14. Mit der Gazelle nach Westindien

14. Mit der „Gazelle“ nach Westindien.

Die Korvette „Gazelle“, auf der Robert jetzt seinen Dienst als Bootsmannsmaat antrat, war ein bedeutend größeres Schiff als das Kanonenboot „Meteor“. Eine Korvette hatte damals auf dem Oberdeck zwei Geschütze schweren, in der Batterie zwanzig mittleren und sechs Geschütze leichten Kalibers. Sie war etwa 60 m lang und 15 m breit und hatte einen Tiefgang von 6 Metern. Die Besatzung bestand aus etwa 380 Mann. Gegen die 65 Leute des „Meteor“ war das eine bedeutende Veränderung, und Robert sagte sich, daß dementsprechend auch der Dienst an Bord strenger und die Bedeutung der geplanten Expedition wichtiger sein müsse als die des Kanonenbootes, natürlich abgesehen von dem Gefecht mit dem „Bouvet“ auf der Reede von Havanna.


Eine Korvette diente damals meist als Stationsschiff in den Häfen halbzivilisierter Völker zum Schutz dort ansässiger deutscher Staatsangehöriger. Da die „Gazelle“ gleichzeitig als Schulschiff für Seekadetten Dienst tat, so herrschte an Bord desto größere Ordnung und Disziplin, die Roberts Geduld oft auf harte Proben stellte.

Es wurde ihm nicht leicht, aber er gewöhnte sich allmählich daran, und als das Schiff in die Tropen kam, als er jeden Tag Neues und Fremdartiges sah, waren die kleinen Sorgen des Anfangs bald überwunden. Er konnte jetzt wieder mit zehn oder zwanzig Kameraden die Küsten der Inseln durchstreifen und frische Früchte sammeln, hier und da auf die Jagd gehen oder mit den Eingeborenen verhandeln, er lernte in den Städten die Lebensweise fremder Völker aus nächster Nähe kennen und bereicherte nach Möglichkeit seine Sprachkenntnisse.

Von seinen Eltern und den Freunden im Hochgebirge der Sierra Nevada erhielt er häufig Briefe, die er alle sorgfältig aufbewahrte. Im Hafen von Haiti erwartete ihn sogar ein kleines Päckchen, und als er es öffnete, war die Freude groß.

Eine Photographie hatten sie ihm von Stockton aus geschickt, und keiner fehlte darauf. Da standen sie nebeneinander, der liebe alte Mongo mit seinem schwarzen, ehrlichen Gesicht, der Trapper, auf die lange Büchse gestützt, ernst und ruhig wie immer; ihm zu Füßen die beiden Hunde und im Hintergrund die Indianer, halb scheu, halb neugierig, jedenfalls von dem Gedanken der Zauberei völlig durchdrungen und in diesem Augenblick ihrer Würde so ziemlich beraubt. Und dann erst erkannte er Gottlieb. Robert lachte laut, als er die Veränderung seines schüchternen, schmalen Gesichtes sah. Das Haar bis auf die Schultern herabhängend und mit langem Bart, glich der junge Goldsucher in seinem Lederanzug und den derben Stiefeln einer Art von Urmenschen. Das wußte er auch und sagte es selbst. „Ich will mich dir noch in meiner ganzen Wildnispracht zeigen“, schrieb er, „in einer Gestalt, die ich in wenigen Stunden für immer ablegen werde. Wir sind auf dem Wege nach San Franzisko, wir kehren zu zivilisierten Menschen zurück, als reiche Leute, Robert, aber das ganz im Vertrauen gesagt! – Deshalb, bevor ich den alten Menschen wieder anziehe, nimm noch ein Andenken an die Vergangenheit, in der wir miteinander gelebt haben. Jetzt, da es überstanden ist, möchte ich doch die Erinnerung daran nicht verkaufen!

Bei ein paar Krämern bin ich hier in Stockton schon gewesen und habe heimlich das Handwerk gegrüßt. Aber man muß sich ihrer schämen, der Schmutz liegt in den Ecken, man schenkt Branntwein aus, die Leute sitzen auf allen Kisten und Tonnen, man streckt die Beine in lümmelhafter Weise von sich und spuckt, wie es einem Spaß macht, auf den Fußboden.

Ich kehre zurück nach Deutschland, Robert, – im Ledergürtel stecken die Wechsel – hurra, nach Deutschland!“

Robert konnte sich von dem Anblick des Bildes kaum trennen. Der Jaguar und Mongo und die beiden großen gelehrigen Hunde, – sie weckten in ihm die Erinnerung an viele schöne Tage.

Er steckte die Aufnahme zu sich und suchte dann in der nächsten Straße ein Wirtshaus. Es war drückend heiß an diesem Tage. Große schwarze Regenwolken verdeckten die Sonne vollständig, und die Luft lag wie Blei auf der Brust. Kein Windhauch regte sich, die Blätter an den Bäumen hingen schlaff herab, und die Tiere verhielten sich scheu und teilnahmslos.

Robert suchte mit noch einigen anderen Matrosen von der ›Gazelle‹ Schutz unter einem großen Leinwandzelt, das einladend mitten in einem Garten lag. Dort wurden Flaschen aufgefahren, deutsche und englische Zeitungen herbeigebracht und nach Herzenslust ›gekneipt‹. Es war heute der letzte Tag an Land, und das mußte noch wahrgenommen werden. Morgen sollte die Korvette wieder in See stechen.

Das Bild von Stockton ging von Hand zu Hand. Roberts Abenteuer, von denen er sonst nie viel sprach, wurden bei dieser Gelegenheit lebhaft erörtert, auch die andern frischten so manche Erinnerung an eigene Erlebnisse wieder auf, und es ergab sich eine sehr angeregte Unterhaltung, bei der die jungen Leute ganz übersahen, daß sich der Himmel immer dunkler färbte und einzelne Blitze die Luft zerrissen.

Deutsche Lieder wurden gesungen, heitere Scherzworte den Vorübergehenden nachgerufen, sobald sie irgendwie die Neckerei der ausgelassenen Schar herausforderten, und lautes Lachen klang vom Zelt herüber bis zum nahen Hafen, wo die Schiffe aller Nationen friedlich vor Anker lagen.

Da erschien plötzlich bleich wie ein Gespenst der Wirt, ein brauner, magerer Spanier, unter dem Eingang des Zeltes und rang jammernd die Hände. „Madre de dios“, stammelte er, seine eigene Sprache und ein schlechtes Englisch bunt durcheinander mischend. „Señores, es kommt, es kommt, – alle vierzehn Nothelfer beschützen uns – flieht, flieht!“

Die Matrosen sprangen unwillkürlich von ihren Sitzen auf. „Was kommt?“ wiederholten sie. Und einige meinten: „Der Bursche hat den Sonnenstich!“

„Betet!“ ächzte der Wirt. „Betet! – San Christophoro, Santa Anna, Santa Barbara –“

„Der Kerl ist verrückt!“

Aber im nächsten Augenblick verstummten alle derartigen Bemerkungen. Ein Wirbelwind, urplötzlich und völlig unvorbereitet für jeden, dem die klimatischen Verhältnisse der Insel fremd waren, ergriff das Zelt, dessen Pfähle wie Streichhölzer zerbrachen und dessen Leinwanddach, gewaltig aufgebauscht, mit donnerartigem Krachen zerplatzte. In weniger als einer Minute lagen sämtliche Männer am Boden, während Tische und Stühle wie lose Blätter vom Sturm entführt wurden. Überall im Garten knickten und krachten die Zweige der Obstbäume, wurden ganze Sträucher mit den Wurzeln aus dem Boden gerissen und die Früchte wie von einem Hagelschauer auf die Erde geschleudert.

„Laßt uns ins Haus laufen!“ rief Robert und raffte sich auf. „Diese Staubmassen ersticken einen ja förmlich!“

Der Wirt, auf seinen Knien liegend, das Gesicht in den Händen verborgen, krümmte sich, als ob er an Krämpfen litte. „Nicht in das Haus! Santissima virgin, – nicht in das Haus!“ schrie er.

Inzwischen hatte sich die Straße mit Menschen belebt. Überall stürzten Männer und Frauen aus den Türen, schreiend, gestikulierend, die Heiligen anrufend, gänzlich fassungslos wie der Wirt selbst.

Hoch in der Luft hörte man ein Sausen und Heulen; es rollte wie ferner Donner. Vor einem Wagen, der gerade in der Nähe stand, scheuten die Pferde, rissen sich los und stürmten, die Verwirrung nur noch steigernd, durch die menschenbelebte Straße.

Und dann kam das Erdbeben. Mit hohlem Rauschen stieg vor den Augen der Matrosen, die See von Minute zu Minute höher, die Schiffe rissen an ihren Ankerketten, und dann plötzlich hob und senkte sich die Erde wie eine atmende Menschenbrust.

Es war unmöglich, aufrecht zu stehen. Schwindelnd und kaum noch ihrer Sinne mächtig, ließen die deutschen Matrosen das Unvermeidliche über sich ergehen, während ringsum die Südländer in ihrer Lebhaftigkeit durcheinanderschrien oder laut beteten. Nur als Robert, blaß und wie von einem Anfall der Seekrankheit geschüttelt, zufällig den Kopf hob und sah, daß an der Hafenmauer die Boote von den Pfählen gerissen und in das hochgehende Meer hinausgetrieben wurden, raffte er sich gewaltsam auf.

„Kameraden, unsere Jolle, – unsere Jolle!“

Er versuchte zu gehen, fiel dabei und versuchte es noch einmal, bis endlich das Beben etwas abzunehmen schien und Ruhe eintrat. Bevor jedoch die Matrosen, taumelnd wie Schwerbetrunkene, bis an die Ufertreppen kamen, hatte sich das kleine Fahrzeug bereits losgerissen und wurde von den zischenden, kochenden Wellen wie eine Nußschale herumgeworfen.

Robert sprang schnell entschlossen ins Wasser und schwamm mit langen Stößen der Jolle nach.

Vergebens riefen vom Ufer die andern, er hörte nicht. Dicht vor ihm, kaum noch erkennbar im letzten Dämmerlicht des sinkenden Tages, schaukelte auf den Wellen das Boot, das ihm anvertraut war und das er erreichen wollte. Sein leidenschaftlicher Eigensinn hatte ihn einmal wieder gänzlich mit sich fortgerissen.

Hart unter den Bug eines spanischen Schiffes ging die Jagd. Robert schwamm, so schnell er konnte, alle seine Kräfte waren zurückgekehrt, sein Kopf klar und seine Arme spürten keine Müdigkeit. Die Jolle schien unter dem Fallreep des Spaniers einen Augenblick lang still zu liegen, sie drehte sich und schaukelte, ohne vorwärts zu kommen. Robert streckte schon die Hand aus, um sie zu erfassen.

Aber der nächste Windstoß entführte ihm seine Beute. Ein anderes kleines Boot schoß unmittelbar neben ihm durch das Wasser, dessen grünschillernde Oberfläche sich allmählich zu beruhigen begann. Ein einzelner Mann ruderte das Fahrzeug, das Robert sofort anrief. „Bringt mich an Bord der Korvette ›Gazelle‹, Kamerad“, bat er in englischer Sprache. „Ich bezahle Euch die Mühe.“

Der Fremde antwortete nicht, aber er duldete, daß Robert in sein Boot kletterte, und nahm dann seine Rudertätigkeit wieder auf, offenbar, um aus dem Hafen herauszukommen.

Robert war außerstande, in der Dunkelheit das Gesicht seines Begleiters zu erkennen, aber er glaubte mißverstanden zu sein und wiederholte in spanischer Sprache seine Bitte, ihn an Bord der „Gazelle“ zu bringen.

Der andere hielt nur um so stärker und eiliger aus dem Hafen heraus; jetzt blieben die letzten Schiffe hinter dem kleinen Fahrzeug zurück, und das offene Meer, schwarz wie Tinte, war erreicht. Der Ruderer arbeitete unter Aufbietung aller seiner Kräfte, während Robert, endlich von bestimmtem Verdacht er füllt, aufsprang und ihm die geballten Fäuste dicht vor das Gesicht hielt. „Schurke!“ rief er, „willst du nicht hören?“

Eine tiefe Stimme antwortete ihm. „Hab' ich dich?“ klang es mit teuflischem Frohlocken. „Jetzt kommst du nicht lebend davon!“

Wie ein Blitz durchzuckte es Robert. Sein scharfes Gedächtnis erkannte sofort die Stimme, obwohl er sie vor Jahren zuletzt gehört hatte. „Rafaele!“ rief er, „Ihr seid es!“

„Ich bin es“, wiederholte der Flibustier. „Stirb, Verräter!“

Und ehe sich Robert zur Wehr setzen konnte, hatte er ihn um den Leib gefaßt und versuchte jetzt, ihn über Bord zu werfen, was allerdings bei der Körperkraft und Gewandtheit des jungen Seemanns keine leichte Sache war und auch nur soweit gelang, als beide Gegner, unfähig, auf dem schwankenden Boden des Fahrzeuges sicher zu stehen, eng miteinander verschlungen ins Wasser stürzten und im Augenblick von den Wellen verschlungen wurden.

Schon nach einigen Augenblicken tauchten jedoch die Köpfe wieder empor. Beide Männer waren mit der Gefahr, die sie umgab, viel zu vertraut, als daß sie nicht versuchten, sich sofort in Sicherheit zu bringen. Ein Ringkampf im Wasser mußte für beide den Tod zur Folge haben.

Robert behielt seinen Gegner fest im Auge. „Rafaele“, sagte er, „Ihr habt jetzt kein Kind mehr vor Euch, sondern einen Mann, der entschlossen ist, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Weshalb bezeichnet Ihr mich als Verräter? Ich habe Euer Geheimnis bis zu dieser Stunde mit keinem Menschen geteilt, darauf mein Wort.“

Der Flibustier lachte. „Aber Ihr könntet es schon morgen tun“, erwiderte er. „Solange Ihr atmet, bin ich in Gefahr.“

Und während er sprach, versuchte er mit einem schweren Faustschlag Roberts Kopf zu treffen. Der wich ihm aber geschickt aus, und im nächsten Augenblick schrillte der Ton der Signalpfeife langhallend über das Wasser.

„Hier!“ schrie aus ziemlicher Entfernung Gerbers Baßstimme, und zugleich gab seine Pfeife Antwort, „hier! Junge, wo steckst du denn?“

Der Flibustier fiel mit der Kraft der äußersten Verzweiflung über seinen Gegner her. Er wußte jetzt, daß er keine Zeit mehr zu verlieren hatte und daß es ihm schlecht gehen würde, wenn ihn die Leute von der „Gazelle“ einfingen.

„Kroll! Kroll!“ rief es vom Boot her.

Nochmals gelang es Robert, das Signal zu wiederholen, dann aber hatte der Räuber Gelegenheit gefunden, mit einem schweren Schlüssel, den er in der Tasche trug, die Schläfe seines Gegners zu treffen und ihn dadurch im Augenblick zu betäuben. Ehe Robert einen Schrei ausstoßen oder einen Entschluß fassen konnte, hob ihn eine heranrauschende Welle auf und entführte seinen anscheinend leblosen Körper aus dem Gesichtskreis des Räubers, dem jedoch dieser Sieg von keinem besonderen Nutzen sein sollte, da gerade jetzt das von der Korvette ausgesandte Boot mit schnellen Ruderschlägen herankam.

„Hallo, Kroll!“ rief Gerber, „gib Antwort!“

Der Räuber schwamm, so schnell er konnte, dem offenen Meere zu. Vor allen Dingen durften ihn die deutschen Seeleute nicht sehen. Einen Fluch nach dem andern murmelnd entzog er sich ihren Blicken, wobei er jedoch vom Hafen zunächst ganz abgeschnitten wurde. Er sah, daß die Matrosen im Boot nach allen Seiten Ausschau hielten.

„Das ist eine fremde Jolle“, hörte er Gerbers Stimme sagen, ohne natürlich den Sinn der Worte mehr als nur erraten zu können. „Der Kroll muß ertrunken sein.“

„Das ist doch unmöglich“, meinte ein anderer. „Jedes Kind könnte bei solchem bißchen Wind den Hafen wieder erreichen. Es war ja nur eine Mütze voll.“

„Ganz gleich, aber wo ist denn der Kroll geblieben?“

„Dort! Dort!“ rief plötzlich einer der Matrosen. „Ich sah seinen Kopf.“

Man steuerte der bezeichneten Stelle zu, aber die meisten der Leute glaubten doch, daß sich ihr Kamerad geirrt haben müsse. „Weshalb sollte denn Robert nicht antworten?“ fragten sie.

„Nun, wißt ihr denn, ob er überhaupt noch lebt?“

„Wäre er tot, so könnte der Körper nicht treiben.“

Das war richtig, man ruderte also schweigend mit aller Kraft der angegebenen Richtung nach.

Der Kutter durchschnitt, von zwölf Paar kräftigen Armen getrieben, in rascher Fahrt die Flut. Manchmal glaubten die Matrosen mit Sicherheit einen schwimmenden Menschen zu sehen, aber im nächsten Augenblick war die Erscheinung verschwunden. Schon machte sich unter den Leuten eine abergläubische Furcht bemerkbar. „Vielleicht ist es der Klabautermann“, sagte einer, „er lockt uns mitten in der Nacht auf das offene Meer hinaus, und keiner von uns sieht lebend das Schiff wieder.“

Gerber setzte die Signalpfeife an den Mund. Lang anhaltend rollte der Ton über das Wasser, – dann horchten alle.

Es erfolgte keine Antwort.

Aber wenn man auch mit dem Ohr nichts wahrnehmen konnte, so war doch das, was man sah, desto beängstigender. Ein Streif wie das Kielwasser eines schnell dahingleitenden Bootes zog sich durch das Wasser, grünlich glänzend, schaumbedeckt und in Kreisen verrinnend, – eine Flosse wie ein Dreizack hob sich aus den Wellen.

Und dort, – dort, wieder das Gesicht von vorhin, jetzt in wilder, verzweifelter Flucht, – Arme, die das Wasser teilten, ein Kampf zwischen Mensch und Raubtier, ein Peitschen und Schlagen, dann ein gräßlicher Schrei, ein Knirschen wie von einer Säge –

Konnte es Robert sein? – Weshalb sollte er nicht geantwortet haben?

Die Matrosen sahen sich um, schreckensstarr, mit bleichen Gesichtern. Nichts vom Hafen, nichts von der Korvette, – nur dunkle, tiefschwarze Nacht ringsum.

„Der Klabautermann!“ flüsterten sie. „Gott stehe uns bei.“

Einer tauchte die Hand in das Wasser, und als der Schein eines Streichholzes die herabfallenden Tropfen beleuchtete, da war es rot von Blut.

Was hätte es jetzt noch genützt, weiter nachzuforschen? Ob Robert, ob ein anderer, – den dort der Hai angegriffen hatte, der brauchte keines Menschen Hilfe mehr.

Aber geheimnisvoll war das ganze Abenteuer. Ein herrenloses Boot, ein schweigender Mann, der hinausflüchtete auf das Meer, warum, wußte niemand zu sagen, – die tiefe, nächtliche Stille, die Erinnerung an das kaum überstandene Erdbeben, alles das wirkte unheimlich und beklemmend auf die Herzen der Männer.

Schweigend, ohne ein Wort zu sprechen, suchten sie den Rückweg. Allmählich traten die Lichter am Strande, die dunklen Umrisse der Schiffe und das Geräusch der Stadt wieder deutlicher hervor, und Gerber, als der Führer des Bootes, begann sich zu orientieren. „Mehr Steuerbord“, wies er den Mann am Ruder an, „ich weiß, daß wir das Schwimmfloß dort passiert haben, – es war die Stelle, an der wir das Signal hörten. Armer Kerl! Ein so guter Kamerad!“

Und Gerber schwieg, weil er fürchtete, daß weitere Worte nicht mehr ganz sicher klingen würden. Die Matrosen ruderten so schnell wie möglich, um dem Abenteuer ein Ende zu machen.

Das Schwimmfloß war jetzt fast erreicht, die breite Wasserstraße zwischen der Doppelreihe der Schiffe öffnete sich vor ihnen, da – erklang plötzlich aus derselben Richtung wie vorhin die Signalpfeife, nur schwächer, matter als sonst.

Auf den Köpfen der Matrosen sträubten sich die Haare. Sie hielten wie auf Verabredung mit Rudern ein und wagten kaum zu atmen. Dort, wo Robert zuletzt gelebt und die Kameraden zur Hilfe gerufen hatte, dort hielt sie jetzt der Klabautermann zum besten.

Gerber war der einzige, der sich aufzuraffen vermochte. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, die antwortenden Klänge seiner Signalpfeife zitterten wider Willen, aber dennoch bewahrte der gemütliche Maat seine ganze Würde. „Vorwärts!“ befahl er. „Wer sich weigert, mir zu gehorchen, wird dem Kommandanten gemeldet.“

Das half. Einige Mutige rissen die anderen mit sich fort, das Boot wurde wieder flott und kam dem Schwimmfloß näher. Im Dunkel erkannte man in halbliegender Stellung eine menschliche Gestalt. Ein Arm streckte sich dem Boot entgegen.

„Jungens!“ sagte eine schwache Stimme, „seid ihr es?“

Gerber räusperte sich zweimal, bevor er sprechen konnte. Dann trat er hart an den Bootsrand. „Im Namen Gottes, sag, wer du bist!“ rief er.

„Gerber!“ kam es zurück. „Ach, Gott sei Dank, daß ihr da seid. Nehmt mich auf, ich glaube, der Schurke hat mir den Kopf zerschlagen.“

Jetzt erkannten alle, daß sie den totgeglaubten Kameraden lebend vor sich hatten, und jeder wollte der erste sein, der vor sich selbst und den andern die abergläubische Furcht von vorhin zu leugnen suchte. Robert wurde von allen Seiten mit Fragen bestürmt.

Er konnte sich kaum mit Hilfe der anderen bewegen. Ihn schwindelte, und der Kopf schmerzte zum Zerspringen. Nur in Bruchstücken erfuhren die Matrosen, was geschehen war.

Rafaele hatte, als er Robert umbringen wollte, auf eine so entsetzliche Weise den eigenen Tod gefunden; der Mörder, dem nichts heilig war, hatte sich widerstandslos durch das grobe, physische Recht des Stärkeren besiegen lassen müssen.

Als das Boot zur Korvette zurückgekehrt war, wurde Robert sofort ins Lazarett gebracht und konnte erst nach mehreren Tagen alle Einzelheiten der ganzen Sache zu Protokoll geben, wobei ihm die Aussagen sämtlicher Bootsgasten ergänzend zu Hilfe kamen. Der Kapitän hielt sich jedoch nicht für berufen, nach dem Tode Rafaeles noch den kubanischen Behörden eine Mitteilung zu machen.

Robert freute sich darüber sehr, weil doch sonst sein einstiger Wohltäter, der Koch, mit den andern hätte büßen müssen. Wie er von den Wellen auf das Schwimmfloß geschleudert worden war, erinnerte er sich später nicht mehr, und auch die Jolle blieb verschwunden, – nur dem Bild Gottliebs und der Indianer war nichts geschehen, da es bei dem plötzlichen Erscheinen des Wirtes auf dem Tisch gelegen hatte und nachher von den Matrosen mitgenommen worden war. Robert aber dankte dem Himmel, in allem so gut davongekommen zu sein.

Von der Westindien-Fahrt der ›Gazelle‹ kam er im Jahre 1872 nach Deutschland zurück, machte mit demselben Schiff noch eine zweite Reise und ging dann, nachdem seine Dienstzeit abgelaufen war, freiwillig auf die ›Arkona‹, bis es im Frühjahr 1874 bekannt wurde, daß die ›Gazelle‹ eine wissenschaftliche Reise um die Erde antreten werde. Robert bewarb sich darauf hin sofort um die Erlaubnis, diese Fahrt mitmachen zu dürfen, und als er sie erhalten hatte, nahm er Urlaub, um vorher noch einmal sein Heimatstädtchen zu besuchen.

Schon im Jahre 1872 hatte er die längsterwartete Nachricht vom Tode seines Vaters erhalten, und das Wiedersehen mit der alten Mutter war daher sehr ernst und wehmütig, besonders, da er die stille Hoffnung der alten Frau, daß ihn der Besitz des väterlichen Vermögens bewegen könne, an Land zu bleiben, – doch trotz aller Liebe nochmals enttäuschen mußte. Er fand die Mutter immer noch gesund, im übrigen aber auch seinen Freund Gottlieb als wohlhabenden Hausbesitzer und Krämer, mit grüner Schürze und roten Fäusten, mit dem gleichen bescheidenen Wesen und in dem Laden, den er sich genau nach dem Muster des abgebrannten Häuschens wieder aufgebaut hatte. Eine niedrige Decke, ein enges Arbeitszimmerchen, ein sicherer Hofraum und zwei mächtige Eisenstangen, mit denen er in dem harmlosen Pinneberg allnächtlich die Haustür versperrte, – das war Gottliebs Paradies.

Der junge Kaufmann führte seinen Freund in das kleine Hinterzimmer und holte aus dem Keller eine Flasche Wein herauf. „Ich kann wirklich nicht klagen“, schmunzelte er. „So kleine zehntausend Mark sind in guten Hypotheken angelegt, und das Haus ist schuldenfrei, alles was du siehst, bar bezahlt. Die Goldkörner, die mir meine Squaws aus dem Quarz herausklauben mußten, haben gut vorgehalten.“

Robert gratulierte lachend und fragte dann nach Mongos Schicksal.

„Dem geht es gut!“ erwiderte Gottlieb. „Er hat für seinen Anteil unseres Verdienstes in New York eine kleine Schenke gekauft und kann nun auch seinem Sohn die Steuermannslaufbahn ermöglichen. Als wir uns trennten, wünschte er vom Leben nur noch, daß es euch beide einmal wieder zusammenführen möchte.“

Robert hob das Glas, um mit Gottlieb anzustoßen. „Auf die Verwirklichung dieses Wunsches“, sagte er. „Und darauf, daß jeder von uns sein Ziel erreicht, so verschieden es auch sein mag.“

Der junge Kaufmann erhob sich. „Wart einen Augenblick!“ bat er, „ich möchte dazu erst meine Eltern herbeiholen.“

Und dann brachte er die beiden alten Leute und legte die Hand seines blinden Vaters in die des Freundes. „Das ist Robert“, sagte er mit etwas unsicherer Stimme, „der, dem wir alles verdanken, der mich unter Gefahr seines eigenen Lebens gerettet hat und –“

„Als der Schafbock in der Nähe war!“ raunte ihm Robert ins Ohr, um das beabsichtigte Kompliment zu unterbrechen und keine Rührung aufkommen zu lassen. „Du irrst dich übrigens, es war Mongo, der sich dem reißenden Tier tollkühn in den Weg warf.“

Da war es denn aus mit dem Ernst; man lachte und neckte unbarmherzig den jungen Hausherrn, der so wunderbar Fersengeld gegeben hatte, als ihm das Horn des Moufflons durch die Büsche entgegenschimmerte. Um aber gerecht zu bleiben, erzählte Robert außerdem auch die Geschichte, als Gottlieb durch seine Geistesgegenwart auf der Insel in der Magelhaensstraße die ganze Schiffsmannschaft vor dem Verderben bewahrt hatte, eine Tatsache, die der bescheidene, junge Mensch eben um ihrer Wahrhaftigkeit willen nie erwähnt hatte, obgleich er andererseits den schaudernden Kunden im Laden die unglaublichsten Geschichten vorfabelte und sich Gefahren andichtete, die er niemals bestanden hatte und die, aus der Nähe besehen, doch sehr merkwürdig anmuteten.

Robert trennte sich von ihm und der Heimat über haupt in dem Bewußtsein, glückliche und geordnete Verhältnisse zurückzulassen, besonders als ihm Gottlieb zum Schluß noch anvertraut hatte, daß er bei der diesjährigen Einberufung zunächst zur Ersatzreserve überschrieben worden sei. „Seit ich das wußte, habe ich mir noch eine Versicherungsagentur zugelegt und will außerdem eine Wirtschaft eröffnen.“

Robert wünschte ihm von Herzen alles mögliche Gute, aber er begriff doch noch weniger als sonst, wie etwas so Enges und Begrenztes ein Menschenleben ausfüllen konnte.

„Und du möchtest nicht noch mehr von der Welt sehen?“ fragte er.

„Behüte mich Gott!“ rief der junge Kaufmann schaudernd. „Ich bin mit dem zufrieden, was ich hier habe. Sich Gefahren aussetzen, nur durch ein paar Bretter von der Tiefe des Meeres getrennt sein und so seine Tage hinbringen, heißt in jeder Stunde Spießruten laufen!“

Robert geriet immer mehr in Eifer. „Aber tausend neue Schönheiten sehen, immer lernen, immer mehr erkennen und seinen Gesichtskreis erweitern; ist das denn nicht der Mühe wert?“ rief er.

Gottlieb nickte. „Du hast schon recht! Aber dann lese ich lieber zu Hause die Schilderungen solcher Reisen und lasse mir auf diese Weise neue Erkenntnisse vermitteln. Das macht die Sache angenehmer und billiger.“

Jetzt lachte Robert. „Du Erzphilister“, sagte er, „du eingefleischter Spießbürger. Wir wollen uns nicht länger streiten, es kommt dabei nichts heraus, weil wir eben Gegensätze bilden. Aber etwas anderes gibt es noch, wobei wir uns hoffentlich besser verstehen. Gottlieb, wenn du wirklich glaubst, mir einigen Dank schuldig zu sein, – willst du ihn abtragen an meiner Mutter? Darf ich dich bitten, ab und zu nach ihr zu sehen und ihr beizustehen, wenn es notwendig sein sollte?“

Der junge Kaufmann ergriff die Hand seines Freundes und schüttelte sie herzlich. „Verlaß dich auf mich!“ sagte er fest.

Robert gab gerührt den Händedruck zurück. Als er sich von Gottlieb verabschiedete, wußte er, daß die alte Mutter immer einen Halt und einen treuen Helfer in ihm finden werde.

Die Trennung von ihr selbst wurde schwer, sie war für beide ein schmerzvoller Augenblick, und nur das feste Gottvertrauen der alten Frau half ihr über die abermalige Enttäuschung hinweg, während Robert bereits das neue Ziel vor Augen hatte und dadurch den Abschied leichter verschmerzte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert der Schiffsjunge