Rettet unsere Kinder vor Siechtum und Sterben!

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 6. 1921
Autor: Peller, Markus, Erscheinungsjahr: 1921

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kinder, Not, Hunger, Krankheit, Leiden, Familien, Schule, Bildung,


Wie groß die Not und der Kummer sind, wie zermürbend und entnervend die Rat- und Hilflosigkeit in kindergesegneten Familien unseres Vaterlandes auf Mütter und Väter wirken, das ist noch immer nicht allen offenbar. Augen, die nicht sehen wollen, und stumpfe Herzen sind es, denen versagt ist, den ungeheuren Jammer und das erschütternde Elend zu fassen, das uns umgibt und weiterwächst. Macht doch die Augen auf und seht die armen, blassen, blutlosen, bleichen Gesichtchen, die dünngliedrigen kleinen, mageren Gestalten! Seht! Was für leidvolle Augen haben sie, die so viel entbehren müssen und es nicht fassen können, dass es so ist! Das sind nicht glückliche Kinderaugen. Die Sorge, fremd und unfassbar sonst dem ersten Jugendalter, blickt euch in stummem Vorwurf an. So viel ist‘s, das den armen Kleinen versagt bleiben muss! Notdürftig bekleidet, ohne wollene Strümpfe und in schlechtem Schuhwerk machen die Größeren den Weg zur Schule. Was sie nicht essen und trinken, danach braucht man nicht zu fragen, ihr kümmerliches Aussehen zeugt genugsam davon. Das grauenvolle Los der Kinder unserer Zeit aber wird zum Fluch der kommenden Geschlechter werden. Die Sünden, die man an ihnen begangen, werden sich bitter rächen an denen, die nach ihnen kommen; leiblich und geistig müssen sie hart und unerbittlich gebüßt werden. Ein Engländer, Dr. Saleeby, hat es gesagt: „Nicht nur Zehntausenden der jetzt lebenden Kinder in Deutschland ist ein Leben körperlicher Minderwertigkeit vorausbestimmt, so gewiss, als sei durch ein Gerichtsverfahren ihnen ein Urteil gesprochen.“

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Zahlen sollen zeugen für das, was schon ist! In Preußen stieg die Zahl der zwischen dem ersten und fünfzehnten Lebensjahr an Tuberkulose Gestorbenen von 7.600 im Jahre 1913 auf 34.500 im Jahre 1918. An Krankheiten der Verdauungs- und der übrigen inneren Organe starben ebenso viele Kinder. Noch mehr siechen an Unterernährung dahin, aus Kleidermangel und infolge der Kälte. Von 650 Kindern einer Berliner Gemeindeschule litten 118 an Schwindsucht; 45 starben im Laufe des letzten Jahres an den Folgen der geringwertigen Ernährung. Von diesen 650 Kindern trugen 305 kein Hemd oder nur elende Lumpen auf dem Leibe! Mehr als die Hälfte bekamen nie auch nur einen Tropfen Milch!

In Hamburg starben von 11.221 Säuglingen eines Jahres 1.300, von 57.682 Kleinkindern 25.000; und unter 158.680 Schulkindern wurden 25.000 als schwerleidend befunden; 40 vom Hundert waren bedenklich unterernährt.
Die Kinder aller Schichten leiden Not!
In Halle fand man unter Volksschulkindern bedenkliche Ernährungsschäden und Blutarmut bei 90, in den Mittelschulen bei 93 und in höheren Schulen bei 80 vom Hundert. Bei einem Drittel sämtlicher Kinder erwies sich der Schwächezustand als unmittelbar gefahrdrohend.

Kein Wunder, dass die Schulen leer werden! Wie sollten auch die armen Kinder lernen können! Und was soll aus den an der englischen Krankheit leidenden Hungernden werden? Kümmert doch mit dem Leibe auch die Seele, und das Gemütsleben verarmt. Der körperlich Minderwertige wird auch geistig minderwertig sein. Physisch und seelisch Hemmungslose fallen später der Gesellschaft entweder als Krüppel zur Last oder füllen die Gefängnisse wegen krimineller Handlungen. Einer unserer hellsehenden Philosophen prägte das Wort: Rachitikerbosheit! Nur in gesunden Körpern kann ein gesunder Geist gedeihen. Und wenn auch die Herzen verhärtet sein sollten, die Vernunft, der Egoismus müssten gebieten zu handeln, denn der Fluch kann anders nicht abgewehrt werden als durch Rettung unserer Kinder aus schwerer Not. Wer nichts von Liebe und Güte oder Menschlichkeit in sich spürt, der möge geben aus Klugheit. Geben und immer wieder geben sollen alle!

Wohlfahrtsverbände aller Art schlossen sich ohne Unterschied der politischen Richtung und konfessioneller Zugehörigkeit zusammen zu einem großen Hilfswerk, der Zentrale der „Deutschen Kinderhilfe“, Berlin 7, Unter den Linden 78. Dieser Vereinigung gehören an: Der Charitasverband für das katholische Deutschland; Zentralausschuss für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche (Evangelischer Reichserziehungsverband); Deutsche Vereinigung für Säuglingsschutz; Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge; Deutsches Rotes Kreuz (Zentralkomitee der deutschen Vereine vom Roten Kreuz im ständigen Ausschuss der deutschen Landesfrauen-Vereine vom Roten Kreuz); Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge; Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt; Vereinigung für Kinderhilfe; Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden.
Kein Misstrauen soll den Opfersinn lähmen! Staat und Gemeinden können nicht allein dem Elend steuern, die Liebestätigkeit aller ist unentbehrlich. Mag es auch noch so gering sein: Gebt alle! Niemand unter uns sollte auch nur noch eine ruhige Stunde erleben, der gehört hat, dass Kinder, unsere einzige Hoffnung, Not leiden und unschuldig dahinsiechen. Macht das Wort zuschanden, dass unseren Kindern ein Leben in körperlicher Minderwertigkeit bestimmt ist!

Werbezug zur Abhilfe der Kindernot. Phot. A. Grohs, Berlin.