12. Heimkehr

12. Heimkehr.

In Europa waren inzwischen die ersten siegreichen Schlachten gegen Frankreich geschlagen worden. Robert ersah aus den Zeitungen, die in England an Bord kamen, daß die deutsche Armee überall vorrückte, und freute sich darauf, bald selbst Soldat sein und seine Pflicht für das Vaterland tun zu dürfen.


An Bord eines Kriegsschiffes dem Feind gegenüber zu stehen und sich mit ihm auf hoher See im Gefecht zu messen, – welch ein Erlebnis mußte das sein!

Niemand von der Mannschaft kannte die Pläne, mit denen er sich trug, niemand beachtete den stillen, schweigsamen jungen Matrosen, der seinen Dienst an Bord ordnungsgemäß erfüllte und in den wenigen Freistunden träumend auf das Wasser hinaus blickte, immer nachdenklicher und ernster, je mehr sich das Schiff der Heimat näherte.

Jetzt war Helgoland in Sicht, dann Brunshausen und endlich Cuxhaven. Der Lotse kam an Bord, neue Siegesnachrichten verbreiteten sich unter den Passagieren und Matrosen, das Schiff lief in die Elbmündung ein, – es war Holsteins Küste, die sich dort in letzter Abenddämmerung von fernher abhob. Tief bewegt suchte Robert mit den Augen das geliebte Land.

Holstein! – Er sah wie im Traum die grünen Ufer, hinter denen, nur wenige Meilen entfernt, sein Elternhaus lag. Wie würde, er es finden, das niedere, alte Dach, – und wie die Menschen darin?

Ein Schauer überlief ihn. Wenn der Vater unbeugsam blieb? Wenn er ihm die Tür wies und alle Leute es erfuhren, daß Robert Kroll im Elternhause ein Ausgestoßener war?

Er verscheuchte gewaltsam die trüben Gedanken und ging wieder an die Arbeit, während das Schiff die Elbe hinauffuhr und endlich am späten Abend in Hamburg vor Anker ging. Für die Nacht war an eine Auszahlung der Heuer nicht zu denken, und auch am folgenden Vormittag verzögerte sie sich, da mit einem Teil der Mannschaft unterwegs Zwistigkeiten entstanden waren. Erst abends um sieben Uhr konnte Robert, nachdem sich sein silberner Schatz um vierzehn Taler vergrößert hatte, an Land gehen.

Mit welchen Gefühlen er aus der Jolle sprang und die Treppenstufen hinaufstieg, kann man kaum schildern. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Einige Minuten lang stand er im Menschenstrom am Hafen regungslos still, um erst wieder etwas ruhiger zu werden, dann aber nahm er sich zusammen und ging mit der Kiste auf der Schulter in das nächste beste Logierhaus, um dort sein Hab und Gut in Sicherheit zu bringen, während er selbst einen Anzug und Wäsche kaufte und vor allem ein Bad nahm, um erst einmal wieder richtig sauber zu werden. Als er zurückkam, braungebrannt und frisch, mit einem kühnen Bärtchen auf der Oberlippe, ganz in frische Wäsche und den neuen Anzug gekleidet, erregte er mit seiner schlanken, hochgewachsenen Gestalt und seinem sicheren Auftreten überall Aufsehen und unverkennbares Wohlgefallen.

Für heute war es zu spät, noch nach Pinneberg zu fahren, er mußte daher seine Ungeduld zügeln und versuchen, den Rest des Abends so gut wie möglich zu verbringen.

Im Gastzimmer seines Logierhauses saßen die Menschen Kopf an Kopf. Unter ihnen befanden sich einige fremd aussehende Männer, die Robert auf den ersten Blick als französische Kriegsgefangene erkannte. Es waren Offiziersburschen, deren Herren in Privathäusern aufgenommen worden waren, und die man in nahegelegenen Wirtschaftslokalen untergebracht hatte, um sie ständig überwachen zu können.

Auch einer der Offiziere war darunter, er saß für sich an einem Tisch, anscheinend ohne auf die lebhafte Unterhaltung der Gäste zu achten. Manchmal schrieb er in ein Buch einige kurze Bemerkungen, und dann durchlief sein Blick wie zufällig den Kreis der Umsitzenden, zu denen auch die Gruppe der Burschen gehörte.

Einer von ihnen mußte sich sehr langweilen. Er malte bald mit dem Zeigefinger auf der Tischplatte, bald sprach er zu einem fast schwarzen Zuaven hinüber oder zu dem Kellner, der ihn durchaus nicht verstehen konnte, und in den Zwischenpausen zog er ein französisches Buch aus der Tasche, um einzelne abgebrochene Worte vor sich hin zu murmeln.

Die Stammgäste am Nebentisch besprachen währenddem lang und breit das Neueste vom Kriegsschauplatz, wo die Armeen der Deutschen standen, die Kriegsschiffe lagen, welche Küstenplätze, man als bedroht ansehen müsse und wo die Gefahr am größten sei.

Robert beobachtete das ganze Treiben, ohne ihm irgendein Interesse abgewinnen zu können. Er wandte sich an den Wirt und fragte ihn, ob in dieser Gegend noch eine Schenke sei, deren Eigentümer Peter Volland heiße, und ob er ihm den Weg dahin zeigen könne.

Der Mann in Hemdsärmeln schien sich zu besinnen. „Peter Volland?“ wiederholte er fragend. „Ach ja doch, nun hab' ich's, Peter Volland! – Der sitzt im Zuchthaus!“

Ein plötzlicher, leiser Ausruf hinter ihm veranlaßte Robert, sich umzusehen. Es war ihm, als beuge sich der Franzose, der so unruhig sprach, noch tiefer als vorhin auf sein Buch herab. Sonst bemerkte er nichts.

„Im Zuchthaus?“ wiederholte er. „Wie ist das möglich?“

Der Wirt zuckte die Achseln. „Da passierte vor drei Jahren eine dumme Geschichte“, sagte er. „Es wurde in seinem Hause ein Seemann so schwer verwundet, daß er bald darauf starb, und bei der Gelegenheit kam denn so manches andere mit heraus. Volland hatte noch ein kleines Nebengeschäft als Seelenverkäufer, indem er Jungen vom Lande an Schiffe vermittelte, auf denen geschmuggelt wurde oder manchmal noch Schlimmeres, Sie wissen schon, – hohe Versicherung, Ladung von Steinen und ein Korallenriff, an dem der Schoner verunglückte. Was gemacht werden kann, wird gemacht. Volland hatte auch noch einen Mitschuldigen, aber der war nicht aufzuspüren.“

„Kerl“, hörte in diesem Augenblick Robert die Stimme eines der Gäste, „Kerl, ich glaube, du verstehst deutsch, – du lauerst auf das, was gesprochen wird!“

Eine Faust schlug derb auf die Tischplatte, und unter den Gästen entstand allgemeine Unruhe, während welcher sich der Offizier vom anderen Tisch unbemerkt entfernte.

„Dieser Kerl versteht deutsch“, rief der Gast, auf den schon erwähnten Franzosen deutend, „er ist bei dem, was er reden hörte, bald rot, bald blaß geworden.“

Roberts Blicke folgten der allgemeinen Richtung. Da saß der Offiziersbursche und schien unbekümmert zu lesen, wenigstens hielt er das bärtige Gesicht tief gesenkt, obgleich ganz offenbar seine Hände leise zitterten. Die übrigen Franzosen flüsterten miteinander.

„Du!“ rief der Wirt, die Schulter des Mannes berührend, „du, verteidige dich, wenn du kannst, oder gib Rede und Antwort wie ein ehrlicher Kerl. Hast du verstanden, was gesprochen wurde?“

Jetzt mußte der Franzose aufblicken. Er tat es, aber nur einen Augenblick lang ruhte sein Auge auf dem Gesicht des Wirtes, dann wandte es sich wie von unwiderstehlicher Macht angezogen Robert zu. Etwas wie eine flehende Bitte schimmerte in den eingesunkenen Augen.

Robert erschrak, ohne zu wissen, weshalb. Wo hatte er dies Gesicht schon früher gesehen?

Der Franzose stammelte in seiner Sprache einige Worte, die niemand verstand, die aber einem Blitzschlag gleich Robert alles erklärten. Als er die Stimme hörte, erkannte er den Mann.

Eine unwillkürliche Bewegung der Hand verriet vielleicht diese Entdeckung, ein Name trat auf seine Lippen, aber der Blick der bittenden Augen hielt ihn zurück. Robert konnte nicht zum Verräter werden, auch jetzt nicht, als ihm der Mann gegenüberstand, der ihm soviel Unrecht zugefügt hatte. Er dachte nur: „Georg! – Georg!“ – aber er sprach es nicht aus.

Und der französische Gefangene las ihm seinen Entschluß von der Stirn. Er sah dreister um sich und fragte mit lauter Stimme, was man von ihm wolle.

Der Wirt schüttelte den Kopf. „Sie irren sich“, beruhigte er den entrüsteten Gast. „Dieser Mann versteht kein Wort.“

Um Roberts Lippen kräuselte sich ein verächtliches L?cheln. So tief war Georg gesunken, daß er dem Feind diente? – Das konnte er ihm weniger verzeihen als den Diebstahl, zu dem ihn damals die bittere Not getrieben haben mochte.

Er ging hinaus und suchte durch einen weiten Spaziergang an der Elbe entlang wieder ruhiger zu werden, er dachte über die ernste Lehre nach, die ihm dieser Abend gegeben hatte, und daß es doch wahr sei, was ihm so oft gepredigt worden war und was er immer wieder in den Wind geschlagen hatte, daß jede Schuld auf Erden ihre Strafe findet.

Peter Volland im Zuchthaus, Georg ein Kriegsgefangener, der sein Vaterland und seine Sprache verleugnen mußte, und endlich – er selbst?

Was erwartete ihn vielleicht zu Hause in Pinneberg?

Er nahm sich vor, es zu ertragen wie ein Mann und sich nichts zu vergeben, auch nicht seinem Vater gegenüber. Je näher der Augenblick des Wiedersehens heranrückte, desto stärker wurde sein Trotz, mit dem er sich auf sein Geld berief.

Wieder in das Logierhaus zurückgekehrt, legte er sich sogleich ins Bett und wollte möglichst die ganze Zwischenzeit bis zur morgigen Abreise ohne Unterbrechung verschlafen. Aber schon nach fünf Minuten wurde er durch einen unerwarteten Besuch gestört. Im Türrahmen stand Georg. Er wagte wie ein armer Sünder keinen Schritt über die Schwelle.

Robert sah das eingesunkene, blasse Gesicht des ehemaligen Seilers, die ganze kümmerliche Haltung und das Beschämende seiner Lage, – er vergaß im Augenblick alles andere, stand wieder auf und zog den Unglücklichen zu sich ins Zimmer. „Nun“, sagte er, „Georg, was willst du von mir?“

Der Gefangene sank erschöpft auf den nächsten Stuhl. „Robert“, bat er, „willst du mein Geheimnis bewahren? Und – und hast du mir verziehen? Sieh, damals –“

Robert unterbrach den angefangenen Satz. „Laß das gut sein, Georg“, erwiderte er. „Ich denke nicht mehr an das, was du mir getan hast, ich habe dir alles verziehen, nur nicht, daß du dein Vaterland verrätst.“

Dunkle Glut schoß über das fahle Gesicht des Seilers. „Ach, du“, stammelte er in kläglichem Ton, „rechne mir das nicht so sehr hoch an. Ich verdiente mein bißchen Brot als Diener des Franzosen, mit dem ich nun in Gefangenschaft geraten bin, – ja, und da kam der Krieg, aber ich habe nie gegen Deutschland gefochten, könnte es ja auch des lahmen Fußes wegen schon gar nicht. Wie unglücklich ich bin, davon machst du dir keinen Begriff.“

Roberts gutmütiges Herz hatte längst allen Groll vergessen. „Nun“, antwortete er, „das läßt sich als Entschuldigung schon hören. Warum bist du denn nicht mehr Seiler?“

Der andere seufzte schmerzlich. „Meine Gesundheit erlaubt mir keine Anstrengungen“, erwiderte er. „Ich spucke Blut, die Meister nehmen mich nicht mehr in Arbeit.“

„Du armer Kerl! – Man soll doch nie voreilig urteilen.“

Und Robert schloß die Seekiste auf, nahm aus der Brieftasche eine Banknote von zehn Talern und drückte sie dem Seiler in die Hand. „Jetzt geh, Georg“, sagte er freundlich, „laß uns nicht zusammen gesehen werden. Wenn das rauhe Volk, das hier im Hause verkehrt, den Deutschen in dir entdecken sollte, so wärest du höchstwahrscheinlich vor Mißhandlungen nicht sicher. Mir allerdings darfst du vollkommen vertrauen. Gute Nacht!“

Der Seiler hatte widerstrebend das Geld angenommen. Robert sah nicht den tückischen Blick der eingesunkenen Augen, er hörte nicht, wie Georg, nachdem er scheinbar demütig gedankt und sich nach einem kurzen Lebewohl entfernt hatte, – draußen einen Fluch in sich hineinmurmelte. Daß Robert nur noch der verzeihende, großmütige Mensch war, aber keineswegs der Freund von damals, daß er Barmherzigkeit übte, aber ohne mit dem Dieb und Überläufer weiterhin zusammenkommen zu wollen, – alles das sah er ganz deutlich, und aus seinem häßlichen Gesicht sprach boshafter Haß. „Pinsel“, murmelte er in den Bart, „alberner Narr, der doch alles, was er geworden ist, mir verdankt. Hat Geld in der Brieftasche, viel Geld sogar, – pah, darauf pocht er und glaubt mich beschimpfen zu dürfen, aber er wird schon sehen, wie weit ihn sein Weg führt –“ Er nickte mehrere Male vor sich hin, als wolle er sich einen gefaßten Entschluß recht fest einprägen, und dann verschwand er hinter der Tür seiner Kammer, die nur angelehnt blieb.

Unten im Gastzimmer schwieg allmählich der Lärm, die Türen wurden verriegelt, das Licht ausgedreht, und alles versank in tiefste Stille. Jedermann schien zu schlafen, selbst auf den Straßen war nur noch der Nachtwächter zu hören.

Ins Fenster hinein schien der Mond durch die Spalten herabgelassener Vorhänge, hüpfend tanzten die Schatten durch das Zimmer, und geisterhaft lautlos drehte sich die Tür in ihren Angeln, ganz langsam, leise und heimlich wie eine Schlange – –

Eine Gestalt huscht herein, auf leisen Sohlen schleichend, unhörbar, – sie kauert neben Roberts Kiste, – ein Knirschen, kaum wahrnehmbar, ertönt, es rauscht wie welke Blätter im Wind – –

Und ebenso lautlos fällt die Zimmertür ins Schloß zurück.

Am nächsten Morgen steckte Robert nur die Brieftasche zu sich, machte aus einigen unentbehrlichen Wäschestücken ein Bündel, ließ die Kiste in der Obhut des Wirtes zurück und fuhr mit dem Frühzug nach Pinneberg. Er hatte sich einen Platz am Fenster gesucht und sah nun hinaus in die Landschaft. Allmählich tauchte immer mehr Bekanntes, Altgewohntes aus der Eintönigkeit der Torfmoore und Heideflächen auf. Zuerst Eidelstedt, dann der kleine bescheidene Turm von Rellingen, wo er konfirmiert worden war, wo er vom Chor herab mit Gottlieb und den anderen Schuljungen so oft gesungen hatte, wo er das Abendmahl erhalten und als der Beste aus der Prüfung hervorgegangen war.

Das Bild des Sonntagsgottesdienstes im stillen Dorf sah er unbewußt vor sich. Er sah die Decke der Kirche mit Engelchören und Blumengewinden, sah. die andächtige Gemeinde und die Sonnenstrahlen, wie sie spielend über das Altarbild glitten. Er hörte die Stimme des Pastors, den Chor und die rauschenden Orgelklänge – –

Dann tauchten die Dächer von Pinneberg auf, die Räder drehten sich langsamer, und der Zug hielt.

Roberts Herz schien still zu stehen. Als sei er hier gestern zuletzt gewesen, so unverändert war die ganze Umgebung, so altgewohnt die Menschen und Dinge ringsumher. Konnten wirklich drei lange Jahre vergangen sein, seit er heimlich nachts von hier fortging, einem ungewissen Schicksal entgegen?

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Mein Gott, das ist ja Robert, der durchgebrannte Robert!“

Robert fuhr herum und sah in ein wohlbekanntes Gesicht. Der junge Mann in der Uniform der Bahnbeamten, einige Jahre älter als er selbst, war ein alter Schulkamerad und im Augenblick natürlich voller Neugier, Näheres über die Abenteuer des Ausreißers zu hören, aber Robert schüttelte den Kopf. „Später, Emil, später“, preßte er hervor. „Ich bleibe einige Tage hier und werde auch dich besuchen. Jetzt sag mir nur –“

Er konnte nicht weiter sprechen, aber der andere half gutmütig ein. „Ob deine Eltern leben, meinst du? Darüber beruhige dich, sie sind gesund und wohlauf.“

Robert drückte herzlich die Hand seines Schulfreundes. „Ich danke dir, Emil. Und frage jetzt nicht weiter. Ich kann nicht ruhig überlegen, bevor ich nicht mit meinem Vater gesprochen habe.“

Emil zuckte leicht die Achseln. „Soll ich zuerst hingehen, du?“ fragte er freundlich. „Soll ich die erste Bresche schlagen?“

Robert nahm sich zusammen. „Auf Wiedersehen, Emil, – vielen Dank, aber ich muß das selbst tun. Wir sehen uns bald!“

Er wandte sich ab und ging quer durch das Gehölz, um nicht so häufig erkannt zu werden. Je eher sich die Sache entschieden hatte, desto besser.

Jetzt tauchten die Umrisse des Elternhauses vor seinen Blicken auf, jetzt sah er die weiße Wäsche auf der Leine und das Traubengeländer an der Giebelwand. Vor der Haustür im Sonnenschein lag ein grauhaariger, alter Hund – Pikas! –

Er hatte es unwillkürlich laut ausgesprochen, das letzte Wort, und schon stürzte das Tier mit allen Anzeichen von Hundeliebe und Hundefreude auf ihn zu, versuchte an ihm emporzuspringen, leckte seine Hände und warf sich dann wieder winselnd und bellend ihm zu Füßen.

„Pikas!“ sagte er halblaut, „Pikas!“

Von der Tür her tönte ein halberstickter Schrei. Da stand mit ausgebreiteten Armen, weinend und lachend seine gute Mutter, und alles vergessend, stürzte sich Robert an die Brust der schluchzenden alten Frau. „Mutter“, stammelte er nur, „meine liebe, liebe Mutter!“

Minuten vergingen, ehe beide ihre Sprache wiederfanden, dann sah die alte Frau ängstlich zur Tür des Wohnzimmers, „Robert“, flehte sie, „Robert, mein lieber Junge, sei vernünftig! Tu einen Fußfall, damit er dir vergibt.“

Robert runzelte die Stirn, seine Lippen preßten sich aufeinander. „Mutter“, sagte er mit einem tiefen Atemzug, „das verstehst du nicht. Aber laß mich mit dem Vater sprechen – je eher, desto lieber. Auch von dir muß ich noch erfahren, was du mir nach Lenchi nicht geschrieben hast. Was war das, Mutter? Ich habe die Anspielungen auf etwas, was du mit deinem Erbteil ausgleichen wolltest, wirklich niemals verstehen können.“

Die arbeitsharte Hand der alten Frau hob sich mahnend empor. „Robert“, sagte sie mit leisem, bittendem Ton, „Robert, sei nicht so verstockt. Wenn du gegen den Vater in diesem Ton auftreten willst, dann geht die Sache niemals gut.“

„Ach Gott“, fügte sie erschreckend hinzu, „ach Gott, da kommt er selbst.“

Die Tür des Wohnzimmers öffnete sich, und auf der Schwelle erschien Meister Kroll, den das laute Gebell des Hundes und das Gespräch auf dem Flur neugierig gemacht hatten. Bei dem unerwarteten Anblick seines Sohnes, den er offenbar sofort erkannte, wurde der alte Mann blaß wie ein Toter. Taumelnd, mit bebenden Lippen, lehnte er sich gegen den Türpfosten. – Kein Wort des Willkommens begrüßte den heimgekehrten Sohn.

Die Mutter wandte sich flehend mit gefalteten Händen von einem zum andern. „Vater“, sagte sie schluchzend, „Robert, – ach Gott, gebt euch doch ein gutes Wort!“

Robert streckte die Rechte dem alten Mann entgegen. „Willst du mich in deinem Hause nicht als dein Kind willkommen heißen, Vater?“ kam es kaum verständlich von seinen Lippen. „Willst du mir nicht den unüberlegten Jungenstreich verzeihen?“

Aber der Alte ließ die Hand seines Sohnes unbeachtet. Er schüttelte grollend den. Kopf. „Ist das die Sprache eines reumütigen Herzens?“ fragte er. „Darf ein Verbrechen vergeben werden, ohne –“

Robert unterbrach ihn mit lauter Stimme. Auch er war blaß geworden, die Augen flammten, der Atem keuchte und die Hände waren geballt. Die ganze wilde Leidenschaftlichkeit seiner Natur trat zutage. „Was sagst du?“ zischte er, während sich die geängstigte alte Frau laut weinend zwischen den Mann und den Sohn warf, „was sagst du? – Auch mein Vater darf mich nicht ungestraft beschimpfen!“

Der Alte lachte spöttisch. „Hättest am anderen Ende der Welt bleiben sollen“, erwiderte er, „hättest vor dem Hause deines Vaters, der sich immer noch berechtigt hält, dir mit der Elle Gehorsam beizubringen, mindestens soviel Achtung bewahren können, daß du es mit deiner Gegenwart verschontest. Jetzt geh, – die Krolls haben es niemals mit Dieben gehalten!“

Es war, als hätten die Worte des alten Mannes die ganze Angelegenheit plötzlich beendet, als sei jede weitere Frage abgeschnitten und alle Heftigkeit zu Eis erstarrt. Beide totenbleich, unnatürlich ruhig, sahen Vater und Sohn einander ins Auge. Nur die Mutter hatte das Gesicht mit der Schürze bedeckt und betete laut, daß Gott Barmherzigkeit üben möge.

„Du und ich“, begann nach längerer Pause der Sohn, „du und ich sind seit dieser Stunde für immer geschieden, Vater, vorher aber will ich dir mit allen Zinsen das Geld zurückzahlen, das ich damals, um mich auszurüsten, aus deiner Kasse nahm. Etwa sechzig Taler waren es, für die du jetzt hundert von mir zurückerhältst. Damit bist du hoffentlich bezahlt, sollte das jedoch nicht der Fall sein, so stelle ich dir für den Rest einen Wechsel aus.“

„Vater im Himmel“, schluchzte die alte Frau, „vergelte ihm die Sünde nicht!“

Robert legte die Hand auf ihren gesenkten Scheitel. „Still, Mutter“, sagte er ruhig und kalt, „still – auch dein Sohn ist ein Mann.“

Er wollte die Brieftasche hervorziehen, aber der Alte hielt ihn zurück. „Einen Augenblick“, sagte er gebieterisch. „Laß die Komödie mit den sechzig Talern, du machst dich dadurch nur noch verächtlicher. Aber sag, wo du vor drei Jahren die Schmucksachen deiner Mutter verkauft hast, damit ich versuche, ob möglicherweise das eine oder andere zurückerworben werden kann.“

Robert stand sprachlos. „Die Schmucksachen meiner Mutter?“ wiederholte er.

„Ja. Die du zugleich mit den tausend Mark, – nein, nur neunhundertdreiundsechzig – die der Geldkasten enthielt, gestohlen hast.“

Robert sah von seiner Mutter zu dem Alten und wieder zurück. „Ich?“ fragte er, „ich? Wer behauptet solchen Wahnsinn?“

Die alte Frau faltete in ausbrechender Freude ihre Hände. „Vater, Vater“, rief sie jubelnd, „siehst du denn noch nicht, daß er unschuldig ist?“

Meister Kroll schien sie nicht zu hören. „Sag mir, wo du die Gegenstände verkauft hast“, wiederholte er.

„Ich weiß von alledem nichts, ich habe keinen Wertgegenstand, ich habe nicht mehr als sechzig Taler genommen, und die will ich zurückgeben.“

Robert sagte es mit dem festen Ton der Wahrheit, aber doch durchblitzte ihn im gleichen Augenblick ein Verdacht, der zu nahe lag, als daß er ihn hätte übersehen können. Hohe Röte stieg ihm ins Gesicht, er sah nicht auf, er schien in der Tasche die Mappe nicht zu finden.

Sollte Georg den Diebstahl begangen haben? Sollte der Dieb doch durch seine Schuld in das Haus gekommen sein?

„Sieh, Mutter, sieh, wie er zittert und rot wird“, sagte der Alte schmerzvoll. „Ist das die Sprache der Unschuld, arme Frau?“

Robert wollte nicht mehr antworten, sondern erst den ehemaligen Seiler zur Rechenschaft ziehen, bevor er über diese Angelegenheit auch nur ein einziges Wort weiter sprach. „Es ist gut, Vater“, sagte er kalt, „bleibe vorerst bei deiner Meinung. Ich fahre noch heute nach Hamburg zurück und wohne dort, wo meine Kiste steht, Vorsetzen Nr. 1000, im ›Richtigen Ankergrund‹. Betrachte mich, wenn ich dein Haus nicht wieder betreten kann, um mich zu rechtfertigen, als tot, denn dann sehen wir uns im Leben nie wieder. Einstweilen aber ist hier dein Geld.“ –

Er hatte bei diesen Worten die Brieftasche hervorgezogen und auseinandergeschlagen. Als er aber die Banknoten herausnehmen wollte, sah er, daß sie vollständig leer war.

Ein Schrei kam von seinen Lippen. „Mein Geld!“ rief er, „mein Geld! – O mein Gott, ich muß bestohlen worden sein.“

Meister Kroll sah ihn halb traurig, halb verächtlich an. „Laß die Possen“, sagte er kalt, „laß die Possen und bitte ehrlich und aufrichtig um Verzeihung, – dann soll dir vergeben sein.“

Auch die Mutter rang die Hände. „Robert, Robert, um Gottes willen, gib ein gutes Wort. Sag die Wahrheit, mein armes Kind, mehr verlangt ja der Vater nicht!“

Robert hörte nicht darauf. „Vater“, rief er, „du glaubst mir also nicht? Denkst du vielleicht auch, daß meine Behauptung, das Geld gehabt zu haben, eine Lüge war?“

Der Alte nickte. „Lüge, wie alles, was du sagst. Wer stiehlt und seinen Eltern den Gehorsam verweigert, weshalb sollte der nicht lügen?“

Robert wandte sich zum Gehen. „Es ist gut, Vater“, sagte er. „Es ist alles zu Ende. Ich werde mich von Hamburg aus freiwillig zum Kriegsdienst melden und wünsche, daß mich die erste Kugel treffen möchte, damit mir mein Vater verzeihen kann, was ich niemals getan habe. Sollte jedoch noch einmal die Stunde kommen, welche die ganze Sache in ihrem wahren Licht zeigt, so nimm heute schon meine Vergebung. Leb wohl!“

Er küßte seine schluchzende Mutter, steckte die Brieftasche wieder zu sich und ging mit festen Schritten aus der Tür. Nur der Hund wollte ihn begleiten, aber er mußte ihm wie damals mit strengem Ton befehlen, ihn allein ziehen zu lassen.

Die helle Herbstsonne schien auf die stillen Dächer, einige Sperlinge hüpften über die Straße, und Kinder spielten vor den Häusern.

Robert stand draußen, die Tür seines Elternhauses hatte sich für ihn auf immer geschlossen, der Gedanke einer Aussöhnung mit dem Vater war dahin und eine entsetzliche Öde bemächtigte sich seines Herzens. Dies Gefühl hatte auch der Jaguar gekannt, als er hungernd und krank in die Wälder zurückfloh, so war Mohr durch sein langes Leben gegangen, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Es lief ihm eiskalt über den Rücken herab. Zum erstenmal fühlte er sich vollkommen gebrochen. Ohne alle Mittel, verfolgt von dem Zorn seines Vaters, ungerecht beschuldigt und ohne einen Freund – wozu sollte er noch leben?

Er sah Mongos schwarzes Gesicht vor sich. – Ach, hätte er ihn in seiner Nähe gehabt, ihm hätte er alles anvertrauen können.

Langsam ging er weiter. Überall saubere Gärten und helle Fenster. Er sah die beladenen Erntewagen, das schwarzbunte Vieh und die großen Gehöfte, sah Menschen bei der Arbeit und fühlte sich von allem so ausgestoßen.

Er wollte fort von hier, wo es Menschen gab, die ihn kannten. Niemand sollte erfahren, daß er das Haus seines Vaters nicht mehr betreten durfte.

Fast laufend durcheilte er den kleinen Ort und folgte unwillkürlich der Straße nach Hamburg. Er besaß nicht einen Groschen, also blieb ihm nur übrig, den Weg zu Fuß zurückzulegen und vor allen Dingen erst einmal mit dem Seiler Abrechnung zu halten. Dann mußte vor allem die Seekiste verkauft werden, um nur das Allernotwendigste zum Leben zu haben, und darauf wollte er sich bei dem nächsten besten Reservebataillon einstellen lassen.

Er fühlte sich zerschlagen an Leib und Seele, selbst seine Vaterlandsliebe schien wie ausgestorben. Die Sonne brannte unbarmherzig herab, der Durst quälte ihn, und die Füße versagten schon jetzt bei Beginn der Wanderung den Dienst.

Und weiter ging er, immer weiter, am Himmel zog ein schweres Gewitter herauf und die Tropfen fielen erst langsam, dann schneller herab auf seine heiße Stirn. Er bemerkte es kaum, er sah nicht die schwarzen Regenwolken und spürte nicht die Feuchtigkeit, die ihm durch die Kleider drang. Ganze Schauer stürzten herab, und Robert troff vor Nässe. Als ihm mitleidige Menschen in Rellingen ein Obdach anboten, da schüttelte er nur stumm den Kopf und ging weiter.

Und einmal hörte er hinter sich die Stimme einer Bäuerin. „Mein Gott, ist das nicht Robert Kroll, den ich schon gekannt habe, als er noch nicht über den Tisch sehen konnte? – Lauft ihm doch nach, der arme Junge muß ja krank sein, er sah ganz verstört aus.“

Aber Robert lief, als habe er ein Verbrechen begangen.

Der Regen durchnäßte ihn bis auf die Haut, und seine Zunge klebte am Gaumen.

Er setzte sich auf einen Stein am Wege und stützte den Kopf in die hohle Hand. Seine Glieder schmerzten ihn. Unwillkürlich dachte er an den Tag in Lenchi, als er mit den beiden Gefährten so dasaß auf dem gestürzten Baumstamm, auch von Kopf bis zu den Füßen durchnäßt, auch ohne jegliche Aussicht, aber doch war ihm damals so ganz, ganz anders zu Mute gewesen als heute.

Noch nie hatte ihn ein äußeres Unglück beugen können. Heute aber spürte er zum ersten Mal die innere Qual der Reue, und ihr konnte er sich nicht widersetzen. Wie er gemessen hatte, so war ihm gemessen worden, wie er die schönsten Hoffnungen seiner Eltern zerstört und ihr Eigentum ohne Erlaubnis an sich genommen hatte, so mußte er, es jetzt selbst erfahren.

Aber diesmal erwachte nicht sein Trotz, diesmal ballte er nicht die Faust, wie er es sonst wohl getan haben würde, sondern er senkte den Kopf noch tiefer herab und gab sich immer mehr seinen trostlosen, bitteren Gefühlen hin.

Zum erstenmal erkannte er die Gerechtigkeit des Schicksals, er sah sein Unrecht ein, und es schmerzte ihn tief.

Viertelstunde auf Viertelstunde verging, da tönte Hufschlag auf der durchnäßten Landstraße. Robert fuhr erschrocken auf, er horchte und spähte durch das Gebüsch. Wenn zufällig ein Gendarm oder Polizist des Weges kam, so mußte er gerade jetzt im Kriege darauf gefaßt sein, nach seinem Paß gefragt und, da er gänzlich ohne Papiere war, zur nächsten Polizeistation geführt zu werden. Einige schnelle Schritte, ein rascher Sprung, und er stand hinter einem Baum.

Seine Geschichte anderen erzählen, das konnte er nicht, also blieb ihm nichts übrig, als nur das Versteck unter den tropfenden Zweigen?

Als der Gendarm vorüber war, ging Robert auf der Straße weiter, immer weiter, bis er die ersten Häuser von Altona erreicht hatte. Es dämmerte jetzt bereits, seine Stirn brannte, und er spürte, daß er den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Nur wie im Traum setzte er seinen Marsch durch die Stadt fort.

„Wenigstens heute kann ich mich ruhig schlafen legen“, dachte er, „die Kiste sichert ja dem Wirt das Geld, das ich ihm für ein Abendbrot und für die Schlafstelle schuldig bin. Ich könnte jetzt nicht mehr zu einem Trödler laufen und um einige Groschen feilschen. Auch Georg kommt morgen erst an die Reihe – er ist ja ein Gefangener und kann mir nicht entkommen.“


Nachdem er sich verschiedene Male in der Straße geirrt hatte, erreichte er endlich das Hafentor. Jetzt war er seinem Ziel nahe, hatte die Aussicht, bald ins Bett zu kommen und vorher etwas zu essen, daher wurde er unwillkürlich etwas ruhiger.

Von weitem erkannte er die Buchstaben des Schildes. Der „Richtige Ankergrund“ war noch offen, obwohl es schon nach zehn Uhr war und draußen im strömenden Regen kaum noch ein Mensch zu sehen war.

Gerade an der Biegung der Straße, in der Nähe des Gasthauses, öffnete sich der Blick auf das Wasser. Im Dämmergrau des Abends und der nassen Luft ragte der Mastenwald unheimlich bis zu den Wolken empor, das Takelwerk knarrte und knisterte im Wind. Mehrere Matrosen, Arm in Arm, offenbar etwas angeheitert, lavierten singend über die ganze Breite der Straße.

„Lieb Vaterland magst ruhig sein, –

Fest steht und treu die Wacht am Rhein.“
Es griff wie Krallen in Roberts Herz. Alles war für ihn verloren. Wenn er diese Schiffe sah, diese Matrosen, wenn er ihr fröhliches Singen hörte, dann glaubte er nicht länger leben zu können, ohne wahnsinnig zu werden. An die Mauer gelehnt, umtobt von den Schauern des Regens und dem Sausen des Sturms, blickte er über den Hafen. Wo war all sein Stolz geblieben?

Jetzt wußte er es. Was ihn in aller Not gehalten und ihn so mutig und zuversichtlich gemacht hatte, das war immer die Überzeugung gewesen, mit einem einzigen guten Wort sein Vergehen wieder gutmachen und seine Eltern versöhnen zu können. Heute dagegen hatte er Vater und Mutter für immer verloren, heute war er aus dem Elternhause fortgewiesen worden, ein heimatloser Bettler.

Der ganze Schmerz des Alleinseins ergriff sein junges Herz. Den Kopf in die Hand gelegt, bemühte er sich, die Tränen zurückzuhalten, die der Schmerz und die getäuschte Hoffnung von drei langen Jahren unwiderstehlich heraufgelockt hatten.

Ein Schatten kreuzte die Straße. Aus dem Dunkel des nächsten Torweges trat eine Gestalt im langen, altmodischen Gehrock, den derben Stock in der Hand, das graue Haar vom Regen an die Schläfen gepreßt, das bleiche Gesicht voll Gram und Angst. Langsam näherte sich der Alte dem weinenden jungen Menschen, – und kaum vernehmbar klang es durch das Brausen des Windes: „Robert! –“

Er taumelte auf, er glaubte, daß sich die Erde drehe, daß er träumen müsse oder daß ihn ein Spuk auf offener Straße quäle. Beide Arme vorgestreckt, starrte er in das Gesicht des vor ihm Stehenden. Kein Laut kam über seine Lippen.

Da fragte der Alte noch einmal. „Robert, willst du mir nicht antworten?“

Das klang so ernst, so traurig, das rührte das verzweifelte Herz des Sohnes, daß es bebte unter diesem Eindruck.

„Vater!“ flüsterte er gequält, „Vater – du hast mich einen Dieb genannt!“

Der Alte zog ihn an der Hand zur nächsten Gaslaterne. „Robert“, sagte er, „schau mich an und sag mir die Wahrheit. Hast du die Schmucksachen deiner Mutter – von dem Geld will ich nicht einmal reden – wirklich nicht genommen?“

Robert war kreidebleich, seine Lippen zuckten krampfhaft. Fast unfähig zu sprechen, hob er die Rechte zum Himmel. „Bei dem Gott, an den wir beide glauben“, stammelte er kaum hörbar, „ich habe es nicht getan und nichts davon gewußt.“

Der Alte sah ihn an, lange, unbeweglich und, wie es schien, erlöst von schwerem Druck. „Das kann mein Sohn nicht lügen“, antwortete er endlich. „Robert – willst du jetzt deine Bitte von heute morgen noch einmal wiederholen? Willst du –“

Robert ließ ihn nicht ausreden. Mit beiden Armen seinen Hals umschlingend, warf er sich schluchzend an die Brust des alten Mannes. „Vater“, quoll es von seinen Lippen, „lieber Vater, vergib mir, ich bitte dich tausend – tausendmal.“

Auch die Stimme des eigensinnigen, alten Meisters war seltsam weich geworden. „Es ist gut“, erwiderte er, „alles gut. Komm nur rasch, daß wir die Mutter beruhigen, sie war ja fast außer sich heute morgen und nannte mich einen Rabenvater, der sein Kind in den Tod treiben wolle. Komm, wir müssen uns beeilen, damit wir eine Droschke bekommen.“

Robert atmete wie neu belebt. „Vater“, sagte er, „das geht nicht, ich muß vorher mit Georg sprechen, muß ihn fragen –“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Ich kann dir alles das genau erzählen, Robert, er aber könnte es nicht mehr. – Laß uns laufen, mein Junge.“

Robert gehorchte, und als wenige Schritte weiter beim Hafentor eine Droschke gefunden war, gingen die beiden erst in ein Wirtshaus, um sich zu stärken. Als das Fuhrwerk mit ihnen durch Altona denselben Weg wieder zurückrollte, den Robert unter so ganz anderen Umständen eben erst gekommen war, da er zählte Meister Kroll seinem atemlos lauschenden Sohn, daß am heutigen Morgen der ehemalige Seiler einen Fluchtversuch gemacht habe, indem er versuchte, ein im Hafen liegendes französisches Handelsschiff zu erreichen, und daß er dabei gefaßt und tödlich verwundet worden sei.

„Der Bursche verlangte sterbend nach dir, mein Sohn“, schloß der Alte seinen Bericht, „er wollte durchaus, daß du ihm verzeihst, ehe er diese Welt verlassen müsse, und ist endlich ohne Frieden und Versöhnung hinübergegangen. Gott sei seiner armen Seele gnädig.“

Robert war von dieser Nachricht tief erschüttert, es fiel ihm schwer, sich in die so plötzlich veränderten Verhältnisse hineinzufinden. Dann aber fragte er den Vater, woher er diese Einzelheiten habe, und Meister Kroll nannte ihm den Wirt zum „Richtigen Ankergrund“ als seinen Gewährsmann. „Es ist auch der Polizei ein Päckchen zugestellt worden“, sagte er, „das der Sterbende für dich bestimmte und dem Aufzeichnungen beiliegen, die er kurz vor seinem Tode noch diktierte. Jetzt aber, mein Junge, – laß uns von dir sprechen“, schloß er, „und was du für deine Zukunft geplant hast. Ich will den Seemann in dir anerkennen, da du doch zum Schneider ganz und gar verdorben zu sein scheinst. Das schneidet mir freilich fast das Herz ab und spricht allen meinen Wünschen ein Todesurteil, aber wenn sich die Welt dahin geändert hat, daß die Söhne eigenmächtig über ihr Schicksal entscheiden dürfen, nun, dann muß ich mich eben wohl oder übel fügen. Ein Rabenvater bin ich doch nicht, – das soll mir die Mutter noch abbitten.“

Robert lachte zum erstenmal wieder. Er hatte es ja schon längst geahnt, daß die liebe alte Mutter dem starrköpfigen Mann solange zugesetzt hatte, bis er endlich mürbe geworden, in den langen Rock gefahren und davongeeilt war, dem zum zweitenmal flüchtigen Sohn nach. Nun hatte sich ja alles zum besten gewendet, und während der ganzen Fahrt berichtete Robert vom Vergangenen und Zukünftigen, erkundigte sich Meister Kroll nach allen Einzelheiten so genau und wurde so lebhaft gesprochen, daß den beiden die Fahrt wie im Flug verging.

Die Mutter wachte noch, sie hatte heißen Kaffee gekocht und frische Semmeln herbeigeholt, auf dem Tisch stand Roberts Teller von früher her, seine Tasse, sein Besteck, – viele Worte wurden nicht gesprochen, aber es war wie Weihnachten bei den drei Menschen in dem kleinen Häuschen.

Und dann mußte sich Robert in das Bett legen, in dem er als Kind geschlafen hatte, die beiden alten Leute aber schlichen leise auf den Zehenspitzen umher.

Die Mutter hantierte geräuschlos in der Küche, als ob eine ganze hungrige Kompanie Soldaten bewirtet werden sollte, und Meister Kroll saß mit gekreuzten Beinen auf dem uralten Thron seiner Väter und nähte emsig. Das Maß zu dem neuen Anzug aber hatte er an den Kleidern seines Sohnes genommen.

Und Robert selbst? – – Er schlief, und im Traum erblickte er ein liebes, bekanntes Gesicht. Der Geisterseher von der ›Antje Marie‹ beugte sich über ihn herab, aber jetzt nicht mehr ernst und trübsinnig wie früher, sondern lächelnd, heiter lächelnd.

Nach wenigen Stunden wußte ganz Pinneberg, daß Robert Kroll wieder da sei. Man umdrängte ihn, er wurde der Held des Tages, man staunte und hörte zu mit allen Ohren, wenn er von seinen wunderbaren Erlebnissen sprach. Jetzt hatten alle diese guten Leute vorausgesehen, daß das so kommen mußte, niemand hatte je an dem Wiedererscheinen des Ausreißers und an seiner Tüchtigkeit gezweifelt, sondern jeder erinnerte sich, gerade dieses glückliche Ende mit Sicherheit vorausgesehen zu haben. Robert erhielt Einladungen über Einladungen, die er aber fast alle ablehnte, bis auf einen Besuch, den er wirklich gern machte.

Als die Hamburger Polizeibehörde das für Robert bestimmte Päckchen des gestorbenen französischen Gefangenen nach Pinneberg weitergeleitet hatte, fand sich nicht allein das ganze Geld, sondern auch ein umfassendes, reumütiges Geständnis des ersten und zweiten Diebstahls, so daß Robert in den Augen seiner Eltern vollständig gerechtfertigt war. Es blieb nur die eigentliche Flucht und die Zwangsanleihe von sechzig Talern, die Robert niemals zu Gesicht bekommen hatte, – beides aber wurde ihm und war ihm längst von Herzen vergeben.

Meister Kroll wickelte die Banknoten wieder in das Papier. „Da, mein Junge“, sagte er, „geh hin und bring das Geld den Eltern deines Freundes. Die alten Leute haben im Armenhause eine böse Zeit verlebt, so daß ihnen die Erlösung aus solchen Verhältnissen wohl zu gönnen ist. Wir können's ja tun, und nebenbei – – ich mag auch das einmal Gestohlene gar nicht besitzen. Der Georg war ein Spion, weiter nichts, er hatte sich mit Absicht zum Gefangenen machen lassen, um hier die Lage und Stärke der Armee auszukundschaften und dem Feinde zu hinterbringen. Mit solchen Dingen wollen wir nichts zu schaffen haben.“

Robert nahm dankbar das Geld und ging hinaus vor den Ort, um es im Armenhause Gottliebs alten Eltern zu überreichen. Er sagte aber, daß es von ihrem Sohn komme, und sparte auf diese Weise den armen Leuten das schwere Wort des Dankes.

Als er nach Hause zurückkam, fand er dort den Schein des Landwehrbezirkskommandos, der ihn sofort nach Kiel rief, um von dort aus mit einem für den Schutz der Handelsschiffe nach dem Mittelmeer bestimmten Dampfer an Bord des Kanonenbootes „Meteor“ gebracht zu werden. Das Schiff lag im Hafen von Havanna, und sein Kommandant, Kapitänleutnant Knorr, hatte kürzlich telegraphisch um etwa zehn Mann Verstärkung gebeten, zu denen auch Robert gehören sollte.

Der Abschied von den Eltern war zwar schwer, aber er war das, was man einen ›gesunden Schmerz‹ nennt, und wurde deshalb leichter ertragen. Acht Tage später war Robert, von den Segenswünschen seiner Eltern begleitet, schon wieder auf hoher See.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Robert der Schiffsjunge