintöniges Grau überging. Hier bestand der Berg nur noch aus vulkanischer Asche, Bimsstein und Lava. Auf dem höchsten Gipfel schimmerte es von den letzten Überresten des kaum geschmolzenen Winterschnees, und aus mehreren Spalten drang ständig dichter Rauch hervor. Robert hatte noch keinen Vulkan gesehen, er wäre deshalb am liebsten an Land gegangen und hätte den Berg näher erforscht.

Den Dienst an Bord kannte er jetzt genau, und an die strenge Disziplin hatte er sich gewöhnt. Der junge Bootsmannsmaat war bei seinen Matrosen beliebt, von den Vorgesetzten geachtet und durch die Erbschaft seines Vaters ein unabhängiger Mensch, – unter solchen Voraussetzungen wurde diese Reise für ihn wirklich ein großes und schönes Erlebnis. Er hatte jetzt erkannt, wie notwendig es ist, sich an Bord eines Schiffes der Gemeinschaft unterzuordnen. Was er in seinem jungenhaften Übermut nicht einsehen wollte, das hatte er nun gelernt: nicht darauf kam es an, den eigenen Trotz und Willen durchzusetzen, sondern sich zu beherrschen und durch Vernunft und Gehorsam dem Wohl des Ganzen zu dienen.

Langsam, wie er aufgetaucht war, versank der Pik von Teneriffa im Meer, und wieder umgab die endlose See das Schiff. Dann aber kam São Thiago in Sicht, und bei Praia warf die Korvette Anker, um Kohlen zu übernehmen.

Robert ging auch diesmal an Land, aber der Vergleich mit Madeira, dem schönen, blühenden Madeira, fiel für die Insel Sao Thiago nicht gerade vorteilhaft aus. Das ganze Land bestand aus wildzerrissenen und zerklüfteten rötlichbraunen Felszacken, die nur an sehr vereinzelten Stellen mit einem spärlichen, unschönen Pflanzenwuchs bedeckt waren. Robert hörte, daß es hier nur zwei oder dreimal im Jahre regne. Da konnte natürlich kein Pflanzenwuchs gedeihen. Er sah aber auch nichts, das auf Ackerbau oder Tierzucht hingedeutet hätte. Die Bedeutung des Hafen beruhte allein auf der Kohlenstation, um derentwillen vorüberfahrende Schiffe die Insel überhaupt nur anlaufen. Nachdem die „Gazelle“ ihren Vorrat übernommen hatte, verließ sie schon am 29. Juli, also nach zwei Tagen, den Hafen, um dafür die Negerrepublik Liberia zu besuchen. Robert sollte jetzt auch Afrika kennenlernen, Mongos Vaterland, von dessen tropischer Schönheit ihm der Alte so viel erzählt hatte und das deshalb immer schon das Ziel seiner Wünsche gewesen war. Das Königreich Dahomey mit den Ankerplätzen Palma und Lagos, lag östlicher als Liberia, das wußte er, aber es war ja dasselbe Land und mußte demnach ganz ähnlich beschaffen sein. Er freute sich schon auf den Brief, den er dem Alten aus seiner Heimat nach New York schreiben wollte.

Konnte auch Mongo vielleicht nicht lesen, so gab es doch Leute genug, die ihm den Inhalt des Schreibens auseinandersetzen würden, und Robert sah schon im Geist den Neger schmunzeln: „Dieser junge Spitzbube!“

Weiter und weiter verfolgte die „Gazelle“ ihren Kurs. Jetzt mußte Robert wieder einmal die glühende Hitze des tropischen Sommers ertragen; schlaff hingen alle Segel herab, das Deck flimmerte im Sonnenschein, der Dienst wurde auf ein Mindestmaß beschränkt und den Leuten nach Möglichkeit mehr Freiheiten gestattet.

Nach sechs Tagen kam die afrikanische Küste in Sicht. Vom Kap Mesurado wehte die Flagge der Negerrepublik und dann, am 4. August, erschien der Lotse.

Diejenigen unter den Matrosen, die bisher noch nicht in Afrika gewesen waren und daher auch die Landessitten noch nicht kannten, wandten sich ab, um ihre Heiterkeit zu verbergen. Der Afrikaner erschien nämlich nur mit einem Lendenschurz aus Baumwollstoff bekleidet, und weil daran selbstverständlich keine Taschen angebracht waren, so trug er das Lotsenpatent in einer Blechkapsel am Hals.

Seine guten Navigationskenntnisse ließen jedoch den schwankenden Respekt der Matrosen sehr bald zurückkehren, und am 5. August konnte die „Gazelle“ an der Mündung des St. Paulsflusses vor Anker gehen.

Wie ganz anders, wie urweltlich und ursprünglich, von Technik und Zivilisation vollständig unberührt, erschien dieses Land. Die Stadt selbst war nur ein Dorf mit ungepflasterten, unbeleuchteten Straßen, der Hafen klein und nichts weiter als eine natürliche, zum Ankern günstige Bucht, der St. Paulsfluß endlich brach unmittelbar aus dem Urwald hervor und mündete, ohne daß die Ufer befestigt oder durch eine Brücke verbunden waren, ins Meer. Überhaupt begann unmittelbar hinter den letzten Häusern der bescheidenen, dörflichen Stadt die Wildnis, so daß man mit Rücksicht auf die Gefahren, die ein Eindringen in den Urwald mit sich brachte, von einem eigentlichen Erkundungszug ganz absehen mußte, jedenfalls auf dem Land. Die Dampfpinasse der Korvette dagegen machte schon am nächsten Tage eine Fahrt auf dem St. Paulsfluß, und selbstverständlich war Robert auch hier wieder der erste, der ins Boot sprang, ohne ein Kommando abzuwarten. Der erste Offizier kannte ihn ja und wußte, daß er an solchen Streifzügen Freude hatte, während viele andere, darunter besonders Gerber, glücklicher waren, wenn ihnen unnötige Strapazen erspart blieben. Diese übrigens nur kurze Fahrt durch den Urwald gehörte später zu Roberts schönsten Erinnerungen, und auch Doktor Hüsker, der Zoologe, der als Wissenschaftler an der Reise teilnahm, erfreute sich einer reichen Ausbeute wunderschöner Schmetterlinge und verschiedener, auf der Oberfläche des Wassers lebender Insekten, besonders Spinnen und Käfer, die hier in vielen Arten vorkamen.

Der Fluß war zu breit, als daß man von seiner Mitte aus beide Ufer gleichzeitig beobachten konnte; die Pinasse hielt sich daher auf einer Seite, aber auch hier gab es genug Interessantes und Schönes zu sehen. Ein Stück von der Stadt entfernt lagen ab und zu unter Palmen die leichtgebauten Hütten der Neger, während im Freien dicht davor jedesmal aus großen Steinen ein Herd errichtet war und über einem Holzfeuer der Eisenkessel mit Palmenkernen brodelte. Die Bereitung des Palmöls ist fast das einzige, was an Arbeit von der schwarzen Bevölkerung geleistet wird und womit sie sich etwas Geld verdient. In diesen Breiten wächst beinahe alles, was die Menschen brauchen, wild im Urwald. Was sollte also die Schwarzen bewegen, zu arbeiten?

Es gibt am Äquator keinen Frost, keinen Winter, man braucht keine schützenden Wände und keine wärmenden Kleider, man kennt keinen Luxus, also wozu die Mühe, die Sorge?

Blühende Mimosen und Akazien, ein Gewirr von Schlingpflanzen mit wunderschönen, glockenförmigen oder langgestielten lilienartigen Blüten, schlanke Palmen, Bananen-, Brot- und Parabäume säumten das Ufer, das sich einmal steil aus dem Wasser erhob, dann wieder flach und von grünem Moos überzogen den Fluß begrenzte. Robert sah Nashornvögel und manchmal eine träge im Sonnenschein daliegende zusammengerollte Schlange, aber ein größeres Raubtier war ihm noch nicht zu Gesicht gekommen. Hätte er doch an Land gehen und mit einigen Kameraden das Jagdglück versuchen dürfen!

Aber daran war nicht zu denken. Noch am selben Tage sollte die Korvette wieder in See gehen, also wäre jede etwaige Verzögerung streng bestraft worden, – Robert schlug sich schweren Herzens die Sache ganz aus dem Kopf.

Immer schöner und blühender wurde das Ufer. Dichte Laubwände, undurchdringlich wie feste Mauern aus Blättern und Blüten, traten bis dicht an das Wasser heran. Sie strömten einen berauschenden Duft aus, der Wind fächelte leise, und fast betäubend drückte die Hitze.

Roberts Gewehr kam nicht aus der Hand, sollte es denn nichts, gar nichts zu schießen geben?

Aber dort! – Ein Schatten glitt über das Moos, die Ranken brachen und zitterten, ein Paar glühende Augen spähte aus dem Gebüsch hervor.

Robert fuhr auf. Mit einer Handbewegung verständigte er die andern. „Ein Leopard! – Ein Leopard!“

Und jetzt zeigte sich das Tier in ganzer Größe auf der Lichtung. Mit glühenden Lichtern und wild gesträubtem Haar, den schön gefleckten, schlanken Körper gekrümmt und leise mit dem langen Schweif peitschend, stand der Leopard am Wasser und hielt die Augen fest auf das Schiff geheftet. Offenbar ahnte er nichts von der Gefahr, die ihm drohte.

Die Pinasse stoppte ihre Fahrt, – langsam hob Robert die Büchse und legte an.

„Jetzt! Jetzt!“ flüsterte Doktor Hüsker.

Der Schuß krachte, und sich überschlagend stürzte das Raubtier tödlich getroffen auf den Sand. Ganz nahe am Wasser zuckte der Körper, noch einmal schlugen die Läufe um sich, dann dehnte sich das Tier, verlor dabei seinen letzten Halt und stürzte in den Fluß, daß die Wellen über ihm zusammenschlugen. Noch sekundenlang regte sich der Körper.

Ebenso schnell aber war er von der Pinasse aus mit einer bereitgehaltenen Schlinge eingefangen. Noch drei oder vier Minuten vorsichtiger Arbeit, dann lag die Jagdbeute auf dem Verdeck, und Blut und Wasser liefen aus den Speigatten heraus.

Robert wurde von allen Seiten beglückwünscht und einstimmig als Besitzer des schönen Felles anerkannt. Doktor Hüsker verstand es, das Abziehen sachgemäß zu leiten und später das Zubereiten und Trocknen selbst zu besorgen, – Robert durfte also mit Recht hoffen, der Mutter daheim in Pinneberg für die kalten Winterabende eine warme, weiche Decke schicken zu können, und darüber freute er sich von Herzen.

Er dankte bescheiden, als ihm das Leopardenfell zugesprochen wurde, aber er war traurig, als man die Pinasse wendete.

Es ging zurück zum Schiff, von dem aus der Kapitän, Freiherr von Schleinitz, inzwischen dem deutschen Konsul, Herrn Brohme, und dem Präsidenten Roberts einen Besuch gemacht hatte. Das Fell des Leoparden wurde allgemein bewundert und von der Mannschaft, besonders von den Kadetten, mit liebäugelnden Blicken betrachtet, aber Robert bewahrte sein Eigentumsrecht, schon um ein Andenken dieses Tages mit nach Deutschland zu bringen.

Am Abend ging es weiter, diesmal nach Ascension, einer kleinen, mitten im Atlantik gelegenen einsamen Insel, die nur angelaufen wurde, um überall auf dem Wege dorthin zu loten und Tiefe und Beschaffenheit des Meeresgrundes möglichst genau festzustellen. Die Fahrt verlief auch diesmal glücklich. Ohne Zwischenfall wurde die kleine Himmelfahrtsinsel erreicht, auf der Robert wieder einmal Berge bestieg, die allerdings wenig bedeutend und nicht gerade interessant waren. Am Strande wurden ein paar riesenhafte Schildkröten als willkommene Zugabe für den Tisch der Mannschaft erlegt, weiter bot das Eiland nicht Bemerkenswertes.

Im Meer aber entdeckte man nördlich von Ascension bei einer Tiefe von 3300 und 3000 Meter zwei verschiedene unterseeische Gebirge von 700 und 1000 Meter Höhe, – eine sehr interessante Beobachtung, die für die Wissenschaft von großer Bedeutung war.

Ein Tag auf Ascension, dann wieder zurück nach Afrika. So ging es kreuz und quer über den Atlantischen Ozean.

Jetzt sollte die Mündung des Kongo erreicht werden, des zweitgrößten Stromes der Erde, dessen Wassermassen selbst die des Mississippi noch bedeutend hinter sich lassen. Der Kongo wurde erst später durch den berühmten Zug des Amerikaners Stanley in seiner ganzen Länge erforscht, damals kannte man nur die Mündung des Flusses, dagegen noch nicht seinen Lauf. Es war der gefährlichen Stromschnellen wegen nicht möglich, weiter als nur etwa dreißig Meilen stromauf zu fahren. Die Mannschaft der „Gazelle“ unter Führung des Kapitäns erreichte auf der Dampfpinasse die holländische Faktorei Boma, wobei zugleich überall gelotet wurde und beide Gelehrte, der Botaniker Stabsarzt Doktor Naumann und der Zoologe Doktor Hüsker, eine reiche Ausbeute machten. Besonders überraschend wirkte auf Robert der Affenbrotbaum, dieser Elefant der Pflanzenwelt. Stämme von 20 Meter Höhe bei einem Durchmesser von 7 Meter, also ganz ungestalte, gleichsam verkrüppelte Gewächse, waren hier nichts Seltenes. Als die unförmigen Zweige, deren Länge von einem Ende zum andern oft mehr als 40 Meter beträgt, an einer Stelle über den Fluß hinauswuchsen, konnten die Matrosen einige reife Früchte mit Handspaken herunterschlagen. Jeder kostete von dem Fleisch, doch nur wenige fanden den süßen Brei einigermaßen eßbar. Interessanter war es schon, als Doktor Naumann erklärte, wie sich die Neger aus den zu Asche verbrannten Schalen der Frucht in Verbindung mit Palmöl eine sehr gute Seife bereiten.

Auf dem Markt von Boma herrschte ein buntes Leben. Die Neger tauschten dort ihre eigenen Produkte gegen europäische Waren, vor allem gegen Alkohol, dem sie sehr verfallen sind. Robert sah plötzlich einen sonderbaren Zug von offenbar Halbbetrunkenen, die alle bei trockenstem Wetter unter bunten Regenschirmen einherzogen und in ihrer Mitte einen Mann führten, der sich laut und gestikulierend wie ein Sieger gebärdete. Alles Volk staunte aus ehrerbietiger Ferne.

Die Europäer erkundigten sich natürlich eingehend und fragten solange, bis ihnen ein alter Holländer die erwünschte Auskunft gab. Unter den Negern dieser Gegend herrscht noch die bis zum vierzehnten Jahr hundert auch in Europa übliche Sitte der Gottesurteile, und zwar durch Anwendung des Hexentrankes. Er wird aus bestimmten, wahrscheinlich in jedem Lande anders gebräuchlichen Bestandteilen zusammengebraut und dem Verdächtigen eingeflößt. Erkrankt oder stirbt der Mann, so ist seine Schuld bewiesen, konnte dagegen, vielleicht vorbereitet, sein Magen dem Angriff widerstehen, so wird er in feierlichem Zuge durch die Stadt geführt und mit allen Ehren freigesprochen. Er ist unschuldig, – Gott selbst hat gerichtet.

Nachdem der Kongo vermessen worden war, ging die ›Gazelle‹ nach Kapstadt. Auf dem Wege bot sich den jetzt schon verwöhnten Seeleuten ein wunderbares Schauspiel. Sie sahen eines Nachts um das Schiff herum das sogenannte Meeresleuchten, das von winzig kleinen, spindelförmigen Tierchen erzeugt wird, die sich zu Millionen an einer Stelle versammeln und das Wasser gleichsam zum Glühen bringen. Der Zug schwamm vorüber, und von Bord wurde mit dem Schleppnetz eine Menge dieser kleinen Tierchen heraufgeholt, ohne jedoch den eigentlichen Wunsch des Zoologen zu erfüllen; denn außerhalb ihres Elementes leuchten sie nicht mehr.

Am 26. September lief die Korvette in die Tafelbai ein, benannt nach dem 1100 Meter hohen Tafelberg, zu dem noch im Westen der Löwenkopf und im Osten der Teufelspik hinzukommen. Kapstadt selbst machte auf Robert keinen andern Eindruck als andere Hafenstädte auch, es herrschte das gleiche Getriebe wie überall, und das Durcheinander von Weißen und Farbigen war ihm ja nichts Neues mehr.

Aber schon nach wenigen Tagen begann die Fahrt nach der Kergueleninsel im südlichen Eismeer, die für die ›Gazelle‹ weniger angenehm und ruhig, wenn auch sonst glücklich verlief. Stürme, hoher Seegang, Nebel und Regenwetter wechselten miteinander ab, doch am 26. Oktober erreichte das Schiff wohlbehalten die Insel und lief in die Bucht von Betsy-Corn ein, dem geschütztesten Ankerplatz, um dort die Astronomen zu landen und sie, so gut es ging, unterzubringen.

Auf Kerguelen wollte der Kapitän etwa vierzehn Tage bleiben, Robert fand daher Gelegenheit, die Insel nach allen Seiten zu durchstreifen, obgleich er nirgends einen besonders schönen Punkt entdecken konnte. James Cook, der bekannte Weltumsegler, nannte Kerguelen einfach das ›Desolationsland‹, das Verzweiflungsland, und wirklich schien es den Leuten von der ›Gazelle‹, als habe er damit das richtige getroffen. Kein Tier außer den Wasservögeln, kein Baum, keine Blume, nur ein riesiges Gewächs, eine Art Kreuzblume, der Kerguelenkohl, der als Gemüse zubereitet wirklich gut schmeckte und dessen Saft Doktor Naumann ein erprobtes Mittel gegen den Skorbut nannte.

Vom Land aus sah Robert wieder Walfische speien, ebenso entdeckte er auch Robben und alle Arten von Seevögeln, jedoch keinerlei jagdbares Wild. Am 12. November begann die ›Gazelle‹ ihre Forschungsreise nach der Westküste der Insel, und von dort wurde unter persönlicher Führung des Kapitäns eine Expedition in das Innere unternommen.

Alles nur Stein und Fels, sonst nichts. Wohl nie vorher hatte ein. Mensch dieses Land betreten, und nur ein Wissenschaftler könnte daran jemals etwas Interessantes finden. Freiwillig würde sich dort nie jemand niederlassen.

Im Osten der Insel wurde ein schmaler Fluß von Basaltblöcken von dreißig Meter Höhe förmlich eingekeilt; es schien unmöglich, auf den einzelnen losgerissenen Felsstücken, über die er seinen Weg nahm, in das Innere dieser nach oben hin ganz verdeckten und verengten Höhle einzudringen, dennoch aber versuchte es Robert, der hier überhaupt bei jedem Schritt an die Eiswüste des Nordpols erinnert wurde, immer wieder. Er war der einzige, der es nicht aufgab, den gefährlichen Weg auf überhängenden Klippen, einzelnen Vorsprüngen und vom Wasser überspülten Steinen doch zu erzwingen. Sollte er denn zum zweitenmal den Lauf eines Gebirgsflusses in rätselhafter Weise aus den Augen verlieren, sollte er wieder, wie damals in Norwegen, das Land verlassen, ohne sein Geheimnis erforscht zu haben?

Er schüttelte den Kopf, als ihn die andern aufforderten, doch davon abzulassen. Es bestand ja keine Gefahr, er wollte es versuchen, – also vorwärts, und noch dazu am liebsten ganz allein. Robert watete oder sprang, dann kroch er auf allen vieren, balancierte an schaurigen Abgründen vorbei oder schwang sich über eine breite Kluft.

Aber was war das? – Er hatte es im stillen erwartet und doch packte es ihn überraschend. Das Wasser versiegte unter seinen Füßen, immer weniger sickerte über die Felsen, bis es plötzlich ganz aufhörte, gerade wie damals am Nordkap. Wo war der Fluß geblieben?

Er sah zurück. Aus einer schmalen Spalte drang Wasser hervor, von rechts und links liefen kleine Adern bis zur Mitte, aber hier oben war alles trocken.

Roberts Herz pochte laut. „In Norwegen lag der See tief unten, und oben rauschte der Wasserfall“, dachte er, „hier verhält es sich umgekehrt. Ich muß hinauf.“

Er sah an dem schneebedeckten Gipfel empor. Bis nach oben war es noch weit, sicherlich ein stundenlanger, beschwerlicher Weg, aber was schadete das? Dort oben mußte der See sein! Ein See, hunderte von Metern über dem Meeresspiegel, – und er sollte Kerguelen verlassen, ohne ihn gesehen zu haben?

Nein!

Proviant hatte er noch genügend in seinen Taschen, der Tag war noch lang und das Wetter frostklar, also vorwärts! Seine ganze alte Entdeckerlust war mit einemmal wieder erwacht.

Der Weg bergauf war steil und mühsam, aber doch nicht so beschwerlich wie das Waten durch das Flußbett. Robert wählte für den Aufstieg die Außenseite des Felsens, wo ganze Strecken ohne große Anstrengung überschritten werden konnten, wenn auch wieder andere mit ihren scharfen Zacken die Kleider zerrissen und die Haut abschürften, so daß er bald an einigen Stellen blutete.

Robert achtete nicht darauf. Immer näher kam er einem Kranz von einzelnen, eigenartig geformten Felsblöcken, die wie Riesennadeln zum Himmel emporstarrten. Sie sahen aus, als ob von ihnen hier oben ein Schatz behütet werde, sie schienen, eng gedrängt und oft merkwürdig geformt, den Eintritt in ein Heiligtum zu verwehren, das noch nie der Fuß eines Menschen berührt hatte, das hoch über der Erde versteckt lag und nur der Sonne als Spiegel diente.

Robert suchte lange nach einem Zugang. Endlich. Hier hingen zwei Blöcke schräg gegeneinander. Mit weiten, faltigen Mänteln und riesigen, von Haubenbändern umgebenen Köpfen sahen sie aus wie plaudernde, uralte Frauen, die sich von der Vergangenheit erzählen. Die eine trug unter dem Mantel eine Krücke, und die andere hielt einen Korb. –

Robert bewunderte das seltsame Naturspiel. Wie von Künstlerhand grob gemeißelt, in riesenhaften Formen, erschienen ihm die Gestalten.

„Laßt mich hindurch, ihr beiden“, lachte er. „So alte Großmütterchen können ja den Enkeln nichts abschlagen.“

Und auf Händen und Füßen kriechend gelangte er, Korb und Krücke streifend, auf die andere Seite. Hier aber wäre er fast in die Tiefe gestürzt. Nur durch einen schmalen Felsvorsprung vom Abgrund getrennt, sah er unter sich, von den Felsen rings umgeben, einen See, dessen Spiegel keine Welle kräuselte. Weiße Kronen von Schnee lagen auf allen Ecken und Vorsprüngen, in jedem geschützten Winkel, im Inneren jeder Spalte, das Wasser aber war blau und rein wie Samt. Am Himmel erschien in diesem Augenblick die Sonne. Wie Millionen funkelnder Diamanten glänzte es da unten, wie eine zweite goldene, leuchtende Kugel spiegelte sich das Tagesgestirn auf dem Wasser.

Robert sah nichts als den Himmel und den See mit seinem Steinkranz. Darüber hinwegzublicken war ganz unmöglich.

Lange blieb er in der kleinen, abgeschlossenen Welt da oben, wo seine Füße kaum stehen konnten und wo es so still und so feierlich wie in einer Kirche war. Er bedauerte beinahe die andern, denen der Weg zu weit und zu mühevoll gewesen war, um ihn freiwillig zu unternehmen. Als er, rückwärts kriechend, mit äußerster Vorsicht und nur um wenige Meter am Abgrund vorbei, wieder aus dem geheimnisvollen Zauberkreis des Felsengürtels hinausgelangte, bot sich ihm nach allen Seiten eine herrliche Aussicht. Die Felsen ringsherum glitzerten und funkelten in der Sonne durch die verschiedenen Gesteinsarten und bildeten die merkwürdigsten Formen, am seltsamsten aber kam es ihm vor, so von oben herab wie ein Kinderspielzeug auf dem Wasser die ›Gazelle‹ liegen zu sehen, deren Masten ihm sonst, wenn er an Deck stand, so schwindelnd hoch vorkamen.

Als er von seinem gefahrvollen Ausflug wieder unten anlangte, hatte er so viel Schönes gesehen, daß ihn seine geschundenen Knie und blutenden Hände nur sehr wenig kümmerten. Doktor Naumann lächelte, als er ihn sah. „Nun, junger Freund, einige Kobolde und Gnomen kennengelernt?“ scherzte er.

„Nur Nixen, Herr Doktor, – da oben ist ein See.“

„Donnerwetter, dann müssen wir ja hinauf, – ich fürchte nur, daß es einen starken Schneefall gibt. Auch das Crosbiegebirge werden wir aus diesem Grunde nicht erforschen können.“

Und so kam es. Die Besteigung dieses bedeutenderen Höhenzuges mußte unterbleiben, wenn sich die Entdecker vor der Gefahr des Eingeschneitwerdens schützen wollten.

Man hatte auch jetzt von der Insel genug gesehen, um mit Sicherheit behaupten zu können, daß hier keine Ansiedlung möglich sei. Wenn im Hochsommer schon ein solches Klima herrschte, – wie sollte es dann im Winter werden?

Die Wissenschaftler und Photographen bezogen wieder ihre Kabinen auf der ›Gazelle‹, die Anker wurden gelichtet und fort ging es, tausend Meilen weit über den Ozean, nach der Tropeninsel Mauritius. Auf dieser Fahrt hatte die Korvette mehrere Stürme zu bestehen, doch wurde das Ziel schließlich ohne ernsthaften Schaden erreicht.

Hier war man wieder mitten in den Tropen. Überall grünte und blühte es, und die Luft war sommerlich warm, eine idyllische kleine Welt, die nur monatlich einmal von einem Dampfer besucht wird. Die Tiefenlotungen waren unterwegs fortgesetzt worden, Kohlen und Lebensmittel eingenommen, die Briefe zur Post gegeben und der ausgebrannte, völlig mit Wald überwachsene Krater im Innern der Insel von Robert und mehreren anderen einer Besichtigung unterzogen, dann dampfte die ›Gazelle‹ wieder weiter, mit Kurs auf Australien. Hier kam Robert nicht von Bord, da nur die Haifischbai und der Dampiersarchipel ausgelotet werden sollten.

Interessanter waren dagegen die Sunda-Inseln, und zwar vor allem Timor, das schon ein mehr asiatisches Gepräge trägt.

Es wurden nun nacheinander in viermonatlicher, beschwerlicher Fahrt auf lauter Nebenrouten und bisher wenig befahrenen Schifffahrtswegen die Melanesischen Inseln genauer durchforscht, wobei man weniger auf Naturgeheimnisse und Naturschönheiten ausging, sondern hauptsächlich neue Verkehrswege und günstige Ankerplätze ausfindig machen wollte oder Tiefenlotungen vornahm.

Gelandet wurde zuerst auf Neuguinea und den drei kleinen Anachoreteninseln, wo Roberts altes Interesse an der Reise wieder auflebte, als man mit den Eingeborenen in Berührung kam. Wie die Schwarzen Afrikas trugen sie als einziges Kleidungsstück einen Lendenschurz, sie besaßen jedoch wohleingerichtete Kokospflanzungen und Kanus mit Segel und Masten, im übrigen zeigten sie sich, nachdem die erste Scheu überwunden war, als harmlose, friedliche Menschen, die mit der Mannschaft der ›Gazelle‹ einen lebhaften Tauschhandel anfingen und gern die Produkte ihrer Heimat gegen Messer, Scheren, Knöpfe und Nadeln an die Deutschen abließen. An der Südküste von Neu-Hannover wohnte ein ganz anderer Menschenschlag. Diese Wilden liefen vollständig unbekleidet herum, es waren schwarzbraune, gut gewachsene Gestalten mit rot oder gelb gefärbtem kurzem Haar, geschlitzten Ohrläppchen, Muscheln in den Ohren und am Hals und bunten Armbändern. Als sich die Korvette der Küste näherte, stürzten sich sämtliche Männer in die Kanus, um das fremde Wunderding aus nächster Nähe zu sehen, während am Ufer die Frauen schreiend, hüpfend und sich wie toll gebärdend zurückblieben. Aber schon sehr bald konnten auch sie ihre Neugier nicht mehr bezähmen, – sie sprangen ohne weiteres ins Wasser und schwammen den Booten nach, waren aber ebensowenig wie die Männer zu einem Besuch an Bord zu bewegen.

An der entgegengesetzten Seite derselben Insel kam es mit den Eingeborenen sogar zu einem ernstlichen, wenn auch nur kurzen Streit. Hier sollte ein Fluß ausgelotet werden, und da die Korvette selbst einen zu großen Tiefgang hatte, mußte die Dampfpinasse die Mündung hinauffahren und dabei auch mehrere von den Wissenschaftlern am Ufer absetzen, um die Pflanzen- und Tierwelt der Insel zu erkunden. Als aber ein kleines Boot, das den Verkehr mit dem Schiff aufrecht erhielt, zufällig einige Minuten lang unbewacht blieb, wurde es von den Eingeborenen gänzlich geplündert; als die Matrosen zurückkehrten, waren Lebensmittel und Ausrüstungsgegenstände verschwunden, ohne daß sich einer der Wilden gezeigt hätte.

Am folgenden Tage, als die Besatzung im Flußwasser ihre Wollkleidung gründlich gereinigt und zum Trocknen zwischen den Bäumen aufgehängt hatte, kamen die Eingeborenen, jetzt schon dreister geworden, in hellen Haufen heran und vertrieben durch einen Hagel von Steinen die friedlich beschäftigten Matrosen, wobei sogar zwei ernstlich verwundet wurden.

Von der Dampfpinasse antwortete sofort das kleine Bootsgeschütz, und daraufhin zogen sich die Wilden, offenbar sehr eingeschüchtert, zurück. Am andern Tage jedoch zeigte der ohrenzerreißende Lärm ihrer Kriegsinstrumente, daß sich die verschiedenen Stämme sammelten und offenbar Feindseligkeiten planten.

Kapitän von Schleinitz beschloß, dem zuvorzukommen.

Er selbst stellte sich an die Spitze von vierzig Mann, die alle ausreichend bewaffnet waren, und dann wurde der Zug nach den nächsten Dörfern unternommen. Natürlich befand sich unter der kleinen Schar auch Robert, der diesmal jedoch seine Erfinderfreude teuer bezahlen mußte.

Um an das Dorf heranzukommen, mußte zuerst das hohe, von Gestrüpp und Schlingpflanzen bedeckte Ufer erklettert werden, die Matrosen sahen sich gezwungen, ihre Waffen und Patronen während des beschwerlichen Marsches über den Köpfen zu tragen, und als endlich die jenseitige Anhöhe erreicht war, da starrte das gestern gewaschene Zeug von Schlamm und Schmutz, es war vollkommen durchnäßt und erschwerte sehr unangenehm den Marsch in das Innere der Insel.

Aber die Blaujacken verloren ihren Mut nicht. Ein Lied verkürzte die Zeit und half über alle Belästigungen hinweg.

Zugleich mit dem vor einer Anhöhe gelegenen Dorf, das von aller Schönheit tropischen Pflanzenwuchses umgeben war, sahen die Deutschen einen Haufen von etwa zweihundert Wilden, die alle mit Speeren, Keulen und Schleudern bewaffnet waren, sich aber sehr zurückhielten und sogar bei Annäherung der geschlossen marschierenden kleinen Schar langsam zurückwichen. Nur vier alte Männer, jedenfalls Häuptlinge, blieben vor dem Dorfe auf einigen Steinen sitzen und erwarteten die Fremden.

Herr von Schleinitz, der selbstverständlich die Angelegenheit so rasch und einfach wie möglich zu beenden wünschte, ließ an eine lange Stange ein weißes Tuch binden und ging dann, nur von einem Matrosen als Adjutanten begleitet, zum Dorf hinab.

Schon von weitem versuchte er den Eingeborenen begreiflich zu machen, daß er sprechen, unterhandeln, aber nicht kämpfen wolle.

Die Wilden mußten offenbar verstehen, was das weiße Tuch bedeuten sollte, sie banden schleunigst ein junges Huhn an einen Stock und trugen diese sonderbare Fahne dem deutschen Kapitän entgegen. Damit war auch von ihrer Seite die Zusammenkunft als friedlich anerkannt worden.

Herr von Schleinitz nahm höflich dankend, aber durchaus ernst und hoheitsvoll das Geschenk in Empfang und vergalt es sofort durch Überreichen eines Stückes Uniformtuch, das schon zu diesem Zweck von Bord her mitgebracht worden war.

Dann aber, nachdem die Insulaner ihr Entzücken in kindischer Weise zu erkennen gegeben hatten, bedeutete ihnen der Kapitän mit Hilfe der Gebärdensprache, daß er bestohlen worden sei und die Rückgabe des geraubten Gutes unbedingt verlange. Er fragte, ob die Häuptlinge von diesem Diebstahl Kenntnis erhalten hätten.

Die Antwort war natürlich ein Nein.

Herr von Schleinitz zuckte die Achseln. Dann nahm er die Pistole und schoß vor den Augen der vier Häuptlinge einen jungen Baum durch den Stamm, so daß weißer Saft aus dem Einschußloch hervorquoll; hierauf deutete er mit der Rechten auf die in einiger Entfernung stehenden Soldaten, als wolle er sagen: „Die dort verstehen alle das Gleiche und werden euch empfindlich bestrafen, wenn ihr nicht das gestohlene Gut sofort herausgebt.“

Die Wilden sahen in großer Angst auf den getroffenen Baum. Sie berieten leise untereinander, gaben offenbar heimliche Befehle in das Dorf hinauf und bemühten sich, eine freundliche Miene zur Schau zu tragen. Nach kurzer Zeit näherte sich ein junger Bursche, der die gestohlenen Dinge im Korb am Arm trug und dem Kapitän zu Füßen legte, worauf er sich mit Hasensprüngen wieder entfernte, offenbar sehr froh, der Gefahr so glücklich entronnen zu sein. Das laute Gelächter der Seeleute folgte ihm nach.

Herr von Schleinitz hatte inzwischen den Korb durchsucht und wandte sich jetzt achselzuckend an die Wilden. „Das ist noch längst nicht alles“, sagten seine Gebärden, „es fehlen verschiedene Instrumente und andere Kleinigkeiten. Wir wollen eure Hütten in Brand stecken, um euch zu bestrafen.“

Das wirkte. Die Häuptlinge baten, das geraubte Gut den Weißen wieder zuschicken zu dürfen; sie wollten selbst im Dorf eine Haussuchung vornehmen und ihr Möglichstes tun, um alles Verlorene herbeizuschaffen. Man möchte nur ihre Wohnungen verschonen.

Herr von Schleinitz erklärte sich mit diesem Angebot durchaus einverstanden, und die Seeleute konnten den Rückmarsch antreten, ohne von ihren Waffen Gebrauch gemacht zu haben, was allerdings einigen unter ihnen gar nicht recht war, da doch im Lazarett der Korvette die beiden verwundeten Kameraden noch immer in ihren Verbänden lagen und einer sogar eine tüchtige Stirnwunde davongetragen hatte. Wie maßvoll und gerecht jedoch der Kapitän vorgegangen war, mußten auch die Kampflustigen anerkennen. Wozu wäre es gut gewesen, den hilflosen, schlecht bewaffneten Wilden, die doch als harmlose Naturkinder kaum einen Begriff von Recht und Unrecht haben konnten, – hier wegen einiger Vergrößerungsgläser, Schleppnetze und Lotungsapparate eine blutige Lehre zu geben?

Die armen, ahnungslosen Wilden wären dadurch nicht belehrt, sondern nur gekränkt worden; für die Weißen aber wäre es nicht gerade rühmlich gewesen, ihre zehnfache Überlegenheit an primitiven Eingeborenen erprobt zu haben!

Als die Soldaten an das Ufer zurückkamen, fanden sie sämtliche gestohlenen Gegenstände schon vor. Jedenfalls hatten die Insulaner, um sich keiner Gefahr auszusetzen, auf Nebenwegen irgendeinen schnellfüßigen Burschen entsandt und auf diese Weise keinen als den Schuldigen gekennzeichnet. Von Bord der Korvette war beobachtet worden, wie mehrere Schwarze aus dem Gebüsch hervorkrochen, schleunigst die Sachen in das Gras legten und wieder verschwanden.

Das Ansehen des Deutschen Reiches war also gewahrt worden, man hatte den Diebstahl gerügt und Rückerstattung des Geraubten erlangt, – Herr von Schleinitz hatte durchaus vorbildlich gehandelt.

Nachdem diese Angelegenheit erledigt war, nahm die Korvette zunächst Kurs auf Neu-Irland und die umliegenden Inseln, wobei jedoch zu Roberts großer Enttäuschung eine Berührung mit den Eingeborenen gänzlich oder doch soweit wie möglich vermieden wurde. Es lebten nämlich auf diesen Inseln damals noch Menschenfresser, daher hielt sich Herr von Schleinitz einem Zusammenstoß mit diesen Stämmen möglichst fern. Die Reise der ›Gazelle‹ diente ja allein wissenschaftlichen Zwecken, so schien es das Klügste, derartigen unangenehmen Zwischenfällen schon von vornherein aus dem Wege zu gehen.

Für Robert war diese Maßnahme um so betrüblicher, als er sehr viel Reizvolles darin fand, mit Wilden in Berührung zu kommen und in die Geheimnisse ihrer Sitten und Lebensgewohnheiten einzudringen. Er mußte hier so ziemlich auf alles Erhoffte verzichten, da von seiten der Gelehrten nur Vermessungen und Beobachtungen angestellt wurden, ohne jedoch dabei die Menschen einzubeziehen.

Einige Stämme, zum Beispiel beim Passieren der Byronstraße, zeigten sich herausfordernd und feindselig, während andere durchaus friedlich waren, sogar eigene Landwirtschaft betrieben und den Weißen mit harmloser Vertraulichkeit entgegenkamen. Besonders auf den Salomo-Inseln wurden Fleisch, frische Früchte und Gemüse von den Bewohnern in Kanus an Bord gebracht, wofür dann Kleidungsstücke und sonstige Kleinigkeiten als Zahlungsmittel dienten.

Auf Neu-Britannien hatte die ›Gazelle‹ eine eigentümliche Mission zu erfüllen. Vor langen Jahren waren auf dieser Insel gegen die Handelsniederlassungen der hamburgischen Firma Godeffroy die gröbsten Gewalttätigkeiten verübt worden, und man wollte jetzt die Wilden vor etwaigen Wiederholungen warnen. Da inzwischen einige Jahre vergangen waren und im übrigen niemand an Bord die Sprache der Eingeborenen verstand, begnügte sich Herr von Schleinitz damit, an eben der Stelle, wo damals Mord und Brandstiftung stattgefunden hatten, auch jetzt wieder einen Haufen brennbarer Gegenstände anzünden und einige Salven abfeuern zu lassen. Als die Wilden sahen, welche Verheerungen unter Bäumen und Sträuchern die Kanonenkugeln anrichteten, erschraken sie so sehr, daß ihnen die eiligste Flucht als bestes Schutzmittel erschien. Sie verschwanden wie in den Boden hinein.

Von hier aus fuhr die ›Gazelle‹ nach den Auckland-Inseln, wo jede Spur einer Bevölkerung fehlte. Die Forschungen der Wissenschaftler konnten zwar ohne Störung betrieben werden, doch ergaben sie keine besonders lohnende Ausbeute.

Die ›Gazelle‹ hat aber in bezug auf Hafenplätze und Tiefenlotungen gerade hier das Wesentlichste für die Schiffahrt geleistet, andererseits erfüllte sie ihre Mission als Repräsentant des Deutschen Reiches bei vielen Fürsten der wenig bekannten, bisher immer übersehenen kleinen Inselreiche des Stillen Ozeans.

In Levuka, der Hauptstadt der Insel Viti-Levu, der größten Fidschi-Insel, verkehrten die Offiziere der Korvette in äußerst freundschaftlicher Weise mit dem regierenden Landesherrn, König Thakembau, der sich durchaus als denkender und gebildeter Mann erwies und der auch seinerseits mehrere Male als Gast an Bord der Korvette empfangen wurde. Beim Abschied blieb er bis zum Augenblick des Ankerlichtens und konnte sich erst trennen, als die Maschine in Tätigkeit trat.

Von den Fidschi-Inseln ging die Korvette nach den Tonga-Inseln, auf denen hellfarbige und kulturell auf einer höheren Stufe stehende Menschen leben. Wie ganz Australien, leidet auch diese Inselgruppe an Wassermangel; es gibt nur wenige Tiergattungen, aber einen verhältnismäßig ausgedehnten Pflanzenwuchs. Dagegen haben aber die Bewohner schon feste Häuser, sie arbeiten und sind kulturell die höchststehenden unter allen Völkern auf den Inseln des Stillen Ozeans.

Auch hier sah Robert einen farbigen Fürsten, den siebzigjährigen König Georg. Der alte Herr empfing äußerst höflich die Vertreter des Deutschen Reiches, dankte für den Besuch und lud seine Gäste zur Tafel, wobei ein Missionar als Dolmetscher diente. Am Nachmittag machte er an Bord der Korvette einen offiziellen Gegenbesuch, der von Seiten der Mannschaft mit einer Ehrensalve von einundzwanzig Kanonenschüssen begrüßt wurde, worauf sogleich an Land die beiden einzigen vorhandenen Geschütze den Salut erwiderten. Zu Ehren des Fürsten hielt man an Bord eine Parade ab und gab ein Essen, bei dem Herr von Schleinitz ein Hoch auf König Georg ausbrachte. Die Rede des Fürsten, bescheiden und dankbar, aber doch seine Würde als Landesherr vollständig wahrend, zeigte einen denkenden, für das Wohl seiner Untertanen eifrig besorgten Monarchen, der seiner Freude Ausdruck gab, mit Deutschland die besten Beziehungen angeknüpft zu haben und auch weiter noch knüpfen zu können, indem er den deutschen Auswanderern allen nur möglichen Schutz gewähre und sie den Eingeborenen des Landes in jeder Beziehung gleichstelle.

Auf ihre Fragen erfuhren die Offiziere, daß die Deutschen auf den Tongainseln vor allem mit Kobra handeln, den zerschnittenen Kernen der Kokosnuß, die dort in großen Wäldern wächst und den bedeutendsten Ausfuhrartikel darstellt. Es lagen auch gleichzeitig mit der ›Gazelle‹ noch sieben europäische Schiffe im Hafen, die gerade eine Ladung Kobra übernahmen.

Von hier ging die Korvette nach den Samoa-Inseln und war nun wieder ganz vom Zauber der Tropenwelt umgeben. Am 24. Dezember warf die ›Gazelle‹ im Hafen von Apia auf Upolu Anker, und die Mannschaft erhielt Erlaubnis, an Land zu gehen und dort den Weihnachtsabend zu verbringen.

Das war eine eigenartige Feier. Die Matrosen konnten sich nicht entschließen, in den Wirtschaften zu sitzen, zu trinken und zu tanzen wie sonst, wenn sie nach langer Fahrt zum erstenmal wieder Land betraten. Sie alle waren ja einmal Kinder gewesen, die am Weihnachtsabend um den Tannenbaum standen und mit glücklichen Augen den Glanz seiner Kerzen sahen, sie alle hatten ja daheim ihre Lieben und wußten, daß deren Gedanken jetzt bei ihnen waren, – kein einziger war ausgelassen oder beging irgendwelche kleinen Tollheiten, die sonst zum Leben eines Matrosen an Land nun einmal gehören.

Auch Robert war sehr ernst gestimmt. Er sah die Farbenpracht tropischer Wälder mit ihren bunten Blüten, aber er dachte an die heimatlichen Tannen. Er glaubte den Harzgeruch zu spüren, sah die kleinen, bescheidenen Lichter und die vergoldeten Früchte und erkannte das niedere Zimmer im Elternhause, – und auch die Gesichter der beiden lieben alten Leute wurden vor seinen Augen lebendig; die Mutter, die vielleicht jetzt weinend an ihren einzigen Sohn dachte, der Vater, den er nun nicht mehr wiedersehen würde.

Es beengte ihm die Brust, – er mußte etwas sagen.

„Jungens“, sagte er, „wollen wir uns einen Christbaum machen?“

Mehrere Stimmen antworteten zugleich, und alle waren einverstanden. „Daran dachte ich längst!“ rief Gerber. „Die Fremde ist doch immer die Fremde, – man wird ganz weinerlich, wenn einen so die Erinnerungen an die alte Heimat überfallen.“

„Aber einen Tannenbaum gibt's in ganz Apia nicht!“ meinte ein anderer.

„Was schadet das? Grün ist Grün, und Lichter hat man ja auch hier.“

Und so kam es. Die Matrosen besorgten sich ein stattliches, mit Blüten und Früchten bedecktes Brotfruchtbäumchen, das mit seinen Wurzeln aus dem Boden gehoben und in einen großen Kübel gestellt wurde. Dann ging es an den Baumschmuck.

Jeder einzelne der ganzen Schar brachte seine Lichter in Gedanken an die lieben Angehörigen daheim in Deutschland, jeder erzählte von den Weihnachtsabenden früherer Jahre und wie die Kinderzeit so schön gewesen sei und so glücklich – –

„An Land möchte man nicht leben“, sagte Gerber, „wahrhaftig, ich hielte es nicht aus ohne die See, aber es ist doch eigenartig, so Jahr für Jahr über die Meere zu fahren und nur selten für wenige Tage unter Menschen ein Mensch zu sein. Wenn ich jetzt nach Hause komme, finde ich lauter fremde Gesichter, – meine alte Mutter starb, seit wir von Kiel fortgingen, und zwei Schwestern haben geheiratet, – es ist alles anders geworden.“

Robert legte ihm die Hand auf die Schulter. „Keine trüben Erinnerungen, Gerber“, sagte er ermunternd. „Wir wollen singen, das macht das Herz frei. Kinder noch einmal, wir sind ja doch jetzt auf der Heimreise, also warum denn erst traurig werden?“

Die Bowle, wunderbar nach tropischen Früchten duftend, wurde gebracht, und unter dem eigenartigen Weihnachtsbaum entfaltete sich ein buntes Bild. Die Matrosen, saßen und lagen um den Tisch, Zigarrenrauch erfüllte den Raum, und zwischen den Lichtern blühte es und trug reife Früchte am eigenen Stamm. Die Gesichter der Eingeborenen sahen von draußen herein, horchten mit Erstaunen den Klängen der deutschen Sprache und summten im Takt die Melodie, ohne den Wortlaut zu ahnen:



„O du fröhliche,

O du selige,

Gnadenbringende Weihnachtszeit“

Es war ein schöner und froher Weihnachtsabend, den die Matrosen von der ›Gazelle‹ im fernen Apia verlebten. Erst gegen Morgen kehrten die jungen Leute zum Schiff zurück, singend, fröhlich und bepackt mit allen möglichen guten Dingen, um an Bord die Armen von der schwarzen Liste, die Wache gehalten hatten, jetzt nachträglich noch zu bewirten. Sie erschienen wie die leibhaftigen guten Geister des Weihnachtsabends und brachten die Festfreude auch zu den armen Missetätern, die einmal auf das frischgescheuerte Deck gespuckt, in der Nähe des Großmastes laut gelacht oder vielleicht sogar eine Stenge ungeschmiert gelassen hatten, wofür ihnen dann die Strafwache unweigerlich zugefallen war.

Am folgenden Tage ging es an eine Besichtigung der Umgebung. Soviel tropische Schönheit wie hier hatte Robert kaum an irgendeinem anderen Ort der Welt gesehen. Die ganze kleine Insel glich einem Garten, in dem die einzelnen Ansiedlungen zerstreut unter den Bäumen dalagen. Deutsche Handelshäuser haben für die Bedeutung der Insel sehr viel getan. Sie betrieben den Ankauf der einheimischen Erzeugnisse und beschäftigten durch Pflanzungen von Kaffee, Mais, Baumwolle und Kokosnüssen viele Hunderte von Arbeitern.

Robert fand bei einem Streifzug, den er mit andern unternahm, auf Upolu keinen eigentlichen Urwald mehr, aber er bereicherte seine Sammlung von Mineralien und erstieg wieder Gebirgszüge, von wo aus er herrliche Fernsichten hatte.

Und dann, nach kurzem Aufenthalt, lichtete die ›Gazelle‹ ihre Anker und nahm Kurs auf die Heimat.

Um die Südspitze Amerikas herum, durch die Magelhaensstraße, durch die Robert, wie wir wissen, schon einmal gekommen war, ging jetzt die Fahrt von der Südsee in den Atlantischen Ozean, vorher aber gab es noch eine unerwartete Begegnung.

Nach einer schnellen und glücklichen Reise lief die ›Gazelle‹ am Neujahrstage in die Magelhaensstraße ein und traf dort überraschend die Korvette ›Vineta‹, die von Deutschland kam.

An dem großen Korallenriff, das Robert schon von seiner Reise von Bergen nach San Franzisko her kannte, lag die ›Gazelle‹ beigedreht, um eine nähere Untersuchung des Riffs von der Pinasse aus vorzunehmen, als plötzlich vom Ausguck her der freudige Ruf „Schiff in Sicht an Backbord!“ alle Matrosen und sogar die gelehrten Herren in Aufregung versetzte. Die Magelhaensstraße wird von Handelsschiffen nur in Fällen eintretenden Wassermangels befahren, es war daher schon immer ein kleines Ereignis, hier einem Schiff zu begegnen.

Als man im Topp des herankommenden Fahrzeuges die deutsche Flagge erkannte, erscholl fast gleichzeitig hüben und drüben ein lautes, freudiges Hurra der Mannschaft. Kanonendonner erfüllte die Luft, beide Schiffe legten sich möglichst nahe nebeneinander, und dann wurden Boote ausgesetzt, um die gegenseitigen Beziehungen so eng wie möglich zu gestalten. Landsleute fanden sich, Freunde und Bekannte freuten sich über das unverhoffte Wiedersehen, der eine erzählte und der andere hörte zu, kurz, es war ein Fest, das hier auf See gefeiert wurde. Die Wissenschaftler machten eine reiche Ausbeute von besonders schönen, seltenen Korallen, von Muscheln, Schnecken und Fischen sowie einer Anzahl Insekten der verschiedensten Arten; die Matrosen erhielten einen freien Tag und eine außergewöhnliche Ration Grog, die Offiziere endlich konnten politisieren, über dienstliche Angelegenheiten sprechen und alte Erinnerungen austauschen.

Am folgenden Tag trennten sich die Schiffe, die Mannschaft der ›Vineta‹ gab den heimkehrenden Kameraden noch Briefe und Grüße mit auf den Weg, und die ›Gazelle‹ steuerte der Heimat zu.

Nach fast zweijähriger Abwesenheit erreichte sie ohne Zwischenfälle im April den Hafen von Kiel. Man würdigte beim Empfang der Korvette nicht nur die Verdienste der Wissenschaftler bei der Erforschung kürzerer und sicherer Seewege, sondern auch die einmalige seemännische Leistung von Kommandant und Besatzung.

Und hier nehmen wir von Robert Abschied. Wir folgten ihm auf seinem Lebensweg über alle Länder der Erde. Das Schicksal ließ ihn durch eine harte Schule gehen, doch er hat seine Lehren beherzigt, er hat an sich gearbeitet und gelernt, seinen Eigensinn und seinen Trotz, die ihn einstmals aus dem Elternhaus forttrieben, zu beherrschen.

Eins aber bewahrte sich Robert in all den Jahren: seine Liebe zur See. Nach längerer Ruhezeit, die er zu Hause bei seiner alten Mutter verbrachte, zog er noch einmal als Bootsmannsmaat hinaus. Dann ging er nach Hamburg auf die Seefahrtschule und legte dort sein Steuermannsexamen ab. Als Kapitän eines großen Seglers ist Robert noch lange Jahre über alle Meere gefahren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert der Schiffsjunge