13. Auf dem Meteor.

13. Auf dem „Meteor“.

An Deck des Kanonenbootes ›Meteor‹ im Hafen von Havanna standen zehn Marinesoldaten und vor ihnen der Kommandant des kleinen Fahrzeuges, Kapitänleutnant Knorr. Er hatte besonders einen der Ankömmlinge ständig im Auge, und erst als die anderen neun nach ihren persönlichen Verhältnissen gefragt waren, wandte er sich an diesen letzten. „Sie wollen also als Freiwilliger eintreten?“


Robert – denn er war es – bemühte sich, eine möglichst militärische Haltung einzunehmen. „Nur kurze Zeit zu früh, Herr –“

„Keine lange Rede!“ unterbrach ihn der Offizier etwas barsch. „Ja oder nein?“

Robert errötete bis unter die Haarwurzeln. Dieser Ton war keineswegs nach seinem Geschmack. „Ja!“ antwortete er mit erzwungener Ruhe.

Über das wetterbraune Gesicht des Offiziers flog ein Lächeln. „Die Antwort heißt in diesem Fall künftig ›Zu Befehl!‹“ belehrte er und fuhr dann fort: „Welchen Grad haben Sie in der Handelsmarine erreicht?“

„Ich bin Leichtmatrose, Herr –“

Die ungeduldige Hand hob sich mit dem Notizbuch schon wieder zu halber Nasenhöhe. „Bootsmann!“ rief der Offizier.

Der Gerufene erschien in vorschriftsmäßiger Haltung. „Zu Befehl, Herr Kapitänleutnant.“

Der Offizier begann auf und ab zu wandern. „Da schickt man uns von Kiel einen Freiwilligen“, sagte er halb seufzend. „Hole der – –“

„Na, Bootsmann, nehmen Sie ihn mit und geben Sie ihn einem der Maaten zum Einpauken. Ist das ein – – hm, ich meine, daß die Reservebataillone an Land schon mit allem, was Freiwilliger heißt, ihre Not haben, aber auf See – –“

Er hielt wieder inne, und ein neuer ärgerlicher Blick streifte den unwillkommenen Gast. „Die anderen Leute werden als Matrosen eingestellt“, fügte er hinzu. „Mit dem Freiwilligen müssen Sie mir bei allen Dienstmanövern ganz fortbleiben, Bootsmann, bis er wenigstens nichts mehr verdirbt und keinen Anstoß erregt. Sorgen. Sie dafür.“

„Zu Befehl!“ antwortete der Bootsmann, und ein Wink seiner Hand beorderte die Ankömmlinge unter Deck. Die schon geschulten Matrosen konnten den Weg dorthin bereits ohne Mühe allein finden, während Robert, etwas enttäuscht und trotzig, stehen blieb und wartete, was man ihm weiter befehlen werde.

Der Bootsmann schien es unter seiner Würde zu halten, den Freiwilligen besser zu bewillkommnen, als es der Kapitänleutnant selbst getan hatte. Er kümmerte sich um ihn weiter nicht mehr, sondern rief in den Raum des Zwischendecks hinein einen einzelnen Namen: „Gerber!“

Darauf erschien einer der Bootsmannsmaaten, dessen Gesicht Robert auf den ersten Blick bekannt vorkam. Er fragte sich, wo ihm diese gutmütigen blauen Augen schon einmal begegnet sein konnten. Er mußte den Mann kennen.

„Gerber“, sagte der Bootsmann, „in Ihrer Backschaft fehlt ja ein Mann, seit wir die Cholera an Bord hatten, nicht wahr? – Na gut, da haben Sie ihn, aber so wie er geht und steht. Den Kriegsschiffsmatrosen müssen Sie ihm erst beibringen. Soll tüchtig gezwiebelt werden und nicht mit an Deck, bis er die Sache versteht.“

Der blonde Maat begnügte sich damit, zu nicken.

„Komm hierher, mein Junge“, sagte er, „erst laß dir in der Kombüse deine Back füllen, und dann wollen wir weiter sehen. Sind ja alle einmal grüne Jungen gewesen, meine ich.“

Und mit diesen, für Robert nicht gerade schmeichelhaften Worten führte er ihn zu dem Platz, wo künftig sein Kleidersack hängen sollte und wo er das angeschraubte flache Schränkchen erhielt, das mit 35 Zentimeter Länge und 25 Zentimeter Breite das ganze Eigentumsgebiet des einfachen Matrosen an Bord eines Kriegsschiffes darstellt. „Da hast du deine Nummer und deine Uniform“, sagte er, „hier die Reservestücke und hier die Waffen. So, das wäre das. Eigentlich müßte ich dich mit Sie anreden, die Instruktion will es so, aber das ist mir zu offiziell, und wenn wir außer Dienst sind, geht es keinen Deubel was an. So – du da, Röder, geh mal mit ihm, daß er seine Back gefüllt kriegt. Wie heißt du denn, mein Junge?“

Robert nannte seinen Namen und nahm sich vor, diesen gemütlichen Vorgesetzten demnächst zu fragen, wo er ihm früher schon begegnet sein könne, vor der Hand aber ließ er sich die gute und reichliche Mahlzeit des preußischen Marinesoldaten vom Koch verabfolgen, obwohl er nur wenig essen konnte. So ganz anders hatte er sich die Sache vorgestellt!

Er hatte geglaubt, daß jeder Freiwillige mit offenen Armen aufgenommen werde, und tatsächlich war die harmlose Äußerung des Maaten, daß ja doch am Ende jeder einmal ein grüner Junge gewesen sei, das Höchste, was man ihm zum Schutz gegen ein unverhülltes Mißfallen der Vorgesetzten überhaupt noch zugestand. Robert war einfach wie aus allen seinen Himmeln gefallen.

Trotzdem aber mußte er ein ruhiges Gesicht zeigen. Die Dienstvorschrift an Bord erlaubte keinerlei Ausnahmen, das wußte er nur zu genau, und fort von hier konnte er jetzt unter keiner Bedingung. Seine Begeisterung war zwar keineswegs geringer geworden, aber er hatte sich eben alles so anders vorgestellt, wie es in Wirklichkeit war. Niemand dankte dem Freiwilligen, daß er gekommen war, sondern er wurde wie eine Art nicht zu vermeidende Belästigung mit guter Miene ertragen, mehr schienen die Leute nicht tun zu können.

Als er gegessen hatte, näherte sich Robert seinem neuen Vorgesetzten. „Ist es vielleicht möglich, daß ich Sie schon früher einmal gesehen habe, Maat?“ fragte er.

„Das kann schon sein, mein Junge. Wie heißt du doch gleich? Ach ja, Kroll, ich weiß schon, ist mir aber leichter, wenn ich dich Nummer Acht nenne, das macht sich so gut und bleibt immer dasselbe, wenn auch der Mann einmal wechselt, wie es uns kürzlich in Venezuela passierte, als die Cholera an Bord kam. – Aber was wolltest du noch?“

„Wo ich Sie vielleicht schon einmal gesehen haben könnte, Maat?“

„Ja, Kerl, da besinne dich einmal. Leg dein Gehirn in die Weiche, wie wir bei uns zu Hause sagen. Ich bin in der halben Welt herumgekommen, auf Handelsschiffen und auf unserer Flotte. Vielleicht kennst du mich vom ›Blitz‹ her.“

Vom ›Blitz!‹ – Jetzt erinnerte sich Robert sofort, jetzt wußte er, wo ihm das gutmütige Gesicht schon früher begegnet war. „Maat“, rief er, „erinnern Sie sich noch an die Tage, als das Kanonenboot ›Blitz‹ auf der Elbe vor Neumühlen ankerte? Damals kam ein Junge zu Ihnen an Bord, wissen Sie es nicht mehr?“

Der Unteroffizier nahm die Tonpfeife aus dem Munde. „Oho, Nummer Acht, also das warst du? Der Schneider, dem ich mein Schiff und mein Buch schenkte. Nun beichte nur gleich alles, du Tunichtgut, bist doch richtig durchgebrannt, nicht wahr?“

Robert nickte. „Ja, richtig durchgebrannt, aber ich habe auch dafür einstehen müssen und möchte das, was ich dabei erlebt habe, nicht noch einmal durchmachen. Jetzt ist die ganze Geschichte vergeben und vergessen, mein Vater hat mich für den Eintritt in die Armee mit Geld und Kleidung ausgerüstet und war auch von Herzen einverstanden, daß ich wieder zur See gehen wollte.“

Der Unteroffizier legte zwei Finger an die Schläfe, als grüße er respektvoll. „Das mag ich leiden von dem Alten“, sagte er, „dein Vater ist ein ganzer Mann. Da kommst du wohl direkt von Hause, Nummer Acht?“

„Geradewegs, Maat, und ich soll nun hier meine Ausbildung nachholen. Bitte lassen Sie mich alles an Bord so rasch wie möglich kennen lernen, damit ich bei einem Gefecht schon mit dabei sein darf.“

Der Unteroffizier berührte Roberts Brust mit der Spitze seiner Tonpfeife. „Du bist ein Wildfang erster Klasse. Aber tröste dich! Wenn es zum Kampf kommt, so kannst du auch ohne Befehl und Kommando mit einspringen, das sage ich dir jetzt schon.“

Roberts Herz klopfte schneller. „Haben wir dazu Aussichten, Maat?“ fragte er.

„Hm, das kann man nicht wissen. Kommt uns ein französisches Schiff vor die Rohre, so greifen wir es an, dafür sind ja die Kanonen an Bord.“

Robert lachte. „Zeigt sich denn keins hier in der Nähe?“ fragte er.

„Nicht die Bohne, mein Junge. Aber warte nur ab, bis die Geschichte soweit ist. Ich muß dir ja erst beibringen, wie man ein Geschütz bedient oder mit dem Seitengewehr umgeht. Und das will ich dir nur gleich sagen, Nummer Acht, wenn ich beim Exerzieren mal ein bißchen ungemütlich werden sollte, dann mußt du dir dabei nicht das Geringste denken. Es ist so Gewohnheit und tut den Burschen gut.“

Robert lachte wieder. „Wollen Sie gleich anfangen, Maat?“ fragte er.

Der Unteroffizier schüttelte den Kopf. „Nee!“ erwiderte er gleichmütig. „Nee! Bis zwei Uhr gehört uns die Mittagszeit, und davon beißt bei mir die Maus keinen Faden ab. Du wirst übrigens von der Geschichte bald genug haben, das verspreche ich dir. Jetzt aber laß uns eine Partie Dame spielen, um die Ehre natürlich, was dich aber nicht abhalten soll, wenn wir einmal zusammen an Land gehen, ein paar Knöpfe springen zu lassen. Karten sind an Bord verboten.“

Robert fügte sich dem Wunsch des freundlichen Maaten, obwohl er selbst eigentlich lieber das Schiff und alle seine Einrichtungen einer genauen Besichtigung unterzogen hätte. Aber auch während der Partie konnte er einiges über seine neue Laufbahn erfahren.

„Wo sind denn hier die Kojen der Mannschaft?“ fragte er.

Der Maat überlegte rauchend, mit in der Luft schwebendem Arm, seinen nächsten Zug. „Die Kojen, mein Junge? – Hierhin oder dorthin? Hm! Ich schlage dir zwei Mann, hast du's gesehen? Und beim nächsten Zug springe ich bis in die Ecke und setze den dritten Stein übereinander, verstanden? – Und von Kojen sprachst du? Aber Junge, im ganzen Schiff ist keine einzige.“

Robert sah zweifelnd hinüber. „Aber wo schläft man denn?“ fragte er.

„In Hängematten, mein Sohn. Sie wird dir zugeteilt, wenn du Freiwache hast, und du mußt sie später sauber wieder aufrollen und an Deck in den ›Finkennetzkasten‹ legen. Wird dir Schweiß genug kosten, alles zu lernen, und unser erster Leutnant ist noch dazu ein Scheuerteufel durch und durch, kann ich dir sagen, aber das bleibt unter uns.“

Robert erschrak einigermaßen. „Scheuern“, wiederholte er, „tun das denn nicht die Schiffsjungen und Leichtmatrosen allein? Ich denke, wer Soldat ist – –“

Der Unteroffizier sah ihn mit einem sorgenvollen Blick an. „Du“, sagte er, „Nummer Acht, wenn du klug bist, so denkst du gar nicht, sondern hörst und tust, was man dir sagt. Scheuern müssen alle, und wenn sie – na, wenn sie – des Großmoguls Söhne wären. Übrigens schlage ich dir hier deinen vorletzten Mann.“

Die Partie war demnach für Robert verloren, und auch bei der zweiten erging es ihm nicht besser. Dann aber begannen die Übungen mit den Handfeuerwaffen. Heute und abwechselnd auch an den folgenden Tagen sollte jedoch Robert ganz allein die ihm noch vollständig neuen Handgriffe nachholen, während die übrigen Matrosen aus Gerbers Abteilung auf die anderen Bootsmannsmaaten verteilt wurden und dort die längst bekannten Übungen wiederholten.

Das waren für den leidenschaftlichen, ungestümen Robert zuerst sehr qualvolle Tage. Immer wieder dieselben gleichgültigen Handgriffe ausführen, immer wieder Einzelbewegungen machen wie ein Kind, das seine Glieder gebrauchen lernt, und dabei nicht sprechen, nicht das tun, was man wollte, ja, nicht einmal sich verteidigen, wenn der gemütliche Maat aus seiner urfreundlichen Stimmung gelegentlich ganz heraus und in einen Eifer hineingeriet, der sich durch einen Schwall aller erdenklichen Kraftausdrücke Bahn brach.

Robert sträubte sich innerlich dagegen. Er war ein Freiwilliger, er diente aus Begeisterung für die gute Sache des Vaterlandes, und doch konnten Kapitänleutnant und Offiziere diese Behandlung, die er sich gefallen lassen mußte, mit anhören, ohne sich irgendwie in die Sache hineinzumischen. Das war unerhört und warf auf den Militärdienst, wie Robert meinte, einen höchst verdunkelnden Schatten.

Zwang und persönliche Unterordnung haßte er als Feinde seiner freiheitsliebenden Natur.

Nach und nach aber sah er die Sache auch wieder mit ganz andern Augen und konnte nicht umhin, ihr eine Art widerstrebender Achtung entgegenzubringen. Alles so sauber geordnet, so bis ins Kleinste hinein durchdacht und danach eingerichtet, das entsprach zu sehr seinen eigenen Neigungen, um nicht bei vorurteilsloser Betrachtung auch von ihm gewürdigt zu werden. Nur daß der Einzelne kaum atmen durfte wie er wollte, sondern fast völlig Maschine war, das störte ihn immer noch äußerst empfindlich. Wenn Robert hörte, daß Deckoffiziere oder Kadetten den Offizieren mit „Zu Befehl!“ antworteten, dann empörte ihn das innerlich. Ein „Ja“ oder „Nein“ hätte auch genügt, meinte er, und wäre eines Mannes würdiger gewesen.

Erst nachdem einige Wochen vergangen und Roberts aufrührerische Empfindungen ein wenig in das gewohnte Gleis zurückgekehrt waren, gewann er soviel geistige Freiheit, um sich nach einem Ausflug in die Umgegend zu sehnen. Nur etwa drei Stunden weit entfernt lag ja die Insel, auf der er sein erstes Abenteuer bestanden hatte, wo er so nahe am Tode vorbeigegangen war und wo unter den hohen Mangobäumen sein alter Freund den letzten Ruheplatz gefunden hatte. Er wollte Mohrs Grab sehen, bevor vielleicht der „Meteor“ plötzlich durch irgendein Ereignis von hier abgerufen wurde, und zu diesem Zweck fragte er eines Tages seinen Vorgesetzten, ob es nicht möglich sei, auf kurze Zeit Urlaub zu bekommen.

Der blonde Maat pfiff durch die Zhäne. „Das wird schwer halten!“ meinte er.

„Aber ich bin doch ein Freiwilliger!“ rief Robert, „ich könnte morgen die Sache wieder aufgeben, wenn ich wollte!“

„Hui! Wie das in die Wolken hineinfliegt! Könnte morgen die Sache wieder aufgeben! Daß du die Nase im Gesicht behältst, mein Junge! Ich sage dir, du stehst unter dem Kriegsgesetz so gut wie jeder andere Soldat und kannst das einmal Abgemachte nicht wieder umstoßen. Ein Wort, ein Mann, du unruhiger Geist!“

Robert errötete. „Ich denke ja auch nicht daran“, erwiderte er hastig. „Aber was könnte es denn schaden, wenn ich einmal mit der Barkasse auf sechs bis acht Stunden nicht an Bord wäre?“

Der Unteroffizier schob vor Schreck die Mütze in den Nacken. „Das ist nicht schlecht, wahrhaftig! Also auch die Barkasse sollte das Vergnügen mitmachen! Da müßtest du ja wenigstens sechs Mann zur Bedienung haben!“

„Die will ich im Hafen schon auftreiben und bezahlen. Kleinere Boote sind für den Weg durch Klippen und Strudel nicht so recht zu brauchen. In der Nähe der Insel, die ich besuchen möchte, liegt ein unterseeisches, sehr gefährliches Korallenriff auf dem damals mein Schiff strandete, überhaupt führt ja der Weg dorthin über das offene Meer.“

Gerber schüttelte den Kopf. „Das schlag dir gänzlich aus dem Kopf, Nummer Acht“, sagte er. „Dafür wirst du nie die Erlaubnis erhalten.“

„Aber warum denn nicht? Ich bitte Sie, warum nicht?“

Der Unteroffizier wiegte seinen ganzen Oberkörper hin und her. „Weil das eine Unmöglichkeit wäre, Nummer Acht, weil das – na – ich sage, es geht nicht. Wenn du mit der Barkasse spazieren fährst, so möchte ein anderer vielleicht an Bord eine Gesellschaft geben und der dritte sonst irgend etwas Ausgefallenes anstellen. Wer Soldat ist, der darf an solche Dinge nicht mehr denken.“

Robert schwieg, aber der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Von den Franzosen zeigte sich nichts, an den täglichen Übungen nahm er jetzt zusammen mit den andern teil und hatte überhaupt das neue Leben an Bord des Kriegsschiffes etwas besser begriffen und sich hineingelebt, daher plagte ihn die Langeweile ebensosehr, wie es seinen Trotz herausforderte, so vollständig ohne eigene Tatkraft zu sein. Auf hoher See wäre noch alles anders gewesen, aber im Hafen stillzuliegen, täglich mit dem ungeladenen Gewehr zu exerzieren und in den Freistunden auch noch einer strengen, militärischen Disziplin unterworfen sein, das war gräßlich.

Eines Tages, als Robert zur Steuerbordwache gehörte und wie gewöhnlich abends um acht Uhr seine Hängematte erhielt, hatte er seinen Plan fertig und in allen Einzelheiten vorbereitet. Der Mond schien fast taghell, das Meer lag ruhig und glatt wie ein Spiegel, – kurz, es lockte ihn unwiderstehlich hinaus.

Er schlief nicht, obwohl es seine nächsten Nachbarn glauben mußten, sondern erwartete mit pochendem Herzen den Augenblick, wo das Trillern der Bootsmannspfeife im Zwischendeck ertönen und der Ruf ›Ronde! Ruhe im Schiff!‹ auch das letzte Wort unter der Mannschaft ersticken würde. Endlich war es soweit, er drehte geschickt die Kleider seines Nebenmannes so, daß der Schimmer der großen Sicherheitslaterne nicht direkt auf seine Hängematte traf, und dann stand er behutsam auf.

Die Ronde war vorüber und die Wache verteilt, – tiefe Stille herrschte im ganzen Schiff.

Robert fuhr geräuschlos in die Kleider und kroch an Deck, ohne bemerkt zu werden. Hier oben war er geborgen, obgleich eigentlich jetzt das Schwierige seines Unternehmens erst begann. Aber er hatte vorgesorgt. Der Mann, der am Bug Wache hielt, war auch ein Holsteiner, ein naher Landsmann und sehr arm, er sah also für einige Taler gerade zufällig nach der andern Seite, als Robert über Bord kletterte, da wo die Jolle bereitlag, ihn an ein größeres Fischerboot zu bringen, das häufig zwischen dem Hafen und den Inseln kreuzte. Ebenso sollte der Holsteiner, wenn um zwölf Uhr nachts die neue Wache mit Namen aufgerufen wurde, für seinen Landsmann antworten, – Gerber tat nichts, um die Geschichte laut werden zu lassen, das wußte Robert, und davon war auch der andere überzeugt, sonst hätte er sich wohl gehütet, auf den gefährlichen Handel einzugehen.

Der gemütliche Maat würde zwar in aller Stille Donner und Wetter fluchen, den Ausreißer noch Spießruten laufen und kielholen lassen, aber dabei doch die ganze Geschichte bis an die letzten Grenzen des Möglichen vertuschen, dafür kannten ihn alle.

Und Robert dachte nicht einmal so weit. Er wollte nur erreichen, was ihm auf dienstlichem Wege nicht erlaubt wurde, und schlug zu diesem Zweck die Folgen gänzlich in den Wind. Wie er am vorhergehenden Tage den Fischer hierher beordert hatte, so sprang er jetzt in die Jolle, nur mit weißem Leinenzeug bekleidet, das Herz voll froher Hoffnung, unbekümmert um das, was daraus entstehen konnte. Er atmete förmlich auf, als das leichte Fahrzeug unter ihm tanzte und der Wind ihm spielend durch die Haare fuhr.

Nach kurzer Fahrt stieg er von der Jolle in das größere Segelboot über, und nun ging es mit dem Wind aus dem Hafen hinaus. Der Fischer kannte den Weg, den er nehmen mußte, ganz genau, also war nach kaum zwei Stunden das Eiland, das Robert früher bewohnt hatte, in Sicht. Noch wenige Minuten, dann stießen sie auf das sandige Ufer, und Robert konnte den Boden betreten, der einst für ihn fast zum Grab geworden wäre. Taghell schien der Mond, ein frischer Wind fuhr durch die Zweige, und Robert lief am Ufer entlang, um zuerst das Grab des alten Matrosen aufzusuchen. So bekannt war das alles, so unverändert, er hätte den Weg auch ohne den Mond gefunden.

Aber hier unter den Bäume, wo der Geisterseher schlief, war es in der Tat dunkel! Die Wellen spielten in der stillen Bucht, die uralten Mangos neigten ihre Zweige bis auf den Wasserspiegel herab, und ringsumher wuchs es in üppiger Fülle. Robert ließ ein Streichholz aufflammen, entzündete die schon dafür mitgebrachte Wachskerze und schützte das Licht mit der Hand. Hunderte von Blumen blühten dort, wo Mohr begraben lag, und der Wind spielte leise in den dichten Blättern.

Wo war die Blüte, die Robert vor zwei Jahren zum Abschied hier gepflückt hatte? – Er dachte mit Grauen an den Augenblick, der sie vernichtete, als ihn hoch oben am Nordkap die Eismassen und das spritzende, halberstarrte Wasser auf den Strand warfen. „Lieber alter Geisterseher, wüßtest du, was dein Freund, der kleine Schiffsjunge, inzwischen alles erlebt hat, seit er hier an dieser Stelle dir dein letztes Bett grub!“

Die Nähnadel aus Fischgräten lag jetzt in Pinneberg und war heimlich Meister Krolls kostbarstes Besitztum, eine Art Reliquie, die zugleich zeigte, was für ein tüchtiger Kerl sein Sohn und welch ein unentbehrliches Gerät die kleine Nähnadel war – aber die Blume, die Robert getrocknet hatte, ging damals verloren. Heute steckte er in den kleinen Brustbeutel des Spaniers eine frische, schöne Blüte, ehe er noch einmal mit langem Abschiedsblick das Grab überflog. Die Zeit drängte, er wollte ja auch noch die andere Insel wiedersehen, wo er unter Räubern und Mördern gelebt hatte, obwohl ihm der Fischer abriet, dort an Land zu gehen. Die Piraten bewohnten noch immer ihren Schlupfwinkel, und man konnte doch nicht voraussagen, ob sie ihn als Verräter betrachten und zulassen würden, daß er lebend zum zweitenmal die Insel verließ.

Aber wiedersehen wollte er das Dach, unter dem er einstmals Schutz gefunden hatte.

Das Fischerboot nahm seinen Kurs wieder auf, es glitt durch die engen Wasserstraßen zwischen den einzelnen kleinen Inseln und kam auch bis an die flache Küste, wo Rafaeles Fahrzeuge lagen, wo von weitem sein Wohnhaus unter den Bäumen zu erkennen war und die Hunde ein lautes Gebell erhoben, als sich das fremde Boot dem Strande näherte.

Auch hier war alles, wie es Robert verlassen hatte, damals, am Tage des Messerkampfes zwischen den beiden Räuberbanden, als das französische Schiff für ihn zur Rettung wurde. Wie sich doch die Verhältnisse geändert hatten! – Jetzt hätte kein Fahrzeug der Grande Nation wagen dürfen, den Weg des „Meteor“ zu kreuzen, es wäre sofort angegriffen worden. Wie sehnten sich die preußischen Blaujacken danach, wie hofften sie an jedem Morgen, daß auch sie endlich zum Kampf kommen würden. Und Robert selbst war ja der Ungeduldigste, gerade er konnte am allerwenigsten den Augenblick erwarten, wo es „losgehen“ würde, er freute sich maßlos auf das erste Gefecht.

Aber dazu schien ja noch immer keine Aussicht. Der „Meteor“ lag tatenlos an seinen Ankerketten, während die Landarmee Sieg auf Sieg erfocht. Alle paar Tage kamen Zeitungen an Bord, man las mit Jubel, wie der Feind überall zurückging und wie sich die deutschen Truppen im Kampf auszeichneten, – ohne selbst daran teilnehmen zu dürfen.

Das ärgerte alle, vom Kapitän bis zum Schiffsjungen herab, am meisten aber den ungeduldigen Robert.

Er hatte jetzt auch die Pirateninsel wiedergesehen, – das Fischerboot wendete und kreuzte gegen den Wind auf, dem Hafen zu.

Wenn um vier Uhr wieder die Wache abgelöst wurde, ließ sich seine Abwesenheit vielleicht nicht mehr verheimlichen, daher durfte jetzt keine Zeit mehr verloren werden.

Die bewaldeten Ufer der Insel traten weiter und weiter zurück, sie waren auf dem offenen Meer, – noch einmal ließ Robert den Blick zurückgehen.

Was war das dort? – Ein weißer Punkt hob sich vom Hintergrund des dunklen Ufers ab. Ein Schiff!

Der Fischer blickte auf, als er Roberts plötzliche Aufmerksamkeit sah. „Das ist ein Kriegsschiff“, sagte er gleichgültig. „Ich habe es schon vor mehreren Tagen zwischen den Inseln bemerkt.“

Roberts Herz stand fast still. „Von welcher Nation, Pedro?“ fragte er atemlos.

„Ja, das weiß ich nicht. Ich sah nur die Kanonen.“

„Dann laß uns gleich wenden und die Sache genauer ansehen. Ich bezahle ein paar Piaster mehr, wenn du mich bis unter den Bug des Schiffes bringst. Du bist Spanier und läufst dabei keine Gefahr.“

„Das weiß ich wohl“, nickte gleichmütig der Mann. „Kann mir auch schon recht sein, wenn Ihr die Fahrt bezahlt.“

Das Ruder wurde nochmals gedreht, und der weiße Punkt angesteuert. Robert erkannte sehr bald die französische Flagge, konnte drei Geschützpforten zählen und las den Namen „Bouvet“.

Jetzt wußte er genug, um auf dem „Meteor“ Meldung machen zu können. Ein französisches Kriegsschiff so nahe beim Hafen, der langersehnte Gegner endlich gekommen, das Zeichen zum Kampf gegeben!

„Schnell, schnell!“ befahl er dem Fischer. „Es ist zwar schon viel zu spät, aber es eilt trotzdem. Wir können schon morgen ins Gefecht kommen.“

Es war heller Tag, als das Fischerboot neben dem „Meteor“ anlegte. Ein Besuch einiger deutscher Familien aus der Stadt hatte das Schiff überschwemmt, so daß Robert, der ohne Uniform war, vielleicht unbemerkt hätte an Bord kommen können, aber das wollte er nicht einmal. Die Strafe, die ihn erwartete, kümmerte ihn nicht. Vielmehr hätte er es für ehrlos gehalten, die Nachricht von der Nähe des feindlichen Kriegsschiffes zu verschweigen.

Unter Deck stürmen und sich in die Uniform werfen, war das Werk von zwei Minuten, ebenso schnell aber hatte ihn auch schon der gemütliche blonde Maat erwischt und festgehalten. „Du siebenmal“, begann er seine Rede, wurde jedoch durch Robert entschieden an der Fortsetzung gehindert. „Still“, flüsterte er. „Stellen Sie sich vor, Maat, der Franzose kommt, – ich muß sofort zum Kommandanten.“

„Daß du die Motten kriegst! Junge, du stehst monatelang auf der schwarzen Liste, wenn er dich nicht sogar einsperrt! Und was fabelst du da von dem Franzosen?“

„Warten Sie's nur ab, Maat. Ging denn heute nacht alles gut?“

„Du Schwerenöter hast ja einen Mitschuldigen, der für dich antwortet und einsteht! Noch ist nichts bemerkt worden, aber ich sage dir, wenn du mehr solche Streiche machst, verpurre ich dir die Geschichte. Du bist ja ein ganz gefährlicher Ausreißer!“

Robert lachte. „Meinen Sie, daß ich bestraft werde, Maat?“ fragte er.

„Und das gehörig. Du mußt die höchsten Stengen schmieren, alle Tage scheuern, den Rost von den Ankerketten klopfen, die Gallion waschen und die Messingplatten putzen. Du bekommst nur eine halbe Stunde Mittag, deine Grogration fällt aus, und du hast Bordarrest, wenn nicht eine richtige Gefängnisstrafe für dich herausspringt. Das glaube ich noch eher, also behalte die Nachricht für dich, hörst du!“

Robert schüttelte den Kopf. Unmöglich, das konnte er nicht, und als die Fremden von Bord waren, meldete er sich bei Kapitänleutnant Knorr.

Der sah ihn verwundert an. „Nun“, fragte er, „was haben Sie?“

Robert stand jetzt in dienstlicher Haltung vor ihm, etwas blaß zwar, weil er die entehrende Strafe fürchtete, aber doch ruhig und ernst.

Mit wenigen kurzen Worten berichtete er von seiner Beobachtung und hatte die Genugtuung, seinen Vorgesetzten auf das höchste überrascht zu sehen. Er sprang vom Sitz auf und ging erregt hin und her. „Ein Franzose also? Und was für ein Schiff?“

„Der ›Bouvet‹ soweit ich erkennen konnte, Herr Kapitänleutnant. Er hatte drei –“

„Ja, ja, drei Geschütze, ich weiß schon. Nun, das kann – –“

„Aber“, fügte er hinzu, sich plötzlich unterbrechend, „weshalb haben Sie mir die Sache gemeldet, da doch kein Zeuge dabei war, der Sie verraten konnte? Ist Ihnen bekannt, daß für sämtliche Schiffe der deutschen Marine im Augenblick die außergewöhnlichen Gesetze des Kriegszustandes gelten? – Ich könnte Sie als Deserteur behandeln und bestrafen lassen.“

Robert zuckte unter dem entehrenden Wort, die letzte Farbe wich aus seinen Wangen, und das Herz klopfte ihm zum Zerspringen.

Der Kapitänleutnant sah ihm fest ins Auge. „Weshalb meldeten Sie mir die Sache?“ fragte er noch einmal.

„Weil ich das für meine Pflicht hielt, Herr Kapitänleutnant.“

„Sie, der ohne Erlaubnis von Bord ging?“

„Ach“, schoß es Robert plötzlich unwillkürlich heraus, „das ist ja nichts. Dann nehme ich schon die Strafe auf mich, bevor ich eine so wichtige Sache verschweige. Ein Deserteur bin ich nicht, und – das wissen Sie, Herr Kapitänleutnant.“

Der Offizier wandte sich ab, um ein ganz undienstliches Lächeln zu verbergen. Dann aber kam er zurück und legte die Hand auf Roberts Schulter.

„Sie sind ein etwas außergewöhnlicher Mensch, Kroll“, sagte er sehr ernst, „Sie dürfen aber Ihren Eigensinn niemals für Männlichkeit halten. Lernen Sie erst einmal Manneszucht und unbedingten Gehorsam jedes einzelnen, sei er Offizier oder Soldat, gründlich als das kennen, was sie wirklich sind, nämlich als Grundlage und Mittelpunkt aller militärischen Unternehmen, als Voraussetzung allen Kriegsglücks, – bevor Sie künftig Fälle, wie den gegenwärtigen, für ein ›Nichts‹ erklären. Ihre Strafe ist Ihnen geschenkt, weil ich Ihre Haltung trotzdem anerkenne. Denken Sie an das, was ich Ihnen soeben gesagt habe, Kroll, und nun gehen Sie.“

Robert blieb doch noch einen Augenblick lang stehen. Es brauste in seinen Ohren, und ein sonderbares Gefühl, halb Beschämung, halb Stolz, erfüllte ihn. „Ich danke Ihnen, Herr Kapitänleutnant“, preßte er hervor. „Ich – werde Ihre Worte nicht vergessen.“

Und dann ging er wie im wachen Traum hinab in das Zwischendeck, wo ihn Gerber mit heimlichem Herzklopfen erwartete.

„Nun, Nummer Acht, du Erzbösewicht?“

Robert schüttelte den Kopf. „Es ist alles gut gegangen, Maat“, sagte er.

„Und keine Strafe, Kerl?“

„Keine äußerliche wenigstens!“

Der Unteroffizier erhob sich von seinem Sitz. „Nanu“, staunte er, „das verstehe ein anderer. Sprich deutsch, Nummer Acht, was hat der Kommandant gesagt?“

Robert lächelte unwillkürlich. „Nicht viel, Maat, aber es liegt mir doch schwer im Magen. Der Kapitänleutnant hat eine eigene Art, zu sprechen.“

Über Gerbers Vollmondgesicht glitt ein Sonnenstrahl der Befriedigung. „So, so“, schmunzelte er, „nun begreife ich. ›Du Satanskerl‹, hat er gesagt, – vielleicht ein bißchen feiner gedrechselt, mit Glacéhandschuhen und so, – du Höllenbrand, diesmal will ich's schießen lassen, weil dir der Franzose in die Zähne lief und du mir die gute Nachricht nach Hause gebracht hast, aber tu's nicht noch mal wieder, du Galgenholz, sonst sollen dich alle siebentausend Haifische zugleich fressen! War's nicht so?“

„Ganz ähnlich!“ lächelte Robert.

„Siehst du wohl, ich wußte Bescheid. Kann ein Gesicht machen, daß alle Ratten im Schiff Reißaus nehmen möchten, und ist doch eine Seele von einem Mann. Na, laß dir's gesagt sein, Nummer Acht, und mach keine solchen Dummheiten wieder.“

Damit ließ er Robert allein, der sich nun ganz ungestört seinen Gedanken hingeben und sich wieder den Augenblick vergegenwärtigen konnte, als ihn der Offizier so ernst und wohlwollend zugleich ermahnte, in Zukunft nicht mehr Eigensinn und Männlichkeit miteinander zu verwechseln. Gehörte denn wirklich gerade dazu die größte Selbstbeherrschung und Willenskraft, sich scheinbar vollständig unterzuordnen?

Er seufzte, aber er wußte ganz sicher, daß ihm dies nicht wieder begegnen werde; hatte er denn dem Kommandanten gegenüber mit dem trotzigen Davonlaufen eines Schuljungen wirklich gezeigt, daß er ein selbständiger Mann sei, oder vielleicht eher, daß ihm die Grundbegriffe jeder gesetzlichen Ordnung noch vollkommen fehlten?

Das Blut kehrte in seine Wangen zurück. „Möchte doch heute noch der ›Bouvet‹ kommen“, dachte er, „möchte doch der Kampf beginnen und ich als erster an Bord des feindlichen Schiffes klettern können, damit mich Kapitänleutnant Knorr loben und sagen müßte, ich sei doch ein Mann und tapfer dazu!“

Er war an diesem ganzen Tag so aufgeregt, daß Gerber mehrere Male heimlich lächelte. „Den Kroll hat's aber gepackt“, dachte er, „würgt noch an dem schweren Bissen, den ihm unser Kapitänleutnant ins Maul gesteckt hat.“

Gegen Abend endlich erschien der ›Bouvet‹ und legte sich in dem neutralen Hafen Seite an Seite neben den ›Meteor‹. Etwas größer und schneller, mit einer Überzahl von zwanzig Mann Besatzung und besseren Geschützen, war er dem ›Meteor‹ ziemlich in jeder Weise überlegen. Bord an Bord lagen die beiden feindlichen Schiffe auf dem Wasser.

„Eine wunderliche Welt“, sagte Gerber. „Da ist der ›Bouvet‹, der bei Helgoland zusah, als wir gegen die Dänen im Gefecht standen, – nun läuft er selbst unseren Geschützen in die Zähne.“

„Wißt ihr was, Jungens“, raunte er beim Essen in die Ohren seiner Backschaft, „wißt ihr was? Ich möchte, daß ein paar von der Mannschaft drüben das Schiff verließen und an Land eine Kneipe aufsuchten. Dann könnten wir's ihnen zeigen, was unsere Fäuste wert sind! – Das müßte ein ungeheures Vergnügen sein und hätte doch das Völkerrecht nicht verletzt.“

Die Seeleute hatten durchaus Lust zu dem Plan, aber Gerber schüttelte schmerzlich das Haupt. „Wird nichts, Kinder“, fügte er hinzu, „waren nur Gedankenspäne, fromme Wünsche, wie man zu sagen pflegt. Ihr sollt sehen, daß es schon morgen in aller Frühe eine Vermahnung setzt. Immer Augen links, wenn ihr auf Backbord über das Schiff marschiert, und Augen rechts, wenn's von Steuerbord hergeht. Ich kenne das.“

Und richtig, wie er vorausgesagt hatte, so geschah es. Am folgenden Morgen wurde Generalmarsch geschlagen, und als bis auf den letzten Mann die ganze Besatzung an Deck versammelt war, hielt der Kapitänleutnant eine Ansprache, in der er den Leuten befahl, sich jeder Berührung mit den Franzosen zu entziehen, besonders aber an Land bei einer möglichen Begegnung sofort das Lokal zu verlassen und auf keine Herausforderung einzugehen.

Die Franzosen auf dem ›Bouvet‹ sahen sich diese ganze Szene mit Interesse an. Sie schienen den Inhalt der Rede, die dort gehalten wurde, vollkommen zu begreifen, und vielleicht eben deswegen erhielten ungewöhnlich viele von ihnen am Abend Urlaub. Die Deutschen auf dem kleinen Kanonenboot, das sich neben dem ›Bouvet‹ doch sehr schmächtig ausnahm, diese übermütigen Deutschen sollten womöglich eins draufkriegen.

Etwa vierzig Mann von der Besatzung des französischen Schiffes gingen an Land, und auch der gewohnten Anzahl Deutscher war Urlaub erteilt worden. Fast zu gleicher Zeit verließen die Preußen und die Franzosen ihre Schiffe, wobei ihnen der Kapitänleutnant mit gerunzelter Stirn nachsah. „Reibungen werden sich nicht vermeiden lassen“, äußerte er zu seinem Ersten Leutnant. „Die Kerle brennen förmlich darauf, den Franzosen zu zeigen, daß sie nicht weniger gut zuzuschlagen verstehen, wie ihre Brüder an Land.“

Der Erste Leutnant lächelte bedeutsam. „Und wir selbst?“ fragte er halblaut.

„Wir ebenso, wenn auch in anderer Form“, erwiderte der Kommandant. „Ich wollte übrigens, daß die Sache bald entschieden wäre, besonders da ich an diesem entlegenen Punkt ohne alle Instruktion ganz nach eigenem Ermessen handeln muß. Der ›Bouvet‹ ist uns überlegen, darüber besteht kein Zweifel.“

Der Erste Offizier schwieg, aber es war ein Schweigen, das mehr als die längste Rede ausdrückte, so daß ihn der Kapitänleutnant fragend ansah. „Sie würden den Kampf aufnehmen, Herr Leutnant?“

„Ohne Bedenken!“

Der Kapitänleutnant nickte leicht. „Ich tu's auch!“ bestätigte er.

Damit war die Unterredung beendet, aber die innere Unruhe des Kommandanten zeigte sich deutlich in jedem Schritt, in jeder Bewegung, besonders als um die festgesetzte Stunde nur ein Teil der beurlaubten Mannschaft an Bord erschien, die übrigen aber ausblieben. Man fragte die Zurückgekehrten nach den andern, aber die Antworten lauteten so unbestimmt und ausweichend, daß sich der Argwohn des Kapitänleutnants bis zur Überzeugung steigerte. Trotz aller Verbote mußte eine Schlägerei stattgefunden haben.

Es wurde zwölf Uhr nachts, bis spanische Polizisten die ausgebliebenen Matrosen vom „Meteor“ mit starkem Geleit an das Schiff brachten. Mehrere unter ihnen waren verwundet, aber kein einziger zeigte über das, was er verbotenerweise getan hatte, die mindeste Reue. Franzosen und Deutsche waren aneinander geraten, hatten gehörig miteinander gerauft und sich gegenseitig die Nasen blutig geschlagen, obwohl niemand Sieger geblieben und niemand besiegt worden war.

Der Kapitänleutnant ließ die Verwundeten in das Lazarett bringen und die übrigen, so mäßig, als es die Gesetze erlaubten, bestrafen, wobei jedoch sein ganzes Benehmen zeigte, daß er die Ursache der Übertretungen durchaus verstand.

Ja, er tat noch mehr. Er schickte dem Kapitän des feindlichen Schiffes drei Tage nacheinander eine Herausforderung zum Kampf auf offener See, aber der französische Kommandant weigerte sich und blieb vor Anker liegen, als sei nichts geschehen.

Die Folge davon war, daß sich die Besatzung des „Bouvet“ an Land nicht mehr sehen lassen konnte, sondern wo sie erschien, offen verhöhnt wurde.

Auf die Dauer schienen die Franzosen das denn doch unbehaglich zu finden, sie lichteten die Anker, und eines Morgens war der „Bouvet“ verschwunden.

Jetzt herrschte auf dem „Meteor“ freudige Kampfstimmung. Nach vierundzwanzig Stunden durfte man den Feind verfolgen und ihn außerhalb des Hafens angreifen, – mehr konnten sich die Blaujacken gar nicht wünschen.

„Wenn er uns nur nicht entwischt!“ hieß es. „Wenn er nur den Kampf aufnimmt.“

Als das Kanonenboot die Anker lichtete und zum erstenmal, seit Robert an Bord war, der Dampf aus den Schloten strömte, da umstanden Tausende von Menschen, besonders alle Deutschen, die in der Stadt wohnten, das Ufer, und in fast allen Sprachen, außer in der französischen, wurde dem „Meteor“ ein Hoch ausgebracht. Die Besatzung antwortete mit einem dreifachen Hurra.

Und dann rasselten die Ankerketten herauf, das Schiff drehte sich, die Bevölkerung winkte mit Hüten und Taschentüchern, und die Jagd auf den Feind begann. Hinter dem „Meteor“ dampfte das spanische Kriegsschiff „Hernan Cortez“, das die Neutralität des Hafens wahren und für den Fall eines bedeutenderen Unglücks in der Nähe sein wollte.

Wie pochte Roberts Herz, als das Schiff unter seinen Füßen Fahrt aufnahm. Jetzt erst war er Soldat, jetzt erst hatte er das Ziel seiner Wünsche erreicht, denn jetzt ging es ins Gefecht. Keiner von der ganzen Besatzung des „Meteor“ suchte so sehnsüchtig den Horizont nach dem Rauch des französischen Schiffes ab. Er war es auch, der zuerst den „Bouvet“ entdeckte.

„Dort!“ rief er, „dort, Herr Kapitänleutnant, – ich sehe es deutlich.“

Der Kommandant ließ sich das Glas reichen, und dann bestätigte ein Kopfnicken der ganzen Mannschaft, daß Robert richtig gesehen hatte. Es war in der Tat der „Bouvet“, der nun den Kampf eröffnete. Es blitzte auf, der Donner rollte über das Wasser, doch die Kugel schlug in weiter Entfernung vom preußischen Schiff ins Wasser.

„Wir schießen nicht, bis die Entfernung zwischen beiden Schiffen auf vierhundert Meter herabgesunken ist“, sagte Kapitänleutnant Knorr ruhig.

Ein Hoch der Mannschaft auf ihren Kommandanten antwortete seinen Worten. Jedes Herz schlug erwartungsvoll, während das Schiff mit höchster Fahrt durch die Wellen stampfte.

Schuß auf Schuß erschütterte vom Bord des ›Bouvet‹ die stille Morgenluft, ohne jedoch zu treffen, während auf dem ›Meteor‹ gleichsam zur Herausforderung von allen drei Masten die Toppflaggen lustig flatterten.

Endlich aber konnte das deutsche Geschütz antworten. Auf dem ›Meteor‹ blitzte es auf, und ein erster Gruß aus seinen Rohren pfiff durch das Takelwerk des Franzosen. Im gleichen Augenblick schien sich jedoch das Glück gegen die Deutschen zu wenden. Es erhob sich ein plötzlicher Wind, dem das Kanonenboot entgegenarbeiten mußte, während er andererseits den ›Bouvet‹ mit schneller Fahrt auf die Breitseite des Feindes zutrieb.

Das alles ereignete sich innerhalb weniger Minuten, und die Entfernung der beiden Schiffe verringerte sich auf dreihundert Meter, bevor man noch an Bord des ›Meteor‹ die neue Lage richtig erkannte. Das Schlingern des weit kleineren Fahrzeuges war durch den aufkommenden Wind so stark geworden, daß kaum noch ein richtiges Zielen möglich war. Der Ernst des Augenblicks war unverkennbar.

Der Kapitänleutnant behielt jedoch seine ruhige Geistesgegenwart. Er stand auf der Kommandobrücke und übersah mit sicherem Blick die Lage.

„Ruhe“, befahl er mit tiefer Stimme. „Ruder hart Steuerbord! Klar zum Entern!“

Der Befehl wurde sofort vollzogen. Robert, der dicht bei der Kommandobrücke stand, sah mit einer Art begeisterter Verehrung auf den Kommandanten, der so vollkommen ruhig und sicher die Lage überblickte. „Ein solcher Mann will ich werden!“ dachte er und packte sein Gewehr fester.

Alles an Bord war totenstill, aller Augen sahen auf den Kommandanten. Durch die hochgehenden, fast tobenden Wellen brausten die beiden Schiffe aufeinander zu. Jetzt – jetzt kam die Entscheidung – –

Nur noch Augenblicke, dann waren vielleicht fünfundsechzig Menschen in den Fluten des Meeres begraben, dann berichteten die Zeitungen von einem glänzenden Siege der Franzosen über das kleine preußische Kanonenboot ›Meteor‹.

Und jetzt, – beide Fahrzeuge berühren einander – –

Aber da fliegt ein befreiendes Lächeln über das Gesicht des Kommandanten – – Sein geübter Blick hatte ihn nicht getäuscht, er hatte richtig gehandelt. Im spitzen Winkel trafen beide Schiffe zusammen, es knirschte und krachte, die Bordwände berührten sich, nur wenige Sekunden lang sahen sich die Gegner aus nächster Nähe ins Auge, dann war die größte Gefahr vorüber. Niemand hatte Zeit gehabt, ans Entern zu denken.

Jetzt aber eröffneten die Franzosen ein heftiges Gewehrfeuer, das von den Deutschen lebhaft erwidert wurde. Neben Robert fiel der Steuermann und stürzte, sofort getötet, auf die Decksplanken.

Robert sah auf. Ein wilder Zorn hatte ihn gepackt. Er suchte mit den Augen auf dem ›Bouvet‹ den Schützen und hatte ihn nur zu bald entdeckt. Halb von der Takelage verborgen lauerte der Mann und erhob schon sein Gewehr zum nächsten Schuß. Es war unverkennbar der Kapitän, auf den er zielte.

Das erkennen und unbekümmert um die eigene Sicherheit zwischen die Kugel und ihr Ziel springen, war für Robert Sache eines Augenblicks. Er fühlte einen Schlag gegen die linke Schulter, so daß er für einen Moment schwankte, dann aber nahm er noch einmal seine Kräfte zusammen, legte an und gab Feuer.

Wie damals in der Prärie der getroffene Adler, so stürzte der Franzose aus den Marsen herab. Ein lautes Bravo des Kapitänleutnants belohnte den gelungenen Schuß.

„Sie haben für mich Ihr Leben in die Schanze geschlagen, Kroll“, sagte der Kommandant laut. „Ich danke Ihnen und werde es Ihnen nicht vergessen.“

Robert wankte, aber ein Glücksgefühl, wie er es nie gekannt hatte, durchzog sein Herz. Schon nahmen ihn einige Matrosen, unter ihnen der blonde Maat, in ihre Mitte, um ihn ins Lazarett zu führen.

„Laßt doch!“ stammelte er, „laßt nur – ich kann allein gehen.“

Aber Gerber ließ nicht locker. „Du Tausendsassa, du Schwerenöter“, raunte er. „Kommt dieser Junge kaum an Bord, hat noch keinen Schuß abgefeuert und zeichnet sich schon vor allen aus. Na, das hätte aber leicht dein letzter Augenblick werden können.“

Robert lächelte matt. „Es kam ja nicht auf mich an“, flüsterte er, „sondern auf den Kommandanten.“

Und dann verließ ihn das Bewußtsein. Gerber trug ihn wie ein kleines Kind ins Zwischendeck, wo der Schiffsarzt mit seinem Assistenten bereitstand, um die Verwundeten zu verbinden. „Schnell, Herr Doktor“, bat der keuchende Unteroffizier, „bitte, sagen Sie mir, ob es schlimm ist. Ich möcht's gern wissen und muß doch wieder hinauf.“

„Das Gewehrfeuer hat aufgehört“, bemerkte der Arzt, während er Roberts Kleider öffnete und die Wunde untersuchte.

„Wie kommt das?“

„Gotts ein – –“

Der gemütliche Maat hätte fast einen Kernfluch vom Stapel gelassen, aber er besann sich noch zur rechten Zeit, daß auch der Arzt ein Offizier sei, wenigstens dem Range nach, und verschluckte seinen energischen Satz, indem er laut sagte: „Zu Befehl, Herr Doktor, die Entfernung ist dafür zu groß geworden. Aber wie steht es denn mit der Wunde?“

„Die ist nicht gefährlich!“ entschied der Arzt. „Das Fleisch ist zerrissen und die Muskeln haben stark gelitten, – Knochen oder edlere Teile sind nicht verletzt.“

Gerber lächelte sehr zufrieden. Er ergriff sofort seine Mütze und stürzte wieder hinauf.

Oben an Deck hatte sich inzwischen die Lage völlig verändert. Bei der scharfen Berührung der beiden Schiffe waren die Boote vom „Meteor“ vollständig weggerissen, die Fockraa abgebrochen und die Wanten zerschnitten, der Großmast aber durch den schweren eisernen Kranbalken des Franzosen sogar eingeknickt. Kurz darauf stürzte der beschädigte Mast um, riß den Besanmast mit sich und schlug die Kommandobrücke in Trümmer. Und nun entstand eine heillose Verwirrung. Die über Bord gegangenen Masten wurden vom Schiff an ihren Tauen nachgeschleift und hemmten dadurch die Fahrt fast vollständig. In diesem Augenblick hätte der „Bouvet“ entern und den Kampf vielleicht gewinnen können, aber ein derartiger Versuch wurde von seinem Kommandanten nicht unternommen.

Der „Meteor“ machte jetzt kaum noch Fahrt, aber Kapitänleutnant Knorr gab deshalb nichts verloren. Er befahl, die Taue zu kappen, und gab der Geschützbedienung Anweisung, nach Möglichkeit auf den Dampfkessel des „Bouvet“ zu zielen.

Der Schuß krachte und alle sahen gespannt zu dem feindlichen Schiff hinüber.

„Er versucht zu entkommen!“ murmelte der Kapitänleutnant und stampfte mit dem Fuß auf, „noch eine halbe Stunde, und der Hafen ist erreicht!“

Aber da sahen plötzlich alle eine weiße Wolke, die sich rings um das Schiff verbreitete, stärker und stärker anschwoll und endlich den „Bouvet“ ganz einhüllte. Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß die Maschine getroffen war.

„Hurra!“ kam es aus hundert Kehlen. „Hurra, das war ein Treffer!“

Der „Hernan Cortez“, der sich immer ganz in der Nähe des „Meteor“ gehalten hatte, setzte ein Boot aus und wollte mehrere Ärzte sowie Erfrischungen und Verbandmittel an Bord des deutschen Kriegsschiffes bringen, aber Kapitänleutnant Knorr lehnte mit höflichem Dank jede Hilfeleistung ab, einmal um zu zeigen, daß auf seinem Fahrzeug alles in Ordnung sei, zum andern aber auch, um bei der Verfolgung des bewegungsunfähig gewordenen Franzosen keine Zeit zu verlieren. Noch immer war der „Bouvet“ in eine weiße Wolke gehüllt, noch immer lag er auf demselben Fleck, aber auch der „Meteor“ hatte genug zu tun, um die Schraube von Splittern und Tauwerk zu reinigen und alles zu kappen, was auf beiden Seiten die Fahrt hinderte.

Der Kapitänleutnant ging von einer Seite zur andern wie ein Löwe im Käfig. „Wir müssen entern!“ wiederholte er, „wir müssen ihn nehmen!“

Aber es kam anders. Die Maschine des „Bouvet“ war zerstört, das Dampfrohr durchschossen und die Fahrt gehemmt, doch gerade, als die Schraube des „Meteor“ wieder voll in Tätigkeit getreten war, hatten die Matrosen des „Bouvet“ Segel gesetzt, und nun begann die Flucht nach dem Hafen von Havanna.

Mit voller Kraft arbeitete die Maschine des „Meteor“, aber – die Entfernung zwischen beiden Schiffen wurde größer und größer, die Kugeln des Buggeschützes auf dem Kanonenboot konnten den „Bouvet“ nicht mehr erreichen, und die Verfolgung mußte aufgegeben werden. Außerdem verkündete ein Schuß vom Bord des „Hernan Cortez“, daß jetzt das Gebiet des Hafens wieder erreicht sei, also mußte nach dem Völkerrecht der Kampf eingestellt werden. Nach einer halben Stunde lagen beide Schiffe wieder friedlich nebeneinander auf ihren alten Plätzen.

Robert hatte während dieser ganzen letzten Zeit körperliche und seelische Qualen zu bestehen. Sein Bewußtsein kehrte schon unter den Händen des Arztes zurück, und die Schmerzen, die er ertragen mußte, waren furchtbar, aber mehr noch verlangte er danach, über den Verlauf des Kampfes Genaueres zu hören. Von Zeit zu Zeit kam jemand ins Zwischendeck, und dann fragte der Arzt solange, bis er – und mit ihm Robert – alles gehört hatte.

Erst als die Ankerketten durch die Klüsen rasselten und nun auch der Doktor Zeit fand, sein gelehrtes Haupt aus der Decksluke hervorzustrecken, erst dann legte sich Robert auf die Seite, um zu schlafen.

Als ihn der Arzt in Begleitung des Kapitäns am Abend noch einmal besuchte, und als der Kommandant lange und freundlich mit dem jungen Freiwilligen gesprochen hatte, da meinte Gerber, aber er behielt es für sich, daß doch der verteufelte, siebenmal übersegelte und von neun Millionen Haifischen gefressene Bursche, der Kroll, ein wahres Glückskind sei. „Um diese Wunde beneide ich ihn“, dachte er, „sie ist eine – hm – na, ich will sie eine Schicksalswunde nennen. Hast du nicht gesehen, wird die Beförderung zum Maaten hinterdreinfliegen, wenn auch der Herr Freiwillige eben erst ausexerziert hatte, als die Geschichte losging.“

Und der gemütliche Maat sollte recht behalten. Als Robert mit dem Arm in der Binde, blaß und abgemagert, nach vier Wochen wieder umhergehen konnte, da kam aus Kiel ein Telegramm, in dem Kapitänleutnant Knorr das eiserne Kreuz verliehen wurde, und das außerdem mehreren Leuten eine Beförderung brachte. Robert wurde, wie es Gerber vorausgesehen hatte, richtig zum Maaten ernannt, obgleich der Kapitänleutnant lächelnd dieser Nachricht hinzufügte, wenn die da in Kiel ganz genau wüßten, wie kurz er erst – –

Robert erlaubte sich gegen alle Dienstordnung seinen Vorgesetzten zu unterbrechen. „Der ganze Winter wird ja vergehen, bis die Ausbesserungsarbeiten am ›Meteor‹ beendet sein können“, rief er, „so lange bleibe ich einfach noch Matrose und werde erst dann wirklich Bootsmannsmaat, wenn Sie mich für fähig halten, Herr Kapitänleutnant.“

Der Kommandant mußte über diese Bescheidenheit lächeln, doch Robert trug von diesem Tag an die Uniform des Maaten, er erhielt höheren Sold, nahm aber nach wie vor als Matrose am Dienst teil und bemühte sich mit doppeltem Eifer, seine beiden Hauptfehler, seinen Trotz und seinen Jähzorn, nach Möglichkeit zu überwinden.

Er hatte gelernt, was es heißt, durch Vernunft und Gehorsam aus fünfundsechzig Menschen eine Körperschaft zu machen, die auf den leisesten Wink reagiert und nur ein gemeinsames Ziel kennt.

Was wäre aus Schiff und Besatzung geworden, wenn die Befehle des Kapitänleutnants auch nur eine Minute lang nicht befolgt worden wären?

Der ›Bouvet‹ würde den ›Meteor‹ gerammt und die ganze Besatzung mit dem Schiff zu den Fischen geschickt haben.

Robert erkannte nun klar genug als unbedingte Notwendigkeit, was ihm im Anfang wie eine Mißachtung seiner männlichen Ehre erschienen war, aber trotzdem kamen noch häufig Augenblicke, in denen ihm das Blut heiß ins Gesicht stieg und er seinen Zorn kaum beherrschen konnte. Zu einer gründlichen Erziehung gehört eben viel Zeit, und um mit einer solchen Veranlagung fertig zu werden, braucht man schon einen sehr festen Willen, der erst in Jahren langsam heranreifen kann.

Robert war noch längst kein besonnener Mensch, obgleich ihn die Leute mit ›Maat‹ anredeten und er sich Mühe gab, jeden Fehler zu vermeiden. Während des ganzen Winters, als der ›Meteor‹ ausgebessert wurde und also der Dienst beinahe ganz aufgehoben war, bemühte er sich, die spanische Sprache zu lernen, oder er trieb Geographie, Geschichte und andere nützliche Wissenschaften, ebenso schrieb er oft nach Hause und an die Freunde hoch oben in den Bergen der Sierra Nevada. Er konnte sich jetzt kaum noch vorstellen, daß er einmal den Wunsch gehabt hatte, für immer in dem Indianerdorf zu bleiben. Gottlieb hatte sich damals Tinte, Federn und Papier aus Stockton mitbringen lassen, deshalb konnte er jetzt selbst schreiben und den Brief durch einen der vielen umherstreifenden Indianer nach Lenchi befördern lassen, von wo er per Post über San Franzisko und Panama nach Havanna gelangte.

„Mir geht es äußerlich gut“, schrieb der junge Goldsucher, „und wenn ich mich nicht so sehr nach den Eltern und nach geordneten Verhältnissen zurücksehnte, dann müßte ich sagen: auch innerlich. Wilde Tiere kommen nicht bis in unser Dorf, das steht fest, die Comanchen skalpieren niemand, der mit ihnen die Friedenspfeife geraucht hat, das weiß ich jetzt auch, denn so ganz allmählich lerne ich die Sprache der Rothäute und frage sie über alles aus. Die Squaws erzählen mir, was ich wissen will. Mongo arbeitet jetzt ständig beim Losbrechen und ich beim Auskörnen, – du solltest mich nur sehen, wie gut ich es habe, Robert. Den Platz vor unserem Wigwam haben die Squaws von Moos und Wurzeln gänzlich reinigen müssen, und Mongo hat ihn mit einer gestampften Lehmschicht so glatt und so fest gemacht, wie den besten Holzfußboden. Darauf wird nun das Gold ausgesucht, und der Lederbeutel ist jetzt schon ganz gefüllt. Meistens lasse ich mich den ganzen Tag über nicht stören, sondern arbeite ununterbrochen, während mir die Squaws alles bringen, was ich brauche, Essen, Trinken und vielleicht einen Schluck Branntwein. Die Rothäute machen es ja ebenso, also weshalb sollte ich es nicht tun? Sie sehen mir auch jetzt, während ich vor einem großen, flachen Stein auf den Knien liege und mühselig schreibe, von weitem zu. Näher heran aber kommen sie nicht, aus Furcht vor dem Zauber. Ist das nicht wirklich komisch?

Soviel von mir, und nun zu dir, du lieber, alter Junge, den ich so gern hier bei mir hätte. Also du bist auf einem Kriegsschiff und fühlst dich ganz wohl da, wo es von Gefahren wimmelt. Ich bin wirklich froh, daß ich hier sicher sitze, hoch oben im Gebirge, wo mich kein Einberufungsbefehl erreichen kann, und du – du mußt unbedingt mitten in den Kugelregen hineinlaufen. Tat es nicht entsetzlich weh, als die Wunde genäht wurde? – Denn du mußt wissen, daß wir drei, der Trapper, Mongo und ich, die ganze Geschichte genau kennen. Als der Jaguar im Oktober wieder nach Stockton ritt, hörte er, daß ein französisches Schiff vor dem Hafen von Havanna kreuzte, und nun ruhte er nicht eher, bis es ihm gelang, trotz des langen und mühevollen Weges Ende November noch einmal hinunterzukommen, nur aus heimlicher Sorge um dich, den er seinen ›weißen Bruder‹ nennt und sehr ins Herz geschlossen hat. Er brachte uns beiden, dem Neger und mir, alle Zeitungen mit, in denen das Gefecht beschrieben wurde, auch, daß du dem Kapitän das Leben gerettet hast und selbst verwundet bist. Ich verstehe nicht, wie du dich freiwillig melden konntest. Nur gut, daß ich so weit vom Schuß bin.

Aber jetzt leb wohl, Robert. Mein Privatpostbote, ein Indianer, steht da und wartet. Schreib bitte zum März wieder, dann geht der Jaguar nach Stockton.
Mit vielen herzlichen Grüßen, dein Gottlieb.“

Robert hielt diesen zerknitterten, nicht gerade sauberen und gut duftenden Brief, den der Indianer in seinem Ledergürtel durch die Wildnis bis nach Lenchi befördert hatte, zwischen den Fingern und sah träumend ins Leere. Hatte er wirklich noch vor wenigen Monaten wünschen können, dies Leben, wie es Gottlieb schilderte, auch selbst weiterzuführen?

Er konnte es kaum noch glauben. Aber damals war er mit sich selbst uneins und fürchtete sich vor etwas, das ihm noch bevorstand und sich inzwischen so günstig entschieden hatte: die Aussöhnung mit dem Vater.

Gottliebs Brief wurde als Andenken an die Zeit in den Bergen der Sierra Nevada sorgfältig aufbewahrt, und als bald darauf die Nachricht vom endlich abgeschlossenen Frieden zugleich mit dem Heimberufungsbefehl für den. „Meteor“ in Havanna eintraf, da hatte Robert vorher noch Gelegenheit gehabt, die kleine Insel, auf der er so lange als Einsiedler gelebt hatte, auch bei Tage wiederzusehen.

Acht Mann erhielten die Erlaubnis, einen ganzen Tag auf seinen Ausflug zu verwenden, und mit Robert an der Spitze durchzogen die fröhlichen Blaujacken das ganze Eiland, indem sie singend und lachend alle Vögel aus ihrer Ruhe aufscheuchten und dann von der halbverfallenen Hütte feierlich Besitz ergriffen, um auf seinen leeren Weinkisten den mitgebrachten Proviant auszubreiten und ausgiebige Rast zu halten.

Am folgenden Tage lichtete der „Meteor“ die Anker und dampfte nach Europa, wo er im Hafen von Kiel nach glücklich überstandener Reise eintraf.

Robert hatte schon gleich nach Beendigung des Feldzuges darum nachgesucht, seine dreijährige Dienstzeit auf der Flotte ohne Unterbrechung abschließen zu dürfen, und da ihm das bewilligt worden war, so kam er als Bootsmannsmaat auf die Korvette „Gazelle“, die im Sommer 1871 mit Kadetten nach Westindien und Brasilien gehen sollte, auch Gerber wurde diesem Schiff zugeteilt, und nur den Abschied von dem verehrten Kapitän Knorr empfand Robert als sehr schmerzhaft. Er trennte sich von diesem ebenso strengen wie gerechten Vorgesetzten nur äußerst ungern. Als aber der Kapitänleutnant halb scherzend, halb ernsthaft sagte: „Wir treffen uns noch einmal wieder, Kroll, wahrscheinlich, wenn Sie bereits Deckoffizier sind, denn zur Handelsmarine gehen Sie ja doch nicht mehr zurück!“ – da lächelte er getröstet. Wie ihn doch dieser Mann richtig erkannte. Wirklich, es wäre jetzt ein harter Entschluß gewesen, den Dienst an Bord eines Kriegsschiffes mit seiner gerechten Behandlung, seiner guten Verpflegung und den interessanten, anregenden Aufgaben wieder gegen ein Handelsschiff zu vertauschen, auf dem doch im Grunde die Willkür des Kapitäns in der Behandlung der Mannschaft den Ausschlag gibt.

Aber daran brauchte er vor der Hand nicht zu denken. Noch standen ihm fast anderthalb Dienstjahre bevor, und was dahinter lag, das fand sich später. Erst einmal gab es Urlaub in die Heimat, und an einem frischen, kühlen Aprilmorgen bestieg Robert in Kiel den Zug nach Pinneberg, kam also diesmal aus entgegengesetzter Richtung in das kleine Städtchen zurück. Am Bahnhof stand der Vater, noch in demselben großväterlichen Gehrock, den er vor dreißig Jahren als Bräutigam eigenhändig genäht hatte, noch mit dem riesigen Hut und den Vatermördern von Anno dazumal, die er nur trug, wenn irgendeine besondere Festlichkeit gefeiert werden sollte, – ein Spießbürger durch und durch, aber doch sein Vater, sein lieber, guter Vater, dem er sich in die Arme warf und ihn freudig begrüßte.

Und Meister Kroll schaute so stolz drein, er schien allen Leuten, die einst sein schweres Leid gesehen hatten, sagen zu wollen: „Nun ist es aber anders geworden, was?“

Und dann, als der erste Rausch verflogen war, drängte er zur Eile. Die Mutter in ihrer altgewohnten Bescheidenheit, befangen in den Vorurteilen des kleinen Städtchens, hatte es ja nicht schicklich gefunden, am hellen Morgen schon im Sonntagsstaat spazieren zu gehen, als gäbe es am Herd und in der Küche gar keine Arbeit mehr, sondern sie war daheim geblieben, kochte und backte und lief, als sie das Pfeifen der Lokomotive hörte, in jeder Minute ans Fenster, um nach den beiden Ausschau zu halten.

Wie war das jetzt alles so ganz anders als damals im vorigen Herbst, als Robert nur bis auf den Flur gekommen war und ohne ein versöhnendes Wort wieder fortging – –

Die Mutter wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Tränen aus den Augen. Als aber nach ein paar Minuten die Erwarteten endlich erschienen, da rollten sie ihr doch über die Wangen herab, und die alte Frau brachte vor Freude kaum ein Wort über die Lippen.

Robert durfte jetzt er für längere Zeit ausruhen und konnte mit Recht seinen Urlaub genießen. Und was hatte er nicht alles zu erzählen, wie wurde der schlanke, braune Bootsmannsmaat mit dem zurückhaltenden, sicheren Benehmen in der ganzen Stadt bewundert und überall freudig begrüßt.

Er verlebte in dem kleinen, engen Heimatstädtchen wahrhaft glückliche Tage, aber dennoch erwachte in ihm die Sehnsucht nach dem Wasser schon sehr bald wieder, und als der Juni herankam, ging es zurück nach Kiel, um den Dienst auf der ›Gazelle‹ anzutreten. Diesmal begleitete ihn der Vater bis an die Ostsee. „Das Schiff geht für zwei Jahre fort“, meinte er, „und es ist gut, wenn sich der Mensch auf alles vorbereitet. Ich glaube, ich werde dich nicht wiedersehen, mein Junge, ich habe so eine Ahnung, die nicht mehr weichen will.“

Robert suchte ihm den trüben Gedanken auszureden, aber der Alte schüttelte den Kopf. „Ich sterbe ja nicht, weil wir davon sprechen“, sagte er lächelnd, „aber ich will dir doch jetzt schon sagen, daß meine Ansichten und Absichten in vieler Beziehung anders geworden sind. Die Mutter behält, solange sie lebt, alles was ich hinterlasse. Nach ihrem Tode aber magst du in Gottes Namen das Haus verkaufen, das Kapital kündigen und dir einen Anteil an einem Schiff dafür sichern. Ich wünsche dir Gutes für diesen Plan und segne ihn von Herzen – das war's, was ich dir als Abschiedsgruß mit auf den Weg geben wollte.“

Robert umarmte gerührt seinen treuen, alten Vater. „Ich glaube ja nicht an deinen Tod“, flüsterte er, „im Gegenteil, du hast eine ausdauernde Gesundheit und wirst wie dein Vater und Großvater sicherlich weit über achtzig Jahre werden, aber dennoch möchte ich dich bei dieser Gelegenheit noch etwas fragen. Hast du mir den Schmerz und das Unrecht, das ich dir damals bereitet habe, wirklich von Herzen vergeben?“

Meister Kroll lächelte wehmütig. „Mehr noch, mein Junge“, sagte er nach einer Pause. „Auch ich habe eine ernste Lehre erhalten. Meine Sorge um dein Wohl war immer die ehrlichste und aufrichtigste, aber vielleicht –“

„O Vater, Vater“, unterbrach ihn Robert, „um Gottes willen, verteidige dich nicht deinem schuldigen Sohn gegenüber.“

„Laß mich ausreden, Kind. Ich habe erkannt, daß selbst die reinste Absicht den Menschen irreleiten kann, – ich bin vielleicht aus Vaterliebe oft willkürlich vorgegangen, aber auch mir hat der Schmerz um dich eine Lehre gegeben. Aber ich glaube, Robert, wir haben uns jetzt verstanden und werden uns innerlich nie wieder trennen, wenn wir uns auch vielleicht auf Erden nicht mehr sehen. Versprich mir das.“

Fest lagen die Hände des Vaters und des Sohnes ineinander. Erst jetzt, in der Abschiedsstunde, hatten sich diese beiden stolzen und trotzigen Menschen gegenseitig ganz ausgesprochen, und Robert fühlte wohl, was ihm mit diesem Geständnis sein eigensinniger, in so ganz anderen Anschauungen erzogener Vater geschenkt hatte. „Grüß noch viel tausendmal die Mutter“, preßte er hervor, „und denk nicht an den Tod, Vater. Wir sehen uns wieder.“

Meister Kroll nickte sehr ernst. „Wir sehen uns wieder“, sagte auch er, „das ist meine feste Zuversicht. Und nun laß es uns kurz machen, mein Junge. Behüt dich Gott auf allen deinen Wegen, und bleib gut, bleib ein braver Mensch!“

Noch einmal drückte der alte Mann die Hand des Sohnes. „Leb wohl, mein Kind!“

Er wandte sich, um zu verbergen, daß seine Fassung schwankte, er sah auch nicht mehr zurück, sondern ging langsamen Schrittes davon. „Weh tut's doch“, dachte er, „daß das alles so kommen mußte und nicht anders. Ich habe ihm von Herzen vergeben und von Herzen gesegnet, aber Gott weiß, welche Kämpfe es kostete. Glaube doch, ich hätte mich noch im Grabe gefreut, den Jungen als Schneidermeister zu sehen. Aber das wäre wohl zuviel Glück gewesen, – es sollte nicht sein.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert der Schiffsjunge