Fünftes Buch. - Rinaldo setzte seine Besuche bei der Gräfin nun, in ihrem Hause sowohl als auf ihrer Villa, fleißig fort, und Laura hatten keinen Teil mehr an seinem Herzen. ...

Fünftes Buch

Wo suchst du Schutz? Wie kannst du hoffen
Am Ziel der Wünsche hier zu stehn?
Da stehst du staunend und betroffen,
Und wagst’s kaum weiter fort zu gehn.


Rinaldo setzte seine Besuche bei der Gräfin nun, in ihrem Hause sowohl als auf ihrer Villa, fleißig fort, und Laura hatten keinen Teil mehr an seinem Herzen.

Der Marchese kam von seiner Reise zurück und sprach viel von dem Alten von Fronteja, bei dem er Rinaldo einführen wollte. Auf seine Frage, wer denn eigentlich dieser Alte von Fronteja sei? antwortete der Marchese:

„Er ist vielleicht der Weiseste seiner Zeit. Ein Philosoph, der in die geheimsten Mysterien der sogenannten Krata Repoa ganz eingedrungen ist und Dinge entwickelt hat, wovon bisher kein Mensch etwas Zuverlässiges wußte.“

„Ich verstehe aber nicht“, – sagte Rinaldo, – „was mir diese Bekanntschaft helfen soll? Ich werde doch nicht auch in die Mysterien der Krata Repoa eindringen sollen? Dazu habe ich weder Kopf noch Lust.“

„Der Zweck, zu welchem wir uns vereinigen“, – antwortete der Marchese, – „erfordert auch Kenntnisse dieser Sachen.“

Das ganze Haus war auf diesen Abend zu der Gräfin auf ihre Villa geladen, und Rinaldo war der erste, der sich dort einfand.

Die Gesellschaft speiste im Pavillon, man war sehr lustig und vergnügt. – Nach Tische setzte man sich auf die Bänke eines freien Platzes vor dem Pavillon und wollte eben ein Gesellschaftsspiel anfangen, als ein paar Diener mit Windlichtern einen Fremden herbeiführten, der, wie sie sagten, den Marchese zu sprechen wünschte.

Der Marchese stieg auf, und der Fremde trat herzu. Kaum erblickte er Rinaldo, als er nach dem Degen griff und schrie:

„Ha, Meuchelmörder! Finde ich dich hier?“

„Wer sagt mir das?“ – fragte Rinaldo, zog den Degen und erkannte in seinem Gegner den bewußten Kapitän.

„Ich sag es!“ – knirschte dieser.

Sogleich waren die Klingen aneinander. – In dem Augenblick fiel aus dem Boskett ein Schuß und der Kapitän stürzte zu Boden.

Die Verwirrung wurde allgemein. Man jammerte, schrie, lief durcheinander. Die Bedienten stürzten bewaffnet herbei; alles kam in Aufruhr.

Die Gräfin hatte Gegenwart des Geistes genug, den Ritter in den Pavillon zu ziehen, der von allen verlassen war, und die Tür hinter ihm abzuschließen.

Rinaldo wußte nicht, wie ihm geschehen war. Er saß in banger Erwartung einige Stunden allein und konnte sich nicht denken, wie das enden sollte. – Endlich wurde die Tür des Pavillons geöffnet und die Gräfin trat ein.

„Ist der Kapitän tot?“ fragte Rinaldo.

„Er liegt schwer verwundet in der Villa“, – antwortete die Gräfin, und fuhr fort: – „Ohne zu untersuchen, auf wessen Unkosten hier so blutig gespielt worden ist, suche ich Dich zu retten. Tief in den Bergen von Remata habe ich ein Schloß, wo Dich keine Seele suchen oder finden wird. Dorthin mußt Du vorderhand fliehen. Hier ist ein Brief an den Castellan des Schlosses, in welchem ich Dich Baron Tegnano, meinen Verwandten, nenne. Ein Pferd steht gesattelt vor dem Garten. Gott geleite Dich! Dur wirst Nachricht von mir erhalten, und so bald als möglich folge ich Dir selbst nach.“

Sie sprach’s, küßte ihn herzlich und benetzte seine Wangen mit Tränen. Endlich riß sie sich von ihm los und führte ihn zur Gartentür, wo das Pferd stand. Rinaldo setzte sich auf und nahm seinen Weg auf eine ungewisse Beschreibung gerade ins Land hinein.

Die Nacht war schön. Der Vollmond glänzte hell hernieder. Alles war still im weiten Reiche der Luft und auf der Erde. Auf der Anhöhe bewegte sich, gleich einem Schatten, eine menschliche Gestalt hin und her. Rinaldo hielt sein Pferd an, blickte hinauf, und die Gestalt kam näher.

„Wer ist hier?“ – fragte er.

Von oben herab kam die Antwort:

„Einer, der Euch kennt, wenn Ihr Graf Mandochini seid. – Ich weiß aber noch einen Namen von Euch, den ich auch nicht einmal der schweigenden Nacht anvertrauen mag.“

RINALDO Aha! Du bist Lodovico? – Wie kommst du hierher?

LODOVICO Wohin kommt man nicht in der Welt! – In Kalabrien hatte ich den Kapitän derb getroffen; aber Unkraut verdirbt nicht. Der Spitzbube ist wieder kuriert. – Ich schiffte mich in Kalabrien ein und kam nach Messina. Ich sah Euch zweimal, aber in viel zu vornehmer Gesellschaft, um Euch sprechen zu können. Wie Ihr hier heißt, wußte ich nicht und konnte Euch nicht erfragen. Ich hätte vor lauter Spekulationen, zu Euch zu kommen, schier des Teufels werden mögen! Mißmutig gehe ich heute in den Hafen und sehe – denkt Euch meine Augen! – den elementischen Kapitän. Lebt also der Kerl noch? Tausend Wetter und alle Teufel! – Jetzt dachte ich: könntest du doch deinen Hauptmann finden, ihm zu sagen, wer dir erschienen ist! – Ich schleiche allenthalben herum, erblicke Euch, wie Ihr nach der Villa geht, und gehe Euch nach. Ich mache Bekanntschaft mit den Bedienten, gebe mich für einen reisenden Fechtmeister aus und erkundige mich, in wessen Eigentum ich bin. Ich merkte wohl, daß es in der Villa ein Traktamentchen geben sollte – und als ich die Pasteten und Kuchen vorbeitragen sah, dachte ich, ich müßte, so auf alte Manier, gleich zugreifen: denn in meinem Magen sieht’s aus wie in einer Armenbüchse. Genug, da ich das merkte, dachte ich, nun wird’s doch endlich einmal Gelegenheit geben, deinen Hauptmann zu sprechen; schlich mich wieder in den Garten und versteckte mich in ein Boskett. – Kommt da der Teufelskerl von Kapitän auch angestochen. Ich laure, höre jedes Wort, seh’ Eure Degen blank – paff! brenne ich los, und der Korse liegt am Boden. Getroffen habe ich ihn. Ist er nicht tot, so ist’s nicht meine Schuld. Aber, alle Wetter, wie war ich aus dem Garten hinaus. In der Entfernung sehe ich ein Pferd bringen, Ihr stiegt auf, ich gehe Euch nach, und seht, da bin ich, Euch zu folgen, wohin Ihr geht, wenn Ihr mir es erlauben wollt. –

RINALDO Du gehst mit mir.

LODOVICO Gratias! Wenn’s nur schon Tag, und wenn nur ein Gasthof in der Nähe wär’, ich habe Hunger wie ein Wolf. Seht! nun sind wir unserer zwei. Da reiset sich’s schon besser. Ich habe ein paar gute Puffer bei mir, und ehe sie Euch totschlagen, muß ich keinen Knochen mehr rühren können.

So schwadronierte Lodovico fort, bis der Tag anbrach und sie sich in einem Dorfe befanden, wo sie Halt machten. – Es wurde gegessen und getrunken, und Rinaldo kaufte ein Maultier für Lodovico. Bald saßen sie auf und setzten ihren Weg fort.

Ohne Gefahr und Abenteuer kamen sie den sechsten Tag endlich glücklich an dem Orte ihrer Bestimmung an.

Das Schloß lag mitten im Gebirge, unter Bergen, auf dem höchsten derselben, war mit Mauern und Gräben umgeben, hatte Zugbrücken und war ziemlich fest. – Der Castellan des Schlosses, ein alter, etwas mürrischer, aber dabei ziemlich gutherziger Knabe, ehemals Haushofmeister des Vaters der Gräfin, hatte ihren Brief gelesen und sagte ganz trocken:

„Dem Herrn Baron steht das ganze Schloß zu Befehl, nach dem Willen der Frau Gräfin.“

Rinaldo nahm Besitz von ein paar alten, niedlichen, altväterisch möblierten Zimmern.

Der Castellan, seine Frau, seine Tochter, eine Magd und ein alter Invalid, der ehemals unter dem Vater der Gräfin Spanien gedient hatte und hier das Gnadenbrot verzehrte, das ihm die Gräfin reichte, waren die Bewohner des Schlosses, deren Anzahl nun ganz unerwartet vermehrt wurde.

Um den Vorrat sah es in dem Schlosse nicht zum besten aus. Daher machte Rinaldo sogleich Anstalt, diesen Artikel in besseres Ansehen zu bringen. Lodovico, der Invalid Giorgio und die Magd wurden ausgeschickt, kauften ein, trieben beladene Esel herbei und verproviantierten Küche, Schränke und Vorratskammern der Castellanin. Der Schloßhof wurde bald mit Geflügel bevölkert. Der Weinkeller war in gutem Zustande. Dazu überlieferte der Castellan die versiegelten Schlüssel. – In kurzem kam mehr Leben ins Schloß und die alten, vormaligen stumpfen Bewohner desselben wurden tätig, munter und aufgeräumt.

Rinaldo saß auf der alten Bergfeste, überschaute rund umher die Gegend, ging spazieren, durchlas alte Chroniken, ließ sich von dem Castellan Abenteuer aus der Gegend und von Giorgio seine Feldzüge erzählen.

Einst saßen sie auch beisammen und hatten sich in Abenteuer vertieft, die ihren Weg geradezu ins verrufene Geisterreich nahmen, als der Castellan begann:

„Ach! lieber lieber Herr Baron! es läßt sich von dieser Art manches aus unserer Gegend erzählen; aber nicht allein aus unserer Gegend, sondern auch sogar aus unserm Schlosse.“

GIORGIO Ja, ja! Das ist richtig.

RINALDO So? – Und was gibt es hier? Geisterspuk?

CASTELLAN In dem hintern Saale, vor dessen Tür die großen Schlösser hängen, ist’s traun nicht recht geheuer.

LODOVICO Habt ihr etwas gesehen?

GIORGIO Ich nicht, aber gehört habe ich genug. Aber da, das Mädchen, Lisberta, des Castellans Tochter, die hat etwas gesehen!

LISBERTA Ja! – Voriges Jahr wollte die Frau Gräfin hierherkommen – da putzten und fegten wir das Schloß. Ich mußte den großen Saal auskehren, aus dem eine verschlossene Treppe hinab, ich weiß nicht wohin, geht, weil die untere Treppentür beständig von innen verschlossen gewesen ist, wie mein Vater gar nicht anders weiß.

CASTELLAN Beständig. – Es hat sich auch, so lange ich hier bin, kein Mensch die Mühe genommen, der Sache weiter nachzuspüren, weil niemand zu uns kommt. Selbst die Frau Gräfin ist nur ein einzigesmal, drei Tage lang, hier gewesen.

LISBERTA Wie ich nun so den Saal ausgekehrt hatte, stehe ich so ganz still und putze im Fenster einen Wandleuchter ab. Da höre ich Fußtritte. Ich denke, es ist mein Vater oder sonst jemand, und achte nicht weiter darauf. Wie es aber immer näher kommt, drehe ich mich herum und sehe in der obern Treppentür eine große, lange, hagere Figur mit einem Barte stehen. Weiter weiß ich nichts zu sagen. Ich sank ohnmächtig zu Boden, und als ich wieder zu mir kam, war die Figur verschwunden. – Das ist gewiß wahr, und darauf kann ich jede Stunde das Sakrament nehmen.

RINALDO Da wir jetzt Zeit und Muße dazu haben, wollen wir doch gleich morgen das Spuk-Terrain untersuchen.

CASTELLAN Mich nehmt nicht dazu. Zu so etwas tauge ich nicht.

RINALDO Ich und mein Lodovico wollen das allein tun. Giorgio müßte uns denn auch etwa freiwillig begleiten wollen? Er ist ja ein alter Soldat.

GIORGIO Ja, ich bin dabei! Ich mache diese Kampagne mit.

LISBERTA Herr Baron, laßt’s ununtersucht. Man kann nicht wissen, wie’s ausfällt.

RINALDO Sei ohne Sorge! Ich verstehe mich ein wenig aufs Geisterbannen.

LISBERTA Wenn Ihr nur Eurer Sache gewiß seid, daß es Euch nicht geht wie dem Bruder Bonifaz, dem Kapuziner, der’s Geisterbannen auch hat verstehen wollen und es nicht recht verstand, und den die Geister windelweich gedroschen haben.

LODOVICO Das sind handfeste Geister gewesen!

LISBERTA Ja, gewiß! der gute Herr hat ein Vierteljahr darüber zu Bette gelegen. Er lebt noch, und Ihr könnt ihn jede Minute selbst fragen.

LODOVICO Nun! Wir haben auch Fäuste, und wo es Schläge setzt, da fallen unsere auch wieder hin.

RINALDO Du wirst mich doch warten und pflegen, wenn ich abgeprügelt zurückkomme?

LISBERTA Ach ja! herzlich gern. Und Ihr und Lodovico könnt wohl auch einen Puff vertragen. Wie es aber um Giorgio aussehen würde, wenn man ihm über die morschen Knochen käm’, das weiß ich nicht.

GIORGIO Jüngferchen, sei sie nicht naseweis! Meine Knochen sind noch gut. Hätte ich nur vor Barcelona nicht den fatalen Schuß in die Hüfte bekommen, ich wollte mit ihr noch einen Corso anstellen. Ich habe eine eisenfeste Natur. Aber freilich der Schuß vor Barcelona und der Hieb bei Bellegarde in die rechte Achsel – so etwas kann einen schon labet machen. – Aber auf die Entdeckung nach dem Geisterrevier im Schlosse gehe ich doch mit. Mein Sarras ist noch blank.

Dies und dergleichen mehr wurde gesprochen. Rinaldo aber nahm sich ernstlich vor, die Untersuchung anzustellen, was auch den folgenden Tag geschah.

Die großen Schlösser an der Saaltür wurden aufgeschlossen, die Riegel fielen, die Tür wurde geöffnet. Ein paar Fledermäuse erblickten Licht, flogen dem Castellan an den Kopf und dieser fiel zu Boden. – Die Fledermäuse wurden totgeschlagen und die Fensterladen des Saals geöffnet. Der Castellan nahm Abschied von den drei Abenteurern. Lisberta zündete drei Kerzen an und empfahl die Herren dem Schutze der heiligen Jungfrau, des heiligen Antonio und des heiligen Florian. Darauf begab sie sich gleichfalls weg, versicherte aber, sie würde recht herzlich für sie alle beten.

Der Saal, ein breites Viereck, war mit alten Tapeten ausgeschlagen und einige Bildnisse, Familienstücke der Gräfin, hingen an den Wänden. Möbel waren nirgends zu sehen.

Sie öffneten die Tür der Treppe und stiegen sechsunddreißig Stufen hinab, bis sie vor einer Tür standen, die, wie schon gesagt, von innen verschlossen war. Die Tür schien alt und morsch zu sein und war es auch wirklich. Sie legten Brecheisen an, und im Nu brach das alte Stück Arbeit zusammen, aber die innern starken Riegel waren nicht gewichen. Mit dumpfem Schall gab das Echo eines Gewölbes das krachende Getös zurück. – Sie krochen unter den Riegeln hinweg und befanden sich in einem etwas über manneshohen und halb so breiten gewölbten Gange.

Etliche zwanzig Schritte weit waren sie gegangen, als sie an einige Stufen kamen, die tiefer hinabführten. Nach einer kleinen Strecke Gang kamen mehrere Stufen, und der Gang ging nun etwas niedriger schräg hinab und führte in ein gewölbtes Rundteil, dessen Ausgang wieder mit einer von außen verriegelten Tür verschlossen war.

„Was ich aber nicht recht begreifen kann, das ist, daß die Türen alle von außen verriegelt sind“, sagte Rinaldo.

Sie legten eben Hand an, auch diese Tür einzusprengen, als sie von innen her, ganz deutlich und laut:

„Wehe! wehe! wehe!“

rufen hörten. – Giorgio stürzte bei diesen Tönen sogleich zusammen, fing an, am ganzen Leibe zu zittern, und klapperte mit den Zähnen. – Lodovico schleifte ihn durch den Gang zurück und brachte ihn mit Mühe auf den Saal, wo der Held Konvulsionen bekam. – Lodovico machte Lärm im Schlosse. Man trug Giorgio auf ein Bett, wo ihm von Lodovico eine Ader geöffnet ward, und die Castellanin, die sich in der Angst nicht besser zu helfen wußte, gab ihm Magentropfen ein. –

Der Castellan, der sich von seinem Fledermaus-Schreck selbst noch nicht recht erholt hatte, kam herbeigekrochen, betete und fluchte durcheinander. Lisberta und ihre Mutter sangen mit zitternden Stimmen einen Bußgesang; Lodovico leerte ganz gelassen schnell eine halbe Flasche Wein aus.

Indessen stand Rinaldo an der Wehepforte nicht müßig. Er klopfte an und schrie:

„Wer auch hier sein mag, er öffne die Tür, oder sie wird eingebrochen!“

Von drinnen heraus ertönte die Frage:

„Wer stört die Unterirdischen in ihrer stillen Beschäftigung?“

„Einer, der sie kennenlernen will.“

„Wir verlangen ihn nicht zu sehen.“

„Macht auf, oder die Tür wird eingebrochen!“

„Kannst du“, – fragte man drinnen, – „die Anblicke dessen, was unterirdisch ist, ertragen, so laß dir von dem Grafen Martagno die Schlüssel zu dieser Tür geben.“

„Der Graf Martagno“, sagte Rinaldo – „gibt mir keine Schlüssel. Er lebt nicht mehr.“

„Er ist tot?“

„Schon seit zwei Jahren tot.“

Hier entstand eine Pause, die Rinaldo zu lange dauerte. Er setzte ein Brecheisen an, und die Tür sprang auf.

Da stand er, in einem finstern Gewölbe. Eine lange Figur schlüpfte schwebend davon. Rinaldo eilte ihr nach, sie schlug eine eiserne Tür rasselnd hinter sich zu. Rinaldo stürzte über eine Bank und seine Kerze verlosch. Aus einem Winkel hervor jammerte eine weibliche Stimme:

„Gerechter Himmel, ende meine Tage!“

Das fuhr Rinaldo durch Mark und Gebein. Er raffte sich auf und fragte mit bebender Stimme: „Wer spricht hier?“

„Darf ich dich Retter nennen, so wisse, ein über alles unglückliches Geschöpf fleht dich um Mitleid an. Ja, und wenn du selbst der grausame Graf Martagno wärst, so müßtest du, säh’st du mein Elend, mich wieder aus diesem Kerker an die schöne Sonne ziehen, deren glänzenden Anblick ich nun schon so lange entbehre“, – antwortete die Stimme.

„Der Graf Martagno ist tot.“

„Tot? – Gelobt sei Gott! so wird sich mein Leiden endigen.“

Jetzt vernahm Rinaldo Fußtritte und hörte von weitem seinen Namen rufen. Er gab Antwort. – Es war Lodovico, dessen brennende Kerzen sehr gelegen kamen. Rinaldo suchte und fand seine Kerze, zündete sie auch an und fragte: „Stimme, die du mit mir sprachst, wo ist dein Aufenthalt?“

Durch ein rundes, etwa ellenhohes Seitenloch kam die Antwort: „Hier! – Ich Unglückliche bin in einen engen Kerker vermauert und habe keine Öffnung als dieses Loch, durch welches mir meine kärgliche Kost gereicht wurde.“

Rinaldo leuchtete hin und sah ein kreideweißes, eingefallenes Gesicht mit geschlossenen Augen vor der Öffnung stehen. Dieser Anblick fuhr wie ein Blitz durch seine Nerven und versteinerte selbst Lodovico.

„Ach!“ – seufzte die Eingekerkerte und trat zu rück, – „meine Augen können den Glanz des Lichtes nicht ertragen.“

Rinaldo bedachte sich ein wenig, und um sich auf jeden Fall den Rücken zu sichern, untersuchte er die eiserne Tür, die die fliehende Gestalt hinter sich zugeschlagen hatte. Er schickte Lodovico zurück, einige Werkzeuge und große Vorlegeschlösser zu holen, denn er fand starke Kreuzriegel und Bänder, die an den Seiten der Tür herabhingen. Von allem aber, was er hier gesehen habe, gebot er ihm, im Schlosse keine Silbe zu sagen.

Als Lodovico fort war, fragte Rinaldo die Eingekerkerte:

„Hast du hier nie Licht gesehen?“

SIE Zuweilen eine dunkelbrennende Lampe, wenn mir Stroh oder Brot und Wasser gebracht wurde.

ER Gewöhne deinen Blick nach und nach an den Schein der Kerzen, damit du das Tageslicht ertragen kannst.

SIE Willst du mich erlösen?

ER Ich will und werde.

SIE Endlich! endlich! Allmächtiger Gott! ich danke dir auf den Knien. Belohne meinen Retter und schenk ihm deinen Segen. Gib ihm die schönsten Freuden eines glücklichen Lebens und sei Vergelter seiner guten Tat. Erhöre, erhöre mein Gebet, du gütiger Vater aller guten Menschen!

Rinaldo lehnte sich an die Mauer und seufzte:

„Ach Gott! lehre mich wieder so herzlich zu beten, wie ich in meiner Jugend es konnte.“

Als Lodovico zurückkam, war er nicht allein mit Vorlegeschlössern belastet, sondern er brachte auch ein kleines Fläschchen guten Wein, einige Früchte und Gebackenes mit, für „die unglückliche, unbekannte, leichenblasse Figur“, wie er sich ausdrückte.

„Das hast du wahrlich gut gemacht, Lodovico!“ – sagte Rinaldo und teilte der Eingekerkerten mit, was ihr beschieden war.

Diese empfing es mit dem heißesten Dank, und indes sie sich labte, hoben ihre Retter die hängenden Riegel der eisernen Tür hinauf und befestigten sie mit Schlössern. Dann machten sie sich an die Arbeit, ergriffen Hacken und Brecheisen, legten Hand an und erweiterten das Kerkerloch bald so gut, daß die Eingekerkerte hindurchkriechen konnte. Sie fiel auf die Knie und betete, sobald sie befreit war.

Himmel! welch ein Anblick? Eingefallen, blaß, hager, ein halbes Gerippe, mit vermoderten Lumpen umhüllt, ihre Blöße zu decken! Sie wankte, an Rinaldo gelehnt, den Gang hinauf und bedeckte, des Tageslichtes ungewohnt, als sie in den Saal kam, ihr Gesicht mit der Hand. Die frische Luft nicht gewohnt, sank sie zu Boden. Rinaldo trug sie in sein Zimmer und legte sie auf ein Bett. Hier fiel sie ganz kraftlos sogleich in einen tiefen Schlummer, und Rinaldo verschloß hinter ihr die Tür.

Er schickte Lodovico in den benachbarten Ort, weibliche Kleidungsstücke einzukaufen. – Mit Hilfe des Castellans schaffte er eine andere Tür vor die Treppe, verwahrte sie wohl, führte dann diesen in das Zimmer, in welchem die Befreite auf dem Bette lag, legte die Hand auf seinen Mund, führte ihn wieder zurück und verschloß die Tür.

CASTELLAN Heiliger Gott! was habe ich gesehen?

RINALDO Die Geheimnisse der Unterwelt. – Herr Castellan! Ihr seid ein verständiger Mann. Was Ihr gesehen habt, werdet Ihr zu verschweigen wissen, bis ich selbst es ratsam finde, alles zu offenbaren. – Die Gräfin und ihre Familie ist bei der Sache im Spiele. –

CASTELLAN Herr Baron! Ich bin ein Mann und kann schweigen.

RINALDO Darauf verlasse ich mich. – Jetzt still! von nichts weiter gesprochen. Wir reden morgen weiter davon.

Lodovico kam zurück und brachte Kleider, die der Befreiten gegeben wurden. Sie erhielt Speisen und wurde in ein Zimmer verschlossen, wo sie anderthalb Tage lang beinahe beständig schlief, was sehr viel zu ihrer Erholung beitrug.

Giorgio und der Castellan wurden von Lodovico wegen ihrer Furchtsamkeit sehr geneckt. Aber den letzteren plagte die Neugier wegen des Geheimnisses, wovon er nichts wußte, ungleich mehr als Lodovicos Neckerei.

Rinaldo aber ging mit Lodovico auf weitere Entdeckungen in dem unterirdischen Gange aus.

Sie hatten eben die Schlösser und Riegel der eisernen Türe gelöst, bemühten sich aber vergebens, sie zu öffnen, und ruhten ein wenig von ihrer Arbeit aus, als sie von außen Fußtritte vernahmen. Bald wurden Riegel zurückgeschoben und die Türe knarrte auf. Eine Figur kam nur halb zum Vorschein, als Rinaldo aufsprang und ihr ein donnerndes: „Halt!“ entgegenschrie.

Im Nu verschwand die Figur, des Terrains besser kundig als Rinaldo und Lodovico, die ihr folgten. Sie stolperten durch einen schmalen gewölbten Gang, der sich bei einer steinernen Treppe endigte, die aufwärts führte und deren Ausgang mit einer eisernen Falltür versehen war. Sie erstiegen die Treppe und kamen in einen Turm, der mit einer Wendeltreppe versehen war. Als auch diese erstiegen war, befanden sie sich auf den Zinnen des Turms und sahen, daß dieser ganz allein auf der äußersten Spitze des Berges stand, auf welchem das Schloß lag. Der Turm war ohne Aus gang, und sie konnten nicht begreifen, wohin die Figur gekommen sein mochte, wenn nicht, was sehr glaublich war, eine Strickleiter am Turme ihr ins Freie geholfen hatte.

Da also weiter keine Entdeckungen zu machen waren, kehrten sie wieder um, untersuchten die Falltür, fanden sie sehr stark, schwer und von innen mit Riegeln versehen, die sie vorschoben, verkeilten und mit starken Schlössern versahen. – So verschlossen sie auch die eiserne Tür von innen und gingen durch den Saal in das Schloß zurück.

Das gerettete Frauenzimmer hatte sich in ein paar Tagen sehr erholt, und Rinaldo, dem viel daran lag zu wissen, wen er gerettet habe, tat nun deshalb Fragen an sie. – Sie erzählte, was folgt:

„Ich bin Euch, meinem Befreier, eine getreue Erzählung meines Schicksals und meines Unglücks schuldig; diese sollt Ihr haben, so aufrichtig, als ich sie Euch nur geben kann. – Ich heiße Violanta und bin die Tochter eines gewissen Brotezza de Noli, der ein Vasall des Grafen von Martagno war. Der Graf hatte eben durch den Tod seine erste Gemahlin verloren, als ich zu meinem Unglück mit ihm bekannt wurde. Er sprach mit mir von seiner Liebe. Ich glaubte ihm nicht; er beteuerte mir seine reinen Absichten und warb um meine Hand. Ich wies ihn an meinen Vater. Meine Mutter hatte ich in meiner frühsten Jugend verloren. Mein Vater focht damals in Spanien unter dem Banner seines Lehnsherrn und fiel bei der Belagerung von Barcelona. Ich war arm und verlassen und suchte Zuflucht bei einer Muhme. Wir machten zusammen, was wir aufbringen konnten, um mir eine Aussteuer zu erwerben, mit der ich in ein Kloster gehen konnte. Nach und nach brachten wir auch so viel zusammen als dazu nötig war, und ich machte mich damit auf den Weg. Hier wurde ich überfallen, gebunden und fortgeschleppt, ich wußte nicht wohin. Es waren Leute des Grafen Martagno, die mich angefallen hatten und mich hierher auf dieses Schloß brachten. Hier erschien der Graf und wiederholte seine alten Liebesanträge. Ich wies jede entehrende Zumutung mit Verachtung und Standhaftigkeit ab und erklärte, daß ich eher sterben als meine Tugend preisgeben würde. Der Graf versuchte mit List und Gewalt zu erhalten, was ich ihm verweigerte, aber alles war vergebens. Mißhandeln konnte er mich, aber nicht bewegen, seinen bösen Willen zu erfüllen. Nur das Band der Ehe, sagte ich ihm, würde ihm gewähren können, was er zu erlangen wünsche. Als er nun sah, daß er mich nicht besiegen konnte, willigte er endlich ein, und der Priester gab unsere Hände zusammen.“

„Wie? Ihr wart mit dem Graf Martagno verheiratet?“

„So ist es. – Zu meinem Unglück ist es so! Er lebte etwas über ein Vierteljahr hier bei mir, verreiste dann und kam nicht wieder. Mich ließ der Ehrvergessene, Gott weiß warum! in den Kerker schleppen, wo Ihr mich gefunden habt. Ich erhielt keine Antwort auf meine Klagen, und die Welt hörte mein Angstgeschrei nicht. Ein alter Bösewicht gab mir Wasser und Brot und brummte täglich: Willst du denn ewig leben?“

„Gerechter Himmel!“ – schrie Rinaldo. – „Der Graf hatte sich, indes ihr im Kerker lagt, zu Messina wieder verheiratet. Noch lebt seine Witwe, die gewiß von diesem Bubenstück auch nicht die leiseste Ahnung gehabt hat.“

Sie sprachen noch, als es im Schlosse laut wurde. – Rinaldo fuhr ans Fenster und sah einen Wagen in den Schloßhof fahren, in welchem die Gräfin saß. Er eilte ihr entgegen.

Als Rinaldo mit der Gräfin allein war, erzählte sie ihm, man habe Hoffnung, daß der Kapitän wieder aufkommen werde.

„Von Euch, Ritter“, – setzte sie hinzu, – „glaubt man, daß Ihr auf irgendeinem Schiffe Sizilien verlassen hättet. Ich habe die Zeit benutzt, in welcher der Adel zu Messina auf seine Landgüter geht, und bin, wie Ihr seht, hier.“

Rinaldo dankte ihr verbindlich für ihre Güte, für ihren Schutz, und machte sie dann so lange aufmerksam, bis sie vorbereitet genug war, seine Entdeckungen und Violantens Geschichte zu hören.

Die Gräfin schauderte bei dieser Erzählung heftig zusammen und verlangte Violanten zu sprechen, was auch geschah. Sie hörte die Geschichte aus ihrem eigenen Munde, versprach ihr Schutz und Beistand und bot sich ihr als Schwester an.

Im Schlosse wurde es nun lebhafter und der neugierige Castellan bekam die Weisung, nach gewissen Erklärungen nicht weiter zu fragen. Violanta galt für eine Gesellschafterin der Gräfin, und die wenigsten wußten und konnten begreifen, wie sie in das Schloß gekommen war.

An einem der schönsten Sommerabende, die Sizilien genießt, saßen die Gräfin und Rinaldo auf einem Balkon des Schlosses Hand in Hand nebeneinander. Beide schienen über etwas nachzudenken und sprachen wenig. Endlich nahm die Gräfin das Wort:

SIE Einmal, lieber Freund! muß es zwischen uns doch zur Erklärung kommen. Warum schieben wir diesen Augenblick auf und machen uns selbst so viele trübe Stunden? Also, sei es jetzt. – Sagt mir aufrichtig, was gedenkt Ihr zu tun?

ER Was ich tun muß. – Ich gedenke Sizilien zu verlassen.

SIE Allein?

ER Wer sollte mit mir gehen, als mein Lodovico? – Er verläßt mich nicht.

SIE Nur er? – Ritter? Ihr wollt allein gehen?

ER Ach Gräfin! ich muß.

SIE Ihr müßt? – Habt Ihr anderswo Verhältnisse, die Euch –

ER Schreckliche Verhältnisse!

SIE Habt Ihr – eine Gattin?

ER Weder Weib noch Kind, weder Vater noch Vaterland.

SIE Und dennoch binden Euch Verhältnisse? Man hat doch nicht Euch irgendwo verbannt, geächtet?

ER Allenthalben.

SIE Allenthalben? – Wie ist das möglich? Redet deutlich. Ist la Cintra nicht Euer wahrer Name?

ER Nein.

SIE Wie heißt Ihr?

ER Das laßt mich Euch nicht sagen. – Wenn ich fort bin, sollt Ihr erfahren, wen Ihr Eurer Freundschaft, Eurer Liebe gewürdigt habt.

SIE Ihr macht mir bange! – Der Marchese Romano gab vor, Euch zu kennen.

ER Ja! er kennt mich. – Gräfin! traut dem Marchese und seiner Gesellschaft nicht. Sie wollten mit mir ein böses Spiel treiben. Jetzt sehe ich alles ein. Ich bin entkommen, auch diesmal noch entkommen, aber wer weiß –

SIE Rätselhafter Mann! sprich deutlicher.

ER O Dianora! – Ich darf nicht.

SIE Wie? Ich gab dir meine Liebe, mich selbst, alles was mir teuer und wert war, und du kannst Geheimnisse für mich haben? Für mich? – Ich will dir mehr entdecken, als du weißt. Ich bin bereit, mit dir zu gehen, wohin du auch gehen magst.

ER Bleib, bleib! Du kannst mich Unglücklichen nicht begleiten.

SIE Ich biete dir meine Hand an.

ER Unglückliche! Deine Hand gehört einem edleren Manne als mir.

SIE Sie gehört dem Vater meines Kindes.

ER Allmächtiger Gott! was sagst du? – Werde Mutter und gib dem Kinde deinen Namen. Den meinigen kann es nicht mit Ehre führen.

SIE Großer Gott! Mann, wer bist du?

ER Ich bin – Ach Gott! ich kann es dir nicht sagen.

SIE Sei wer du willst. – Ich will es wissen.

ER Als du in meinen Armen lagst, lagst du in den Armen des Abscheus von Italien.

SIE Gerechter Gott!

ER Ich – Ich bin Rinaldini.

SIE Jesus Maria!

Die Gräfin sank vom Stuhle und war einer Ohnmacht nahe. Rinaldo brachte sie auf ihr Zimmer. – Früh, des andern Tages, begehrte er sie zu sprechen. Sie schlief noch, wie es hieß. – Bald darauf brachte man ihm ein versiegeltes Billett von der Gräfin. Er erbrach es und las:

„Unglücklicher! Du hast mich unaussprechlich unglücklich gemacht. Ich kann dich nicht wieder sprechen. Überlaß mich meinem Schicksal und geh dem deinigen entgegen.“

Rinaldo ließ satteln, setzte sich mit Lodovico auf und verließ mit ihm das Schloß.

Ihre Unterhaltung auf dem Wege war ziemlich einsilbig, und sie waren schon zwei Tage geritten, ohne daß ein Hauptgespräch gehalten worden war. Zwar Lodovico hätte seinem Herzen herzlich gern über Verschiedenes Luft gemacht, da aber Rinaldo gar nicht gesprächig gelaunt war, schwieg er auch und hatte seine Gedanken für sich.

Sie ritten eben, den dritten Tag seit ihrer Abreise aus dem Schlosse der Gräfin, aus einer elenden Nachtherberge mit Tagesanbruch fort, um einen Paß über eine Bergkette, die mit Waldungen bewachsen, ihnen sehr unsicher geschildert worden war, noch vor einbrechenden Abend hinter sich zu haben. Rinaldo fühlte selbst hier, wie den Reisenden zu Mute sein möchte, die den Anfällen von solchen Strauchdieben ausgesetzt waren, deren Anführer er gewesen war.

Sie erreichten den Paß gegen Mittag und waren kaum einige hundert Schritte in demselben fortgeritten, als sie fernher ein dumpfes Gemurmel und Geschrei vernahmen, in welches sich bald einige Schüsse mischten.

„Auf, Lodovico!“ – sagte Rinaldo; – „dort gibt es Gefahr. Laß uns dorthin eilen! Vielleicht legen wir einigen Burschen das Handwerk, von deren Gattung wir sonst selbst waren.“

Sie sprengten darauf los und erblickten bald einen Wagen, der von sechs bis acht zerlumpten Gaunern angehalten wurde, die eben jetzt im Begriff waren, die Maultiere abzuspannen.

„Haltet an!“ – schrie ihnen Rinaldo zu und zog eine Pistole.

Sogleich fiel ein Schuß nach ihm, der aber fehlging. – Lodovico trat in die Bügel, legte seine Stutzbüchse an, zielte scharf und gab Feuer. Einer der Gauner stürzte zu Boden. Einen zweiten traf ein Schuß von Rinaldo, und als dieser mit dem Säbel unter die andern stürzte, flohen sie eilig nach dem Gebüsch zu.

„Das sind keine der unsrigen!“ – sagte Lodovico.

Rinaldo sprengte an die Kutsche und erblickte in derselben – den Baron Denongo und seine uns bekannte Tochter, die schöne Laura.

„Ritter! – Gelobt sei Gott!“ – schrie diese, als sie ihn erblickte.

Der Baron stammelte: „Mein Herr! Ich bin Euch die größte Verbindlichkeit schuldig. Ohne Eure mutige Entschlossenheit wären wir beraubt und vielleicht den traurigsten Mißhandlungen ausgesetzt gewesen.“

„Ein Mann von Ehre wie Ihr“, – sagte Rinaldo, – „würde in einem ähnlichen Falle gewiß eben das für mich getan haben, was ich für Euch tat. Ich werde nur ferner meine Schuldigkeit tun, wenn ich mich erbiete, Euch nebst meinem Diener zu begleiten, da ich sehe, daß Eure Leute teils tot, teils verwundet sind.“

„In der Tat, Herr Ritter!“ – fuhr der Baron fort. – „Ihr kommt meiner Bitte durch Eure Großmut und Euer gütiges Anerbieten zuvor. Ich habe noch beinahe sechs Stunden weit zu fahren, ehe ich mein Schloß erreiche, und bin, wie Ihr selbst bemerkt, des Beistandes meiner Leute beraubt. Ein alter Mann, wie ich, überläßt sich gern dem Schutze eines jüngeren Mannes von Ehre, wie Ihr einer seid, und ich darf wohl sagen, ich habe es auch einigermaßen verdient, denn in meiner Jugend war ich eben ein solcher freudiger Ritter für andere, wie Ihr einer seid.“

Es fielen noch mehrere Worte von beiden Seiten, und Laura schwieg.

Lodovico hatte indes den verwundeten Kutscher, so gut es gehen wollte, verbunden und auf den Kutschersitz geschnallt. Sein Maultier hängte er an den Wagen, setzte sich auf und fuhr fort. Rinaldo ritt neben dem Wagen her.

Es wurde scharf darauflos gejagt. Sie kamen bei dem Schlosse des Barons an.

„Jetzt, Herr Ritter!“ – sagte der Baron, – „Es ist an mir, galant nicht allein zu sein, sondern als Euer Schuldner Euch, den Retter meines Lebens, zu bitten, mir das Vergnügen zu machen, so gut es gehen will, Euch von mir bewirten zu lassen.“

„Ihr schlagt uns doch das nicht ab?“ – setzte Laura hinzu.

Rinaldo sprang vom Pferde und blieb. – Lodovico kam das ganz gelegen.

„Herr Ritter!“ – sagte er, – „Wir kommen wieder in weiche Hände. Nun ist’s gut! Wir bleiben.“

RINALDO Ach nein! –

LODOVICO Hm! – Ich kenne Euch besser. Ein Paar schwarze Augen, wie die des Fräuleins, lassen Euch nicht vom Platze. Ich kann Euch auch gar nicht darum verdenken. Ich an Eurer Stelle machte es ebenso.

RINALDO Diesmal wirst du dich sicher betrügen.

LODOVICO Geschieht das, so betrügt Ihr Euch zuerst.

RINALDO Oder ich werde betrogen.

LODOVICO Das kann auch sein, denn Ihr habt’s mit einem Weibe zu tun.

RINALDO So? – Du meinst also –

LODOVICO Daß ich keiner traue, und säh’ sie noch so ehrlich aus.

RINALDO Woher hast du diese Philosophie?

LODOVICO Aus der Welt, auf der ich wohne, wo ich lebe und webe, höre und sehe, empfinde, denke und mancherlei schon erlebt habe.

Lächelnd befahl ihm Rinaldo, das Gepäck auf die Zimmer zu schaffen, die der Hausverwalter ihnen anwies.

Rinaldos Wirt, der alte Baron, war ein gar guter, froher Mann, schon hoch in den Jahren, mit mancherlei körperlichen Leiden geplagt, aber dennoch nicht mürrisch. Er war freigebig, gesprächig und gutwillig. Lodovicos Bravour zu belohnen, fand er leicht Mittel. Er schenkte ihm eine Börse mit Dukaten. Aber wie er seinen Gast, den er nur als Ritter de la Cintra kannte, belohnen sollte, ohne seine Delikatesse zu beleidigen, das verursachte ihm viel Kopfzerbrechen. Er ging darüber mit seiner Tochter zu Rate, die aber ebensowenig als er selbst wußte, wie die Schuld abzutragen sein möchte.

Rinaldo lebte nicht so unbefangen bei dem Baron, wie er auf dem Schlosse der Gräfin gelebt hatte. Er stellte Betrachtungen über seine Lage an und fand in diesen Reflexionen mancherlei Veranlassungen, sei nen Aufenthalt abzukürzen. Er gab dies einst dem Fräulein deutlich zu verstehen. Sie faßte es auf und sagte:

„Wir glaubten alle in Messina, Ihr hättet nach jenem blutigen Vorfall die Insel verlassen; wie ich aber sehe, scheint es, daß Euch etwas auf derselben zurückhält, was Euch vielleicht auch den Aufenthalt bei uns langweilig und unerträglich macht. Oder zieht Euch ein Magnet anderswohin?“

ER Nennt Ihr mein unglückliches Schicksal einen Magnet?

SIE Euer unglückliches Schicksal? Das kenne ich nicht.

ER Laßt es mich allein kennen. Es treibt mich auch von hier fort. Ja, es würde mich aus dem Paradiese selbst treiben.

SIE Habt Ihr Euch mit der Gräfin Martagno entzweit?

Da trat der Baron mit einem Briefe in der Hand ins Zimmer und sagte:

„Hört einmal! Da wird mir eine sonderbare Neuigkeit aus Messina geschrieben. Man will dort ganz gewiß wissen, der berüchtigte Rinaldini sei nicht tot, sondern befinde sich lebendig auf unserer Insel. – Es kann wohl sein, daß die Gauner, aus deren Händen uns der tapfere Ritter errettete, Leute von seiner Bande waren. – Es wär’ verzweifelt schlimm, wenn dieser ungebetene Gast in unsern Tälern hausen sollte. Ich werde alle meine Leute bewaffnen; denn er überfällt zuweilen sogar Schlösser und Festen.“

„Ich kann nicht glauben“, – sagte Rinaldo, „daß er sich in Sizilien befindet. Wäre dem so, so hätte man gewiß schon von ihm gehört, denn er soll nicht gern lange stillsitzen.“

„Natürlich!“ – fiel der Baron ein, – „denn er lebt ja von Unruhe und Unglück.“

RINALDO Jawohl! Von und mit Unruhe und Unglück.

BARON Der Vizekönig will in Messina die Milizen aufbieten und einen Preis auf den Kopf des Gaunerkönigs setzen.

RINALDO Ich darf auf den Preis nicht rechnen. Denn als ich einst in Rinaldinis Händen war und er mich sehr edel behandelte, mußte ich ihm versprechen, nie heimtückisch gegen ihn zu handeln. Und im offenen Felde mag ich nicht gegen ihn stehen.

BARON In der Tat! ich fürchte für die Börsen unserer Barone und für die meinige dazu. – Ich bin alt und stumpf. Zwölf Leute im Schlosse, was sind die gegen einen Wagehals wie Rinaldini an der Spitze seiner tollkühnen Gesellen! – Ritter! Ihr müßt mir es zur Freundschaft tun und noch einige Zeit bei uns bleiben. Ihr seid ein Mann von Mut und Entschlossenheit. Euer Lodovico ist ein Teufelskerl. Ja wahr haftig! wär er nicht Euer Diener, ich könnte wohl gar glauben, er sei selbst ein Rinaldinischer Buschkönig.

RINALDO Verwegen genug sieht er dazu aus! Ich glaube aber nicht, daß wir etwas von ihm zu fürchten haben.

Indem trat der Haushofmeister des Barons, der in Geschäften in dem benachbarten Städtchen gewesen war, in das Zimmer, stattete von seinen besorgten Aufträgen Relation ab und meldete zugleich, daß mehrere Reisende von Straßenräubern in der Nähe angefallen und geplündert worden wären.

„Da haben wir’s!“ – sagte der Baron. – „Das Ungewitter kommt uns immer näher.“

Der Haushofmeister verließ das Zimmer wieder, und der Baron sprach noch ein langes und breites von seinen Besorgnissen. Rinaldo suchte ihm vergebens seine Furcht auszureden, und Laura, die befürchtete, er möchte wirklich mit Manier auf seiner Abreise bestehen, nahm das Wort und sagte:

„Da es eine der ersten Ritterpflichten ist, Damen zu beschützen und zu verteidigen, so ersuche ich Euch, Ritter, die Eurigen nicht zu vergessen und wenigstens zu meinem Schutze hierzubleiben.“

RINALDO Ihr wißt doch aber, daß der Schutz der galantesten Ritter auch immer ein wenig eigennützig war?

BARON Recht gut, Ritter, daß Ihr sie daran erinnert. Sie möchte sonst vielleicht den Schutz umsonst verlangen.

LAURA Ich weiß nicht wie und womit ein solcher Schutz bezahlt wird.

RINALDO Das Schutzgeld steht in eigener Willkür. Aber bezahlt muß nun einmal werden.

LAURA So mag mein Vater für mich bezahlen.

BARON Das wird nicht geschehen. Ich bin ohnehin noch Schuldner und habe für mich selbst zu bezahlen.

LAURA Nun wohlan! so will ich als eine wahre romantische Ritter-Dame bezahlen. Nehmt diese Schleifen, Ritter, sie sind meine Farbe. Tragt sie, fühlt Euch zu großen Taten entflammt und macht Euch dieses Geschenkes wert. Werdet Ihr Euch immer männlich, wie es einem Ritter ziemt, benehmen, so sollt Ihr dann vielleicht von mir erhalten, was ich neben dieser Schleife trage.

BARON Wie? Das wär’ ja dein Herz?

LAURA Nein, lieber Vater! Es ist mein Portrait.

Jetzt fing Rinaldo an, mit sich selbst und seinen Absichten in Streit zu geraten.

„Wozu kann es gut sein“ – sprach er bei sich selbst –, „länger auf dem Schlosse zu bleiben? Welchen Nutzen kann es dir bringen? Ziehe ihn selbst zu, den Knoten, der dich mit einem Netz umstrickt, in welches du schon gegangen bist. Wie kannst du dich mit falschen Hoffnungen täuschen? Laurens Hand kannst du nie erhalten. – Und gesetzt, du hättest sie auch als Ritter erschlichen, wird sie dir der Räuberhauptmann nicht wieder entreißen?“

So sprach er, warf sich am Ufer des Flusses, der sich durch blumige Wiesen nach den Gebirgstälern zu schlängelte, unter duftenden Aloen nieder, wollte nachdenken über sich und seine Lage, wollte einen Entschluß fassen, vermochte beides nicht und sank, von starken, balsamischen Gerüchen betäubt, in Schlummer.

Als er wieder erwachte, sah er einige Schritte von sich unter einer Pinie einen sonderbar gekleideten Mann, in einem Buche lesend, auf einem Steine sitzen. Dieses Mannes blühend rote Gesichtsfarbe widersprach seinem weißen Haupt- und Barthaar, die ihn als Greis ankündigten. Sein Gewand war lang und faltig, wie das Gewand der Pythagoräer, von himmelblauer Farbe, hochgeschürzt, mit einem feuerroten Gürtel. Seine Arme waren in weiße Ärmel eines Unterkleides gekleidet, seine Füße nackt, mit roten Riemen umwunden. Er ging auf breiten Sohlen.

Dieser sonderbar gekleidete Mann zog Rinaldos äußerste Aufmerksamkeit an sich. Er betrachtete ihn lange schweigend, stand endlich auf, näherte sich und grüßte ihn.

Der muntere Alte sah ihn an und sagte:

„Wie kannst du so unvorsichtig sein, in dieser Gegend, wo es von giftigen Tieren wimmelt, dich so sorglos dem Schlafe zu überlassen?“

„Sollte wirklich hier etwas zu fürchten sein?“ fragte Rinaldo.

„Sieh dich um“, – antwortete der Alte gelassen.

Rinaldo sah sich um und erblickte eine tote Schlange im Grase, nicht weit von seinem Schlafplatze. Er erschrak und sah den Alten fragend an. Dieser verstand seinen fragenden Blick und sagte:

„Diese Schlange nahte sich dir, als du schliefst.“

RINALDO Welchem Glück verdanke ich meine Rettung?

ALTER Ich kam eben dazu, als die Schlange auf dich zuschoß, und – sie ist tot.

RINALDO Du hast sie getötet? – Mit welchen Waffen? Ich sehe dich ganz unbewehrt.

ALTER Es gibt auch wohl Worte, die die Kraft der Waffen doppelt ersetzen. – Ich setzte mich dir gegenüber, damit dir, solange du schliefst, kein ähnliches Unglück begegnen möchte.

RINALDO Nimm meinen besten Dank und schenke deinen Namen meiner dankbaren Erinnerung.

ALTER Namen machen die Menschen weder merkwürdiger noch besser, als sie wirklich sind. Erinnere dich meiner Gestalt, und ich werde in deinem Andenken auch ohne Namen fortleben.

RINALDO Du sprichst die neuere Sprache dieser Insel, und dein Gewand zeigt dich mir in der Gestalt der Weisen der Vorzeit dieses Landes. Wie soll ich mir das erklären?

ALTER So einfach wie möglich. – Man ist nicht immer, was man zu sein scheint; man scheint nicht immer zu sein, was man ist.

RINALDO Nochmals! wer bist du?

ALTER Was du ebensogut sein kannst als ich: ein Freund der Weisheit.

RINALDO Ist die Weisheit eine so allgemeine Freundin?

ALTER Die Weisheit ist uns allen so wohltätig gemein wie die Sonne. Ihre Strahlen erwärmen jedes empfängliche Herz. Doch die Seligkeit, diese Wärme zu fühlen, erfordert freilich eine Organisation, die nicht allen Menschen eigen ist. Ein böser Mensch ist nicht wert, die Pfade zum Tempel der Weisheit zu kennen, denn was dem Frommen Segen der Menschheit in der Natur ist, würde dem Bösen Fluch der Welt werden. Wer keinen Geruch hat, dem duften diese blühenden Matten vergebens. So wie jedes Element von dem Geschöpfe, welches dasselbe bewohnt, eine besondere Organisation fordert, so fordert auch der Tempel der Weisen eine gewisse Organisation dessen, der sich ihm nahen, der ihn bewohnen will.

RINALDO Hier walten hohe Geheimnisse!

ALTER Der Tempel der Weisheit ist der Tempel der Natur, und in der Natur walten keine Geheimnisse. Das, was man gemeinhin Geheimnisse der Natur nennt, sind Gesetze, die in dem Buche der Natur selbst zu lesen sind. Dieses liegt aufgeschlagen vor jedermanns Augen. Lies in diesem Buch! lies mit dem Auge der Seele. Dieses Auge ist Beobachtung. Aber das Auge muß heiter sein. Diese Heiterkeit ist ein Kind der Ruhe von allen Leidenschaften. Nur der reine Quell zeigt dir das vollkommne Bild der allesbelebenden Sonne. Trübe Bäche sind keine Spiegel. Ebenso ist es mit der Weisheit. – Die Natur gleicht einer Schönen, die nachlässig zuweilen ihre kleinsten und verborgensten Reize zeigt und die übrigen sorgfältig verhüllt. Wer denken, fühlen, prüfen, merken und ahnen kann, der ist wert, sie ganz zu entschleiern. Die Natur spricht nur mit dem, der feine Organe hat, zu hören ihre Stimme. Verfeinerung der Sinne ist Annäherung zu den Geheimnissen der Natur. Wer sich ihr mit reinem Herzen und mit scharfen Blicken nähert, den heißt sie, die erhabene Priesterin, wie eine freundliche Wirtin willkommen und führt ihn in den Tempel ihres Heiligtums. Dort fällt die Decke von seinen Augen. Das Unbegreifliche wird ihm begreiflich. Alles Unbegreifliche für diese Körperwelt liegt in der Kraft der Assimilation; und diese Kraft ist es, welche die wenigsten Menschen kennen. Der Magnet wirkt nur auf Ähnliches, und seine Ausströmung ist wunderbar. Diese Kraft ist nur ein Wink; es gibt verborgene Kräfte, – Kräfte der Seele, und die Art ihrer Attraktion ist wunderbarer als die des Magnets.

RINALDO Und diese Kraft liegt in jeder Menschenseele?

ALTER In jeder. Aber sie muß geweckt werden. Am besten, sie weckt sie sich selbst.

RINALDO Dies gehört in die Sphäre der Tätigkeit des Menschen.

ALTER Wohl bemerkt, mein Sohn! Jeder Mensch hat seine Bestimmung zum Ganzen.

RINALDO So liegt auch vieles außer ihm.

ALTER Er suche es zu sammeln.

RINALDO Zeit und Gelegenheit des menschlichen Daseins sind so beschränkt, daß der Mensch sich oft erst kennenlernen will, wenn er schon aufhört zu sein.

ALTER Das Dasein der Menschen ist dem Dasein der Sonne ähnlich. Sein Erwachen ist der Morgen; der Mittag ist sein irdisches, tätiges Leben; der Abend ist sein Tod. Die Sonne verläßt den Horizont und ihr Licht wird unsern Augen zur Dämmerung. Doch erleuchtet dieses Licht noch manche Hütte oder wird noch immer gesehen von manchem, der höhere Gegenden bewohnt. So der Mensch im Verschwinden. Er wirkt rückwärts. Ist diese Wirkung gleich schwächer, so wird sie doch manchem bemerkbar.

RINALDO Dies sagt wohl auch, es gebe eine Rückwirkung Abgeschiedener auf Lebende?

ALTER Was hindert dich, das zu glauben? Es gibt der Dinge so viele, die nicht einmal scheinen, aber dennoch sind. Dein schwaches Auge, gestärkt durch Gläser, entdeckt deinen Blicken unbekannte Dinge; was kann das Auge deiner Seele dir nicht alles entdecken, hast du die Kunst gelernt, es zu verstärken!

Der Alte steckte sein Buch in den Busen und stieg auf. Rinaldo sah ihn mit zweifelhaften Blicken an. Die Pause war kurz.

ALTER Gehabe dich wohl, mein Sohn? Laß die Kräfte, die in dir liegen, nicht länger schlummern. Erwecke sie. Es bedarf eines Hauches und das Fünkchen wird zur Flamme. – Leb’ wohl!

RINALDO Wohin gehst du?

ALTER Woher ich gekommen bin. In die Gebirgstäler zurück, wo ich wohne.

RINALDO Darf ich dich besuchen?

ALTER Du bist gebeten.

RINALDO Wie werde ich deine Wohnung finden?

ALTER Du gehst dem Flusse nach. Dort im Gebirge wandeln meine Schüler beständig umher, vertieft in das Studium der Natur. Sie werden dir meine Wohnung zeigen. – Noch eins. Öffne den Kopf dieser Schlange. In ihrem Gehirne wirst du einen kleinen, grünlichen Stein finden. Nimm ihn zu dir. Er schützt gegen Vergiftungen. – Gott sei mit dir!

Der Alte ging. Rinaldo sah ihm nach, bis die Berge ihn seinen Blicken entzogen. – Er suchte und fand den bezeichneten Stein im Gehirn der Schlange und ging nachdenkend ins Schloß zurück.

Man schien zu bemerken, daß Rinaldo jetzt noch nachdenkender als gewöhnlich sei. – Laura bat ihn, nach der Abendtafel ihr einige Augenblicke auf ihrem Zimmer zu schenken. Das geschah, sobald der Baron zur Ruhe war.

Sie war allein und schien verlegen zu sein. Rinaldo wollte das nicht bemerken. Das fiel ihr auf.

SIE Ritter! Ihr seid seit einigen Tagen auffallend nachdenklich und zerstreut, und heute mehr als jemals. Ihr bemerkt jetzt nicht einmal, daß ich verlegen bin. Kennte ich den Grund Eurer Zerstreuung, so könnte ich vielleicht jetzt noch verlegener sein, als ich es schon wirklich bin. – Indessen, es sei gewagt! Ich bin ohne Furcht mit Euch allein und habe Euch etwas zu entdecken. – Vorher nehme ich Eure Großmut in Anspruch und bitte Euch, mir meine Entdeckung zu verzeihen, und wenn sie auch sogar Euer Herz treffen sollte. – Ihr verzeiht mir diesen Ausdruck! Ich kann mich irren; aber Euer Benehmen seit einigen Tagen läßt mich vielleicht mit Entschuldigung Eure Hoffnung fürchten.

ER Wenn Ihr mich Eures Vertrauens würdig glaubt, so entdeckt Euch mir.

SIE Ich wage es.

ER Ihr wagt nichts.

SIE Wir wollen’s hören. – – Ich liebe.

ER Ist das Euer Geheimnis? – Konntet oder mußtet Ihr es nicht für Euch behalten?

SIE Ich suche einen Vertrauten, der mein Geheimnis bei sich aufnimmt und es gleich dem seinigen wohl aufbewahrt.

ER Es ist verwahrt.

SIE Hört mich weiter an. – Mein Vater hat Absichten, meine Hand zu vergeben, das weiß ich gewiß. An wen, das weiß ich nicht. Aber sei er auch, wer er wolle, den mir mein Vater zum Gemahl bestimmt, ich werde ihn nicht lieben können.

ER Das könnt Ihr ja nicht wissen!

SIE Ich weiß es gewiß. Denn den, den ich liebe, wird er mir nicht geben.

ER Das ist die Frage.

SIE Nein! das ist Gewißheit. – Der, den ich liebe, ist unter meinem Stande. Er ist kein Edelmann.

ER Denkt er edel und verdient die Liebe eines edlen Herzens, so ist er zweifach zum Ritter geschlagen. – Darf ich wissen, wer er ist?

SIE O ja! Ich fürchte mich nicht, ihn Euch zu nennen. Es ist meines Vaters Sekretär.

ER Soviel ich ihn kenne, scheint er ein braver Mann zu sein. Ich kann Eure Liebe nicht mißbilligen.

SIE Nicht? Wirklich nicht? Auch dann nicht, wenn –

ER Ich verstehe Euch! – Auch dann nicht, wenn ich der selbst sein sollte, dem Euer Vater Eure Hand zugedacht hat.

Die Seitentür sprang auf, der Sekretär trat in das Zimmer, ergriff Rinaldos Hand, drückte sie an sein Herz und wollte sprechen, als ihn dieser Lauren sanft in die Arme schob und schnell das Zimmer verließ.

Rinaldo schlief diese Nacht wenig und verließ mit Tagesanbruch das Schloß, die Wohnung des geheimnisvollen Alten aufzusuchen. – Er ging an dem Flusse hinab, kam in ein schmales Tal, das, zwischen Bergen hin, auf eine Ebene führte, die im breiten Kreise mit steilen Anhöhen umkränzt war. – Vor ihm lag ein Olivenwäldchen, durch welches ein gebahnter Weg gerade auf drei Marmorsäulen zuführte, die mit Hieroglyphen geziert waren. Hinter den Säulen stand ein Altar mit einem schönen Basrelief. Daran stand die Schrift:

??????????????.

Rinaldo war noch in das Anschauen dieser Schrift und der Figuren vertieft, als er einen auf griechische Art weißgekleideten, langen, hagern Mann auf sich zukommen sah, der einen Olivenkranz in den Haaren und ein hermetisches Schlangenstäbchen in der Hand trug. Dieser grüßte ihn.

„Sei willkommen, ehrenwerter Fremdling, der du gestern mit unserm erhabenen, vielgeliebten Meister sprachst.“

Rinaldo dankte ihm schweigend. Jener aber redete also fort:

„Du betrachtest diese Figuren und diese Schrift so aufmerksam, daß ich deine Wißbegierde in deinen Blicken lese. – Was diese Worte ???? ?????????? betrifft, so geben sie den Namen Weltenschöpfer, eben das, was das Viracocha der Peruaner bezeichnete. Die Figur aber, die du hier siehst, ist das Brustbild eines Greises, des Schöpfers der Welten, des Ewigen, des Allerschaffers, die Einheit. Die drei Flammen, welche sein Haupt umgeben, sind die symbolische Zahl der Vollkommenheit. Seine Arme, die ausgestreckt Welt und Sonne in den Händen halten, sind das symbolische Zeichen der ersten Zahl, die aus der Einheit entsteht; die Zahl der Schöpfung, das Symbol der Produktion. Welt und Sonne vereiniget eine Kette. Der Körper ist das Symbol der Harmonie; die himmlische Lyra. Er ruht auf sieben Büchern, die die sieben Bücher der Geheimnisse der Natur und mit sieben Siegeln verschlossen sind. Die vier Saiten des Instruments sind das Symbol des Tetracordon, die Übereinstimmung der Harmonie, in der Zahl 4. Diese ist auch das Symbol der Richtigkeit der Dinge, als: des mathematischen Punkts, der Linie, des Plans und der Tiefe. Diese Hieroglyphe drückt die ganze Natur aus, nämlich: die Wesenheit, die Beschaffenheit, die Vielheit und die Bewegung der Dinge.“

Rinaldo sah den Belehrenden mit großen Augen an und wollte eben nach dem ihm bekannten Alten fragen, als dieser selbst in eben der Tracht, wie er ihn gestern gesehen hatte, erschien, ihn freundlich grüßte, ihm die Hand schüttelte und sagte:

„Wohl, mein Sohn! Das heißt Wort gehalten.“

Er führte ihn hierauf mit sich fort durch blühende Fluren und sagte:

„Dieses ist das Tal, welches ich bewohne. Es hat noch immer seinen ältesten Namen, und man nennt mich davon in der Gegend: den Alten von Fronteja. Diese Benennung ist auch mir so geläufig geworden, daß ich mich nun oft selbst so nenne.“

Wie diese Erklärung Rinaldo traf, kann man sich leicht denken, wenn man sich an Olimpiens Brief und an die Nachricht erinnert, welche ihm der Marchese Romano von dem Manne gab, mit welchem er so unvermutet bekannt geworden und jetzt im Gespräch begriffen war. – In diesem Augenblick standen Olimpia, der Marchese und der Kapitän vor seinen Augen. Er wußte nicht, ob er weiter mit dem Alten gehen, oder ob er wieder zurückeilen sollte. Er fürchtete die genannten Personen wirklich anzutreffen, sah sich verraten und erblickte in dem Weisen einen Verräter. – Er wankte, folgte aber dennoch seinem Führer.

Sie waren eben an einen kleinen Altar gekommen, als der Alte zwei Rosen von einem Strauche brach, dieselben auf den Altar legte, seine Augen gen Himmel, und laut seine Stimme erhob:

„Ewiges Wesen! Ein Opfer der Freundschaft!“ – Er wendete sich zu Rinaldo und sagte: „Fremdling! hier bist du sicher.“

„Was könnte ich fürchten?“ – fragte Rinaldo mit etwas trotziger Stimme.

„Die Menschen“, antwortete der Alte gelassen und ging unbefangen weiter fort.

„Menschen gibt es allenthalben“, – sagte Rinaldo; „und ich habe nichts zu fürchten, als was sie alle zu fürchten haben.“

„Bei uns bist du, wie du gehört hast, unter Freunden“, fiel der Alte ein.

Rinaldo ging, ohne ein Wort zu sprechen, weiter mit seinem Führer fort, und dieser zeigte ihm seine Wohnung, die in einem sehr edlen und antiken Stile erbaut war. – Auf den Bergen standen Klausen, in welchen, wie der Alte sagte, Jünger von ihm wohnten, die sich besondern Betrachtungen und Untersuchungen widmeten.

„Ist die Anzahl deiner Jünger groß?“ – fragte Rinaldo.

„Dreimal sieben sind ihrer“, – war des Alten Antwort.

Sie kamen in die bezeichnete Wohnung. Unter der Mittelhalle derselben bewirtete der Alte seinen Gast mit einem guten Frühstück. Er selbst aß nur einige Löffel Honig und etliche Stückchen dünn geschnittenes weißes Brot. Wein trank er nicht, aber Milch.

„Lebst du lange hier?“ – fragte Rinaldo.

„Nicht lange“, antwortete der Alte. – „Doch länger als ein Menschenalter.“

Rinaldo sah ihn mit zweifelhaften Blicken an und fragte endlich: „Du hast das gewöhnliche Menschenalter schon überschritten?“

„Zweimal“, – war seine Antwort.

Rinaldo sah ihn noch mißtrauischer an. Jener aber blieb ganz unbefangen, und als Rinaldo eben weiter fragen wollte, vernahm er weibliche, singende Stimmen und sah ein paar verschleierte Frauenzimmer Hand in Hand vorübergehen.

„Wer sind diese?“ fragte er.

„Es sind ein paar meiner Schülerinnen“, war des Alten Antwort.

„Also leben auch Weiber hier?“

„Jüngerinnen der Weisheit. Priesterinnen im Tempel der Natur und Wahrheit.“

Rinaldo schwieg. Der Alte ersuchte ihn, ihm zu folgen. – Er kam in ein einfaches Zimmer und fand hier ein Polsterlager, auf welches sich der Alte niedersetzte, dessen Beispiel er folgte.

Der Alte nahm, als er saß, das Wort und sagte: „Von den ersten Zeiten meiner Jugendjahre an war ich ein Freund und ernstlicher Nachforscher aller Mysterien, und bis jetzt, muß ich sagen, ist es mir gelungen, die Mysterien aller Zeiten und Völker zu enthüllen.“

Rinaldo sah ihn aufmerksam an. Der Alte fuhr fort: „Ich studierte die emblematische Mythologie der Griechen und Ägypter, die Theogonie, Kosmogonie und die religiösen Lehren der ältesten Völker. Ich studierte in dem Shestah der Gentuser, im Zenda Vesta der Parsen, in der Edda der Isländer, im Chou-king und Lyking der Chinesen. Ich enthüllte die Wege der Kakosophia und Kakodämonia, studierte die Anthrosophia und wurde endlich, was ich noch bin, ein wahrer Theosoph. Dieses Namens bediene ich mich auch gewöhnlich. – Du kannst denken, daß Zeit dazu gehörte, alles dies zu leisten. Diese aber hat mir der Himmel gewährt.“

Hier machte der Theosoph eine Pause und sagte: „Freund, warum bist du aus dem Schlosse gegangen, ohne etwas davon zu sagen? Man ist dort unruhig über deinen Weggang.“

„Wer?“ fragte Rinaldo rasch.

Der Alte zeigte, ohne ein Wort zu sprechen, auf einen großen, breiten Spiegel, der in dem Zimmer hing und aus einer glänzenden Metallplatte bestand. Rinaldo sah in den Spiegel und sah in demselben zu seinem größten Erstaunen Lauren und Lodovico leibhaftig vor sich. Die Bewegungen ihrer Hände und ihre Gesichtszüge zeigten an, daß sie sich über etwas Angelegenes miteinander unterhielten.

„Ich höre sie sprechen“, sagte der Alte.

„Sprechen?“ fragte Rinaldo.

„Du kannst sie nicht hören. Ich höre sie aber mit dem Ohre der Seele, welches mir die Approximation ihrer Rede verschafft“, antwortete der Alte.

„Was sprechen sie?“

„Die Dame ist ängstlich über dein Verschwinden. Dein Diener meint, du möchtest bloß eine Exkursion gemacht haben. Sie will sich bei dieser Erklärung nicht beruhigen.“

Rinaldo schwieg einige Augenblicke. Der Alte störte ihn nicht in seinem Nachdenken. – Als Rinaldo seine Augen wieder auf den Spiegel warf, sah er in demselben Lauren auf ihrem Zimmer und den Sekretär in ihren Armen. Er wendete sein Gesicht von dieser Szene und sagte:

„Freund, du bist ein großer Mann!“

„Auch du kannst werden, was ich bin“, – sagte der Alte. – „Ich bin nicht der einzige dieser Art in der Welt.“

Mit einem tiefen Seufzer fragte Rinaldo: „Kennst du mich?“

„Warum sollte ich dich nicht kennen?“ antwortete der Alte und zeigte auf den Spiegel.

Rinaldo sah hinein und erblickte sich in der Räubertracht, in den Apenninen vor Donatos Klause. – Er fuhr heftig zusammen und fragte:

„Kennst du auch diesen Donato?“

„Warum nicht?“ – fragte der Alte und zeigte wieder auf den Spiegel.

Dort stand Donato und arbeitete in seinem Gärtchen.

„Ich will dir noch einige Personen zeigen“, – fuhr der Alte fort, – „die du auch kennst. Sieh in den Spiegel, sie sollen vorüber gehen.“

Rinaldo sah in den Spiegel und erblickte den Prinz della Roccella, den Vater der sanften Aurelia. Er ging in einem Buche lesend im Zimmer auf und ab. – Die Szene verwandelte sich im Spiegel, und Rinaldo sah das Innere einer Klosterzelle, in welcher Aurelia schlafend auf ihrem Bette lag. – Er seufzte und schlug seine Augen nieder. Als er sie wieder erhob, sah er die Gräfin Martagno. Sie saß in ihrer Gartenlaube und weinte. – Rinaldo seufzte stärker. – Die Spiegelszene verwandelte sich. In einer wüsten Gegend wandelte eine Pilgerin. Es war Rosalie.

„Lebt sie noch?“ schrie Rinaldo.

„Sie lebt“, war des Alten Antwort.

„Werde ich sie wieder sprechen?“

Der Alte dachte nach und sagte:

„Heute kann ich dir darauf noch nicht mit Gewißheit antworten.“

Rinaldo schwieg. – Der Alte fragte:

„Willst du mehrere deiner Bekannten sehen?“

„Nein!“ antwortete Rinaldo.

Ein blauseidener Vorhang rollte herab und bedeckte den Spiegel.

Rinaldo wiederholte:

„Freund, du bist ein großer Mann!“

Der Alte lächelte und sagte:

„Bloß Kunst der Magie. Auf dieser beruht mein Stolz nicht.“

Nach einer kleinen Pause fuhr er fort:

„Du sollst sehen, wie tief ich in die Nacht der Mysterien eindrang. Ich will dir alle Grade der berühmten Krata Repoa zeigen, die Ägyptens Heiligtum verhüllte. Ich habe sie entschleiert. Meine Jünger und Jüngerinnen sollen das Schauspiel aufführen, das ich dir geben will. Es dient zur Unterhaltung und zum Nachdenken.“

Als er das gesagt hatte, stand er auf, nahm Rinaldo bei der Hand und führte ihn in einen schönen Saal, dessen Wände mit Symbolen der Götter aller Nationen bemalt waren. Verschiedene allegorische Statuen standen an den Seiten der Fenster. Der Saal hatte eine Galerie und ein schönes Deckenstück, welches Ödips Lösung des Sphinginischen Rätsels darstellte.

In einem Seitenzimmer ertönte eine sanfte Musik, begleitet von weiblichen Stimmen. – Der Alte ging mit Rinaldo schweigend im Saale auf und ab. – Als die Musik schwieg, sagte der Alte:

„Der Mensch besteht aus Körper und Seele. Beide wollen vergnügt und ergötzt sein. Ich gönne jedem auf erlaubte Art, was er verlangt. Harmonie ist die Kette aller Wesen, der Gang des Universums. Du wirst wissen, was man von der Sphärenmusik geschrieben hat? – Ich liebe Musik und Gesang. Beides liegt in uns. Wir geben und nehmen, wir schenken und empfangen es gern. Die höchsten Freudenausdrücke sind eine gar angenehme Musik für das Ohr des Kenners. Das Leiden hat auch seine Töne für akkordmäßig gestimmte Herzen.“

Als er das sagte, wurde eine Tafel in den Saal getragen, die mit mancherlei Speisen und Getränken besetzt war. – Der Alte nötigte Rinaldo, etwas zu sich zu nehmen. Er selbst aß nur einige dünne Scheiben weißes Brot, ein paar Löffel Honig, eine Ananas, und trank Milch.

Als die Tafel wieder abgetragen wurde, nahm der sogenannte Theosoph seinen Gast bei der Hand und führte ihn in einen zweiten Saal, an dessen schwarz marmornen Gesimsen mit goldenen Buchstaben die Inschrift prangte:

????? ?????.

„Hier sollst du“, – sagte er, – „das dir versprochene Schauspiel der Krata Repoa sehen!“ – und ließ sich auf ein Polsterlager nieder. – Rinaldo folgte seinem Beispiel.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rinaldo Rinaldini der Räuberhauptmann.